Zimmertür bewachen, obwohl sie im etwas ruhigeren Westflügel am Ende eines Ganges ein Zimmer bewohnte und zwischen ihrem und dem nächsten Zimmer ein Schwesternzimmer untergebracht war. Er wartete also oft in der Umgebung ihres Zimmers, am liebsten lungerte er an jener Kreuzung, wo der Korridor in ihren Trakt auf den Hauptgang des Westflügels führte. Hier stand an einer Wand ein runder Tisch mit Glasaufsatz, auf diesem waren wiederum immer frische Schnittblumen und links und rechts zwei gemütliche Stühle. Wenn nicht Kapitän Ahab dort saß und verdrießlich dreinschaute, wurde dieser Platz zu seinem Lieblingsort, aber Kassandra hatte er dennoch bisher nicht abpassen können. Der Herbst ging in den Winter über, der Winter wurde zum Frühling und mit der einsetzenden Schneeschmelze traf er endlich, endlich wieder auf sie. Ihm war klar, dass sie wahrscheinlich nicht ständig in gelbe Kleidung gewandet war, aber auch an diesem Tag trug sie ein goldgelbes Kleid sowie einen schwarzen Hut mit einem Schleier, der ihr Gesicht verdeckte. Eine auffallende und ungewöhnliche Kombination, wie Aristophanes fand, ohne über Kenntnisse oder reichhaltige Erfahrungen über die Kleiderwahl der Frauen zu verfügen. Sie eilte an ihm vorbei in den Hauptgang, er erhob sich von seinem Sitz, hätte beinahe die Blumen umgestoßen (er fragte sich immer noch, wie es in der Residenz auch im Winter frische Schnittblumen geben konnte, aber das war nur eines von vielen Geheimnissen, die die Residenz betrafen und sich mittlerweile vor ihm auftürmten) und lief ihr nach. Dieses Mal blieb sie nicht stehen oder verharrte, weil sie ihn in irgendeiner Weise spürte. War sie etwa aufgeregt und dadurch abgelenkt? Wenn ja, warum? Er spürte den großen Drang in sich, sie zu beschützen und auch, wenn er den Drang aufgrund seines Alters irgendwie albern fand, er konnte ihn nicht unterdrücken. Seine Königin lief zum Haupteingang und anstatt durch das Tor zu gehen, verweilte sie kurz vor einem Fenster und spähte auf den Platz. Jetzt fiel ihm ein, dass sich dort heute in der Frühe alle Ausflügler treffen wollten, die eine Reise zur Küste unternehmen und über Nacht auch dort bleiben würden. Versprochen war, dass alle dort Muscheln sammeln, sie in einem Kübel voll Eis hierher bringen, damit es dann für alle in der Residenz Muschelsuppe geben konnte. So wie er das sah, war das zu einer gewachsenen Tradition geworden, da er den Namen Kassandra aber nicht auf der ausgehängten Liste gefunden hatte, schenkte er dem Ausflug selbst auch keine weitere Beachtung. Bis jetzt. Sie verharrte dort, ging einen Schritt zurück, einen wieder vor, als haderte sie mit einer Entscheidung. Dann fasst sie sich ein Herz und stürmte mit Elan aus der Tür hinaus auf den Vorplatz. Aristophanes lief zum Fenster und beobachtete. Er sah, wie Kassandra auf die Reisegesellschaft zuhielt, aber immer langsamer wurde und dann etwa fünf Meter vor dem Kern der Gruppe als Satellit stehen blieb. Nicht auffällig, denn auch die Kutscher und andere Insassen standen vereinzelt drum herum. Einige rauchten, alle genossen die Sonnenstrahlen, die hier so selten Wärme spendeten, wie Wasser in der Wüste auftauchte. Es sah aus, als würde Kassandra wie zwanghaft versuchen, niemanden von den Mitinsassen anzusehen, sie wandte den Blick zu Boden oder gen Himmel und beobachtete das Geschehen nur aus den Augenwinkeln. Er erschrak, als sie wie ein Rochen auf Beutejagd auf einen Mann zustürzte, der gerade aus der Gruppe hinaustrat, um sich eine Zigarette anzuzünden und gleichfalls erschrak, als Kassandra sein Gesicht in beide Hände nahm, ihn ansah und dann auf die Stirn küsste. Sie ließ ihn los, strich ihm mit der rechten Hand über seine linke Wange, eine Szene mit einer Zärtlichkeit, die sich für immer in Aristophanes Geist brennen und ihn fortan verfolgen würde. Sie wandte sich um und eilte genauso geschwind, wie sie gekommen war, wieder zurück. Er verbarg sich in der Ecke, kroch beinahe hinter die Gardine und warf einen Blick auf den Mann, dem diese außergewöhnliche Liebkosung zuteilgeworden war. Er hieß Paul, war alt, aber gut aussehend, mit noch relativ dunklen Haaren, die ihm stets etwas in die Stirn fielen und einer Jacke, deren Kragen er immer aufstellte. Paul malte. Oft verstörende Familienporträts mit Menschen ohne Gesichter und nachts hatte Aristophanes ihn auch schon einmal in seinem Zimmer schreien gehört. Paul sah Kassandra nach, andere Männer lachten, einer schlug ihm anerkennend auf die Schulter und Aristophanes konnte im Blick des Künstlers etwas Gefährliches lodern sehen. Auch dieser hatte sich in diesem Moment unsterblich in seine Königin in Gelb verliebt. Also musste Aristophanes Paul kennenlernen. Seinen Konkurrenten. Er musste mit auf den Ausflug.
