schlimm in der Residenz. Es ist schlimmer.
Mittlerweile sind einige Tage vergangen. UND? ICH WILL RAUS! Alle sind schrecklich vornehm. Dieser Graf aus Rumänien beispielsweise, der wohltemperierte blutige Steaks liebt, diese Wind-, Wald- und Feuergeister, überzeugt von eigener Großartigkeit, dieser Basilisk, der sich für den König aller Schlangen hält. Gott! Das ist nicht meine Welt: zu viel Noblesse. Zu wenig Dreck. Matsch. Moder. Morast.
Alles hier ist kompliziert. Gestern hätte ich draußen fast eine Fee erschlagen, weil ich sie für eine Motte gehalten habe. »Das ist Pit«, sagte mir später ein alter Mann. PIT! Kann ich etwas dafür, dass diese Fee derart klein ist und wie eine Motte aussieht? Gegen sie bin selbst ich ein Riese. Und dann diese Tomaten. In einer Ecke des Geländes wachsen Tomaten in einem kleinen Gewächshaus und ich hätte fast … fast hätte ich eine gepflückt. Aber bevor ich zugreifen konnte, schrie sie mich an: Ich solle es nicht wagen. Ansonsten mache sie Ketchup aus mir. Sie sei eine berühmte Schauspielerin und verdiene Respekt. Klar! Ich habe nachgeschaut: C-Movie mit D-Promis. Killertomaten. Furchtbar. Alles sehr furchtbar. Und es regnet hier unaufhörlich, als wollte Gott den Ort ersäufen. Ich verstehe das, Gott. Aber bitte: Es nervt. Hör auf!
Bisher habe ich nur wenige Residenzbewohner kennengelernt. Da ist diese kleine Frau. Sie ist kleiner als ich. Nicht so klein wie die Elfenmotte. Aber sehr klein. Sie kam auf mich zu und erzählte mir ungefragt, als ob es mich interessieren würde, dass sie ein Holzfräulein sei. Oh, wie schön. Ein Holzfräulein. Was für ein bescheuerter Name. Dann fragte sie mich, ob ich sie sehe. Natürlich habe ich »Nein« gesagt. Da zuckte sie zusammen, schnitt ein Gesicht, als würde sie losheulen, und zog von dannen. Holzfräulein. Ernsthaft? Jemand erzählte mir, sie entstamme der fränkischen Sagenwelt und sei bisweilen traurig, weil niemand mehr an sie glaube. Ich solle einfach sagen, dass ich sie sehe. »Sie freut sich darüber.« Einen Teufel werde ich tun.
Franky ist interessant. Wie dieses Holzfräulein ist er verrückt. Merke: Monster im fortgeschrittenen Alter neigen dazu, absonderlich zu werden (Butzemänner ausgenommen!). Franky wohnt seit vielen Jahren in der Residenz und ist ein Frankenstein-Monster. Ich dachte, dass es nur eins gibt. Aber es wurden mehrere produziert. Franky gehört zur Serie 4.2.1. »Wir besitzen eine verbesserte Laufleistung und rudimentäre Schweißdrüsen«, sagte er mir. Ernsthaft. Wer braucht das? Welcher bescheuerte Produktdesigner verpasst einem Monster Schweißdrüsen?
Aber das Beste kommt noch: FRANKY GLAUBT, ER SEI EINE ELFE! Kann man sich das vorstellen? Zwei Meter zwanzig groß, ein wandelnder Schrank mit Kantenschädel. Aber er ist davon überzeugt, eine zarte, zierliche Elfe zu sein. Er hasst Spiegel. Verwundert das? Mich nicht. Er erschrickt jedes Mal, wenn er in einen Spiegel schaut. Was er sieht, passt nicht zu dem, was er sehen möchte. Verwundert das irgendwen? Na ja, er ist O. K. Und ein wandelnder Blog, der viel über die Bewohner der Residenz weiß: fast alle Wahrheiten, Halbwahrheiten, angeblichen Wahrheiten, Verschwörungstheorien, fast allen Klatsch und Tratsch und Trallala. Fast ALLES.
Dann ist da noch diese Todesfee, diese dünne, fast dürre Frau namens Elodie mit roten Haaren und blauen Strähnchen, ebenfalls eine langjährige Bewohnerin der Residenz. Hübsch. Intelligent, wie mir scheint. Sie wäre eine würdige Freundin eines Butzemanns. Aber sie ist fast einen Kopf größer als ich. Also … zwei Köpfe. Mindestens. Franky hat mir erzählt, dass sie es spürt, wenn irgendwer in ihrer Nähe bald stirbt, auch wenn sie selten genau weiß, wer es ist. Ihre Vorahnungen bereiten ihr großen physischen Schmerz. »Irgendwann schreit sie«, hat Franky gesagt, »so laut, dass etwas im Hirn derer zersplittert, die es hören.« Was soll ich nur davon halten? Ich glaube, ich hätte jetzt gern einen guten schottischen Whisky. Oder zwei. Es soll einen Pub in der Nähe geben.
Ein Spaziergang mit der Todesfee
Heute klarte der Himmel auf und ich ging spazieren. Bei besserem Wetter wirkt zumindest die Landschaft attraktiver. Sie besteht aus Hügeln, Weiden, einzelnen Bäumen. Ich wanderte bis zum See, der mir wie ein Relikt aus vormenschlicher Zeit vorkam. Auf dem Rückweg begegnete ich dieser Todesfee. Sehr seltsame Person. Wirklich.
