weiter beobachtet hatte. Und er glaubte, sie hatte seine Anwesenheit gespürt. Manches Mal hatte sie ihren Hals gereckt und in den Himmel geschaut, sich umgesehen und er hatte sich unter ihren Blicken in seinem Versteck noch kleiner zusammengerollt, als er es eh schon war, bis sie wieder ihrer Tätigkeit nachging. Meistens jedoch irgendwie trauriger und bedrückter als zuvor, wie es ihm schien. Das ließ sein altes, verliebtes Herz nur noch doller für seine Liebe pochen. Die Kutsche hielt, die Tür wurde geöffnet und er durfte aussteigen. Doktor Renato Lazarus, der Chefarzt der Residenz, erwartete ihn schon unter einem Regenschirm stehend draußen vor dem Tor des Gebäudes, eine Eigenart, die er bei jedem Neuankömmling pflegte, wie er später noch oft beobachten konnte.
»Herzlich willkommen in der Residenz, mein lieber Argyle Findlay. Haben Sie viel Gepäck mitgebracht?« Der Alte antwortete nicht, wandte sich aber auch nicht ab, sondern sah dem Chefarzt mit offenem Blick entgegen und trat selbstbewusst unter den Schirm des Arztes, um nicht nass zu werden. Er zückte stattdessen ein kleines in Leder gebundenes Büchlein hervor und notierte sich etwas mit einem Bleistift.
»Der redet nicht, der schreibt nur!«, schallte es vom Kutschbock herab, der Kutscher stieg ab, umrundete die Kutsche und stellte das Gepäck heraus. Doktor Lazarus nickte nur.
»Danke«, wandte er sich an den Kutscher und dann wieder an den alten Mann. »Dort steht Schwester Brianna, sie wird Sie in Ihr Zimmer bringen, und das ist Hausmeister Morgan, er wird so freundlich sein und Ihr Gepäck tragen.« Der Greis nickte beiden zu und lächelt. Brianna erwidert es, Morgan tippte sich mit dem Zeigefinger an den Schirm einer Mütze, die er nicht auf dem Kopf trug. Diese Geste in diesem Umfeld machte ihn für den Senior sofort sympathisch. Der Kutscher bemühte sich, wieder auf den Kutschbock zu steigen, um abzufahren, die Entourage war im Begriff, das altehrwürdige Gebäude zu betreten, als Argyle, wie er jetzt noch genannt wurde, seiner Königin gewahr wurde. Sie stand an einem Fenster im zweiten Geschoss hinter einer weißen, halb durchsichtigen Gardine und kaum, dass er den Blick hob, verschwand sie auch wieder aus seiner Sicht. Er hatte winken wollen, unterdrückte diesen Impuls aber sofort. Und er spürte selbst hier unten ihre Melancholie, die wie ein feines Gespinst auf ihn einwirkte.
»Das ist Kassandra«, sagte Doktor Lazarus, der diesen ersten Blickkontakt bemerkt hatte. »Sie hat allen Grund, traurig zu sein. Es ist besser, Sie halten sich von ihr fern.« Er sagte nichts und nickte dieses Mal auch nicht. Auf Geheiß des Chefarztes betraten sie die Residenz. So begann also sein erster Tag als Bewohner der Residenz.
»Sie möchten also Ihren Namen ändern, richtig?«, fragte Doktor Lazarus angesichts des schriftlich formulierten Wunschs des Alten, der vor ihm in seinem Büro saß. Draußen, so konnte man von hier aus zwei großen Fenstern mit Blick auf den See beobachten, rangen Regen und Sonnenschein um die Vorherrschaft des Tages und es sah wieder einmal so aus, als würde der Regen obsiegen. Der Greis legte sein Notizbuch auf dem Schreibtisch ab und nickte. Doktor Lazarus Blick haftete auf dem Buch. Ihm fiel auf, dass der Ledereinband eine Nuance heller war, als er ihn in Erinnerung hatte.
»Sie schreiben viel, oder?«
Nicken.
»Ist das schon Ihr zweites Buch?«
Nicken.
»Sie können sprechen, oder?«
Nicken.
»Aber Sie wollen nicht?«
Kopfschütteln.
Nicken.
Schwierig formuliert, dachte sich Doktor Lazarus.
»Ich rede nicht gerne, sondern beobachte lieber«, antwortete der Senior und überraschte damit Doktor Lazarus, der schon von einem traumatischen Erlebnis in der Vergangenheit des Mannes ausgegangen war, das diesem die Stimme geraubt hatte und seine Lust daran, sich der Welt mitzuteilen.