Nachdem er notdürftig auf die Schnelle ein paar Sachen in seine Tasche gestopft hatte und Stiefel rausgesucht hatte, weil alle entweder Stiefel anhatten oder als zusätzliches Paar Schuhe in den Händen hielten, eilte er zurück und kam gerade rechtzeitig an, denn die Ausflügler bestiegen bereits die vier Kutschen, die sie ans Meer bringen sollten.
Aristophanes stellte sich an jene Kutsche an, in der Paul saß. Pfleger Duncan stand dort mit einem Klemmbrett, und als Aristophanes an der Reihe war, schüttelte er den Kopf.
»Der Herr Aristophanes steht nicht auf der Anmeldeliste, daher kann der Herr Aristophanes nicht mitkommen«, sagte Duncan, der mit allen in der dritten Person redete, selbst mit seinen Vorgesetzten.
»Ich … habe das vergessen. Aber ich muss unbedingt mit. Ich MUSS!«, flehte der Alte, wollte vorbei an dem Krankenpfleger, der reaktionsschnell einen Arm vorschob und ihm damit den Eintritt in die Fahrgastzelle der Kutsche verwehrte. Aristophanes wich einen Schritt zurück. Ungläubig sah er zu Duncan und wieder zur Kutsche. Er zählte sogar zwei freie Plätze. Einen für Duncan, einen für sich.
»Ich MUSS da mit!«, sagte er laut, ganz an der Grenze zum Brüllen. »Da ist doch noch ein Platz frei!«
»Das macht aber nichts. Man hätte sich vorher anmelden müssen. Nein, das geht nicht!«, sagte Duncan und wollte Aristophanes zurückschieben. Der Alte schlug zu. Der Alte trat um sich. Der Alte wollte in Duncans Arm beißen, nachdem dieser ihn gepackt hatte. Schließlich wurde er von den Pflegern Murdo und Lennox in sein Zimmer gebracht und Doktor Lazarus verabreichte ihm wortlos eine Spritze, die ihn erst einmal schlafen ließ.
Aristophanes wachte spät auf am nächsten Tag und das schottische Wetter trug, wie er aus dem Fenster sah, nicht dazu bei, sich tageszeitlich orientieren zu können. Es war alles, nur nicht nachts. Ein schlechtes Gewissen hatte ihn schon im Schlaf durch skurrile Träume gequält, mit den erwachenden Erinnerungen an sein Fehlverhalten wuchs es so stark an, dass er an den Fingernägeln zu kauen begann. Er stand auf und probierte, ob sich die Tür öffnen ließ. Sie ließ sich öffnen. Die Gefahr, die man in ihm gesehen hatte, schien gebannt. Er horchte in sich hinein und stellte fest, dass seine Aggressivität tatsächlich verschwunden war. Stattdessen spürte er … Eifersucht. Jetzt wusste er, was dieses Wort bedeutete und wie groß der Schmerz war, den dieses Gefühl verursachen konnte. Er warf sich bäuchlings auf sein Bett und begann zu weinen. Seine Liebe, sein Ein und Alles war verloren. Sie hatte Paul geküsst!
Zwei Tage später erreichte sie mit der Ankunft der Ausflügler auch die Schreckensnachricht. Es hatte einen Toten gegeben! Paul war an der Küste beim Muschelsammeln in einer Höhle ertrunken, weil er die einsetzende Flut nicht rechtzeitig bemerkt hatte. Seinen Leichnam hatten sie zur Residenz mitgebracht und er sollte auch hier auf dem Residenzfriedhof beigesetzt werden. Aristophanes fühlte sich zum Teil mitverantwortlich für den Tod des Künstlers, er konnte sich nicht freisprechen von zornigen Wünschen, die er gegen seinen Mitbewerber um die Gunst seiner Liebe gehegt hatte. Erst wartete er vergeblich auf Kassandra, wollte ihr sein Mitleid bekunden, aber sie verließ ihr Zimmer jetzt nicht einmal mehr zu den Mahlzeiten. Dann zog er sich weiter zurück und begann ebenfalls, die Welt um ihn herum zu meiden.
Zwei Wochen später hatte er einen Termin bei Doktor Lazarus. Selbst hier oben im Norden ließ sich der Einzug des Frühlings nicht mehr bestreiten. Es war grüner und stürmischer geworden. Auch heute jaulte der Wind um die Residenz wie ein Rudel Wölfe. Aristophanes begann das Gespräch nicht von sich aus und Doktor Lazarus warf wie üblich erst einmal sorgfältige Blicke in seine Aufzeichnungen.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte er und Aristophanes wurde mit dieser Frage überrascht. Er warf selbst einen Blick in seine Aufzeichnungen der letzten Tage, seine Zeichnungen mit Kohlestiften; düster; seine Gedichte; düster.
»Es geht so«, antwortete er wahrheitsgemäß.
»Der tragische Tod von Paul erschüttert uns alle natürlich sehr. Wie geht es Ihnen damit?«
»Warum …« Aristophanes schluckte trocken, fühlte sich bis auf sein Innerstes durch Doktor Lazarus durchschaut, spürte sein schlechtes Gewissen, spürte, wie ihm Blut ins Gesicht schoss und