»Du bist ein Butzemann?«, fragte sie mich.
»Bin ich«, antwortete ich stolz.
»Wie süß«, fuhr sie fort. »Aber dann bist du kein Monster, oder? Du bist ein Clown!«
Ha. Ha. Ha. Sie zwinkerte mir zu und genoss es, dass ich mich ärgerte. ICH HASSTE SIE. Ein bisschen.
»Immerhin bin ich kein Strich in der Landschaft, der Residenzen zusammenschreit«, antwortete ich mit herausragend gespielter Höflichkeit. Nun ärgerte sie sich. Ein wenig. Hat wohl nicht gedacht, dass ich weiß, was ich weiß. Es ist schön, die Schwächen Anderer zu kennen.
Verbal teilten wir aus und steckten ein, aber keiner von uns war lange beleidigt. Unsere Worte stachen wie Nadeln in Fleisch, aber stets so, dass der Schmerz etwas Süße behielt, eine fast masochistische Lust bediente, ohne nachhaltig zu verletzen. Diese Kunst beherrschten wir beide. Auf sonderbare Weise hatten wir unseren Spaß: bis zum Ende des Gesprächs. Da wurde Elodie ernst. Wir sprachen über Angst und Schmerz, der keine Lust bedient.
»Was weißt du von Schmerz?«, fragte sie. »Nichts weißt du! Der Schmerz Sterbender und Trauernder. DAS IST SCHMERZ.«
Was für eine Arroganz. Als ob ein Nachtmahr nichts von Schmerzen wüsste. Trotzdem hat mir ihre Nähe gutgetan: zumindest eine Weile lang. Wie wir uns ähneln: Auch sie genießt Gesellschaft nur in kleinen Dosen. Irgendwann hatten wir einander fürs Erste genug erzählt. Also ging sie hierhin und ich ging dorthin.
Kurz vor meiner Rückkehr in die Residenz begann es, zu nieseln. Ich sah das Holzfräulein auf einer Wiese. Sie tanzte zu einer Musik, die nur sie alleine hörte. Sie winkte mir zu. »Siehst du mich?«, fragte sie laut. Ich verneinte erneut. Aber dieses Mal schien es, als glaubte sie mir nicht. Sie lächelte. Wie zufrieden sie wirkte, wie glücklich, zumindest für den Augenblick. Regen. Unhörbare Musik. Ein Tanz. DAS ist Glück. In einer von Tausenden Varianten. Nur Narren sind dafür blind.
Ein Hoch auf Schottlands Whisky
Gestern Abend bin ich mit Franky in den Pub gegangen: Drunken Mermaid. Der Wirt heißt Conner Mackay und ist ein Bruder von Angus Mackay, des verehrten Managers der Residenz. Zufall? Niemals. Wahrscheinlich besetzen die Mackays zahlreiche Positionen in der Residenz und im Dorf. Jämmerliche Provinzfürsten. Hamish Mackay, ein Sohn des Managers, arbeitet bei uns als Pfleger. Der Lebensmittelshop im Ort gehört wahrscheinlich Roana Mackay und Colin Mackay schneidet den Dorfbewohnern die Haare. Davina Mackay leitet die Mehrheitspartei und Bonnie Mackay ist Bürgermeisterin, die von Ian Mackay bestochen wird, während Lennox Mackay die Opposition in den Abgrund führt. So ist das. Bestimmt!
Franky ist ziemlich abgedreht. Gestern hat er mir seine Schweißdrüsen gezeigt: mit fünfstufigem Geschwindigkeitsregler und Turboschalter. Das Beste: Der Schweiß duftet nach Rosenblatt und Minze. Er meinte, bei Frauen käme das sehr gut an. Das glaube ich sofort (nicht). Franky hat mich mit Gerüchten und Klatsch versorgt, während wir uns volllaufen ließen. In der Residenz soll ein Trakt für besonders schreckliche Monster existieren, den wir normalen (normalen!!!) Monster nicht betreten dürfen. Einige behaupten sogar, dass der Sensenmann dort lebt. Fakt ist: In der Residenz gibt es diverse verschlossene Türen, hinter denen sich – so glaube ich – mehr als einzelne Räume verbergen.
Was gab es noch? Man erzählt sich, dass der Doktor eine Affäre mit Lady Banshee hat, die hier angeblich viel Einfluss besitzt. Die Killertomaten sind angeblich mutierte Karotten, ein missglücktes Experiment des Doktors, über das er nicht gerne spricht. Der rumänische Graf ist (ebenfalls angeblich) laktoseintolerant. Und die schwarz gekleidete Violinistin namens Jill, die im Westtrakt der Residenz wohnt? Ihre Musik sei in der Lage, Löcher in die Wirklichkeit zu reißen. Löcher. Klar. Und der Butzetanz öffnet das Tor zur Hölle. Schwachsinn. Auf dem Rückweg vom Pub schaute ich fasziniert in den Himmel. Er war schön: so viele Sterne. Ich sah mehr Sterne als je zuvor, sank auf die Knie … und kotzte. Der gute Whisky. Alles raus. Merke: Butzemänner können sehr verschwenderisch sein. Und sehr romantisch!
Chaos im Gemeinschaftsraum
»Jemand wird