»Mhm«, antwortete Doktor Lazarus und schien enttäuscht von seinem neuen Patienten. Er war so … unspektakulär bisher. Seine ersten Elektroversuche und Hypnosen an und mit ihm zeigten nicht die Anzeichen einer ernsthaften Persönlichkeitsstörung. Zwar gab sich der Alte oft so, als wäre er desorientiert, verwirrt, autoaggressiv, aber die tiefer gehenden Untersuchungen zeigten ihm jedes Mal eine ausgesprochene Reife und Klarheit bei diesem Bewohner. Doktor Lazarus griff nach einer Haselnuss in der marmornen Schüssel vor sich und öffnete sie mit dem Nussknacker, ohne dabei den Mann aus den Augen zu lassen. Dieser reagierte nicht auf sein Starren, saß ruhig und gelassen vor ihm. Er erinnerte Doktor Lazarus irgendwie an eine faule Nuss mit brüchiger Schale … »Nun gut, Sie können also reden, ziehen es aber vor, es nicht zu tun. Das ist nichts Ungewöhnliches. Ebenso wenig ungewöhnlich wie die ersten Testreihen, die wir hinter uns haben.« Er zog zwei Patientenbücher zu sich heran, schlug sie auf und überflog zur Sicherheit noch einige Ergebnisse, sah dann wieder zu dem Greis und faltete den Brief auseinander, den er von ihm bekommen hatte.
»Gesuch«, las er vor. »Hiermit bitte ich darum, wie viele der Insassen hier meinen Namen zu ändern. Zukünftig möchte ich nicht mehr mit Argyle, sondern mit dem Namen Aristophanes angesprochen werden. Aristophanes, ja?«
Nicken.
»Wie der griechische Diplomat?«
Kopfschütteln.
Doktor Lazarus hob eine Augenbraue. »Nicht?«
Erneutes Kopfschütteln. Der Alten nahm sein Buch zur Hand, schlug es auf und blätterte.
»Im Symposium von Platon lässt der Philosoph den fiktiven Komödiendichter über Eros und die Kugelmenschen reden. Ich bin der fleischgewordene Aristophanes, der von seiner Liebe getrennt wurde, nur eine Hälfte von etwas, und die andere ist unerreichbar.«
Nicken. Doktor Lazarus schrieb etwas auf.
»Ich werde Ihren Gesundheits- und Geisteszustand weiter beobachten und nur einschreiten, sollten sich Veränderungen ergeben. Ist das in Ordnung für Sie?«
Nicken.
»Gut. Dann verabschiede ich mich für heute, Sie können gehen.«
Der alte Mann ging und Doktor Lazarus nahm sich eine weitere Nuss. Mit dieser hatte er erhebliche Mühe, sie zu knacken.
In den kommenden Monaten lebte sich Aristophanes in das Residenzleben ein. Auf seine eigene Art, denn er verschmolz mit der Residenz, wurde zu einem Inventar oder Möbel, das niemand mehr bewusst wahrnahm. Obwohl er zu den gewöhnlichen Essenszeiten mit den anderen speiste, an Exkursionen ins Umland teilnahm und sich oft und viel außerhalb seines Zimmers bewegte. Es war auch nicht so, dass er Kontakte mied. Oder Gespräche. Aber er war derjenige, der zuhörte und notierte. Und nach dem Gespräch wieder in Vergessenheit geriet. Seine Unscheinbarkeit erlaubte ihm auch nachts unauffällig durch die Residenz zu streifen, was eigentlich verboten war, denn ab zweiundzwanzig Uhr galt die Bettruhe. Aber nur die wenigsten hielten sich daran, wie Aristophanes schnell feststellen konnte. Ebenso wie er entdeckte, dass die Nacht und vor allem der Mond auf viele der Bewohner einen besonderen Reiz ausübte, vor allem der Vollmond. Nachdem er aber ausfindig gemacht hatte, dass seine gelbe Königin einfach keine festen Gewohnheiten pflegte und nicht einzuordnen war, stellte er seine nächtlichen Streifzüge bis auf Weiteres ein. Sie waren ihm zu unheimlich und gefährlich. Es gab zum Beispiel den Butzemann, der ihm nicht geheuer war, oder die Lady Banshee de Lily, die angeblich vorwiegend nur wie ein Schatten durch die Residenz geisterte und sich von den geheimen Ängsten der Insassen ernähren sollte. Wie Mücken Blut tranken, so labte sie sich an den Albträumen und Ängsten der Mitbewohner. Aristophanes glaubte sie mehrmals gespürt zu haben, wie einen eiskalten Hauch, der einem in den Rücken wehte oder ein Huschen, das flugs im Zwielicht verschwand. Jetzt kannte er also die dunkelsten Winkel der Residenz und ihrer Bewohner und sei es nur vom Hörensagen, sodass er wusste, wer sich zum Beispiel Tag für Tag überwinden musste, in den Speisesaal zu kommen oder wer in der Nacht geschrien oder geweint hatte, ebenso wie er alle kannte, die glaubten, längst Verstorbene gesehen zu haben, aber er wusste nichts über seine Liebe. Nur den einen Satz von Doktor Lazarus an dem Tag seiner Ankunft gesprochen hatte. Ihren Namen, Kassandra und, dass sie allen Grund hatte, zu leiden und er sich von ihr fernhalten sollte. Ansonsten traf er sie nur zufällig und unter Menschen, nie hat er sie seither so privat und vertraut