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DIE RESIDENZ IN DEN HIGHLANDS


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einem Grab klettert, aber bei Ihnen mache ich eine Ausnahme.« Sie stellt die Laterne ab, reicht mir ihre Hände und hilft mir beim Hinausklettern.

      »Vielen Dank«, sage ich und klopfe die Erde von meiner Kleidung. »Wie haben Sie mich gefunden?«

      »Nun, es ist nicht das erste Mal, dass Sie sich verlaufen haben«, erwidert sie. »Normalerweise finde ich Sie irgendwo im Keller oder einem der alten Behandlungsräume. Auf dem Friedhof sind Sie allerdings zum ersten Mal. Deswegen hat es länger gedauert.« Sie lacht. »Die meisten hier brauchen eine Weile, bis sie sich eingelebt haben.«

      »Für wen ist dieses Grab?«, möchte ich wissen.

      »Keine Ahnung«, gibt die Frau zurück. »Ich bin in das operative Geschäft der Residenz nicht eingebunden. Aber eines ist sicher, gestorben wird immer. Da findet sich bestimmt jemand.«

      Aus den Büschen zu unserer Linken ist ein Knurren zu vernehmen. Schlagartig kehrt meine Erinnerung wieder. Oh nein, die Bestie war keine Einbildung! Schon will ich die Flucht ergreifen, als die Frau ihre Hand auf meinen Arm legt und mir einen beruhigenden Blick zuwirft. Dann tritt sie näher an die Sträucher und beleuchtet mit der Laterne das unheimliche Monstrum, das sich darin verborgen hält. Die Frau im schwarzen Kleid stößt ein raubtierhaftes Fauchen aus, das ganz und gar nicht menschlich klingt und mich einen Schritt zurückweichen lässt. Das scheußliche Wesen mit den rot glühenden Augen gibt ein Winseln von sich, sprengt davon und verschwindet in der Dunkelheit.

      »Die Schrecken der Nacht entspringen einzig dem, was Menschen menschlich macht«, stellt die Schwarzgewandete lächelnd fest und bietet mir ihren Arm zum Unterhaken dar. »Sich ihnen zu stellen, sie zurückzudrängen, sie nicht die Oberhand gewinnen zu lassen, das ist der ewige Kampf, nicht wahr?« Beschienen vom fahlen Licht des abnehmenden Mondes steuern wir auf den rückwärtigen Eingang der Residenz zu. »Wie verlockend es scheint, einfach liegen zu bleiben, einige Fuß tief unter der Erde und sich dem Verfall hinzugeben. Doch Sie und ich, wir haben andere Dinge zu tun, nicht wahr?«

      Jill schenkt mir ein Glas Gin ein, während ich noch immer ungläubig sowohl sie, als auch das nunmehr vollkommen umdekorierte Zimmer betrachte.

      »Wie haben Sie das gemacht?«, frage ich beeindruckt.

      Jill greift nach einer anderen Flasche, gießt sich selbst ein Glas Whisky ein und nimmt dann im Sessel mir gegenüber Platz. Zwischen uns steht ein ovaler Glastisch, neben den beiden Korkuntersetzern für unsere Gläser liegt nur Jills Krankenakte darauf.

      »Bevor ich Ihnen diese Frage beantworte«, hebt sie an, »möchte ich etwas wissen.« Sie trinkt einen Schluck. »Was haben Sie gesehen? Vorher, meine ich. Beschreiben Sie es.«

      Ich nehme einen Schluck aus meinem Glas, genieße das würzig-scharfe Aroma des Gins und versuche zu ergründen, warum sie mir diese Frage stellt. Was habe ich gesehen? Sollte sie das nicht wissen? Dann, einige Sekunden später, wird es mir klar. Wir sehen das, was wir erwarten. So oder ähnlich hatte sie sich ausgedrückt. Vielleicht hat sie recht.

      »Der Raum war eingerichtet wie in vergangenen Zeiten, kein elektrisches Licht, stattdessen Kerzen und ein Kamin«, antworte ich. »Sie trugen ein Kleid, auch Ihre Haare waren anders. Alles wirkte absolut überzeugend.«

      Jill schaut zum Fenster und verharrt eine Weile in dieser Position. Noch immer schlagen Regentropfen dagegen, doch das Donnergrollen entfernt sich mehr und mehr. »Ich werde Ihnen zeigen, wie meine Welt aussieht«, sagt sie mit einem Unterton in der Stimme, der mir eine Gänsehaut beschert. »Nur für einen Augenblick.« Sie tippt dreimal mit einem ihrer schwarz lackierten Fingernägel auf die gläserne Tischplatte. Tock, Tock, Tock. Von ihrer auf der Platte ruhenden Fingerspitze ausgehend, durchziehen dunkle Schlieren das Glas, bis es vollkommen davon erfüllt ist. Unvermittelt birst das Glas und die in alle Richtungen davon stiebenden Splitter hinterlassen hauchfeine Spuren in der Luft. Schnitte durch Leinwand, schießt es mir durch den Kopf. Sofort darauf bricht ein tosender Sturm um uns los, ohrenbetäubendes Dröhnen erfüllt auf einen Schlag den Raum, Hitze dringt von allen Seiten auf mich ein. Was Sekunden zuvor noch ein hell erleuchtetes Zimmer war, ist nun nicht mehr als eine von Flammen verzehrte und zu schwarzer Asche verbrannte Ruine in einer Welt, die höllischer nicht sein könnte. Reste von Mauerwerk zeugen noch davon, dass hier dereinst ein Gebäude stand, doch alles in seinem Innern ist ein Opfer der Flammen geworden. Lediglich die Sessel, auf denen wir sitzen, scheinen unversehrt.

      Ich reiße den Kopf herum und betrachte zutiefst erschüttert die grauenhaften Wunder dieser Welt. Kein Stern leuchtet am Firmament und einzig die den Feuerschein zurückwerfenden Schwingen gigantischer fliegender Wesen deuten an, dass dort oben überhaupt irgendetwas außer endloser Schwärze existiert. Funken wirbeln durch die Luft, während sich aus den Tiefen der Schatten allerorten Tentakel in unsere Richtung winden und die riesenhafte, schlangenartige Kreatur, deren Körper weite Teile des Bodens auszumachen scheint, uns aus Tausenden rot glühenden Augen anstarrt, die jeden Quadratzentimeter ihres Körpers bedecken.

      »Es ist wundervoll, nicht wahr?«, fragt Jill und klingt ergriffen. »So voller Harmonie.« Unwillkürlich wandert mein Blick zurück zu ihr und ich spüre, wie irrationale Furcht meinen Verstand zu übermannen droht, doch kurz bevor ich ihrer Gestalt gewahr werde, endet das Inferno so plötzlich, wie es begann.

      Jill zieht ihre Hand von der Tischplatte zurück und lehnt sich nach hinten in den Sessel. »Reichen Sie mir bitte die Violine«, haucht sie und wirkt erschöpft. »Ich muss spielen, muss den Riss versiegeln, damit uns nichts auf diese Seite folgt.«

      Ich erhebe mich, um Jills Bitte nachzukommen, und sehe beim Aufstehen, dass der Nagel ihres Zeigefingers, kurz zuvor noch schwarz lackiert, nun klar erscheint, als hätte ihn etwas der aufgetragenen Farbe beraubt. Auf dem Schreibtisch liegt die Violine, die als einziges Element im Zimmer nach wie vor unverändert erscheint und nicht durch ein modernes Gegenstück ersetzt wurde. Das Instrument sieht sehr alt aus und ist in tadellosem Zustand, soweit ich das beurteilen kann. Meine Finger berühren das lackierte Holz, gleiten darüber und ich habe das Gefühl, dass irgendeine Energie davon ausgeht.

      »Wissen Sie, welcher Tag heute ist?«, fragt Jill.

      »Heute ist der siebzehnte November«, gebe ich zurück, nehme die Violine sowie den Bogen vom Tisch und reiche ihr beides.

      »Schauen Sie in meine Akte«, erwidert sie amüsiert, steht auf und klemmt das Instrument unter ihr Kinn. »Vielleicht sehen Sie es jetzt.«

      Hatte ich mich bisher überwiegend mit den Eintragungen von Doktor Lazarus auseinandergesetzt, so schlage ich nun die erste Seite auf. Wie konnte mir das entgehen? Habe ich es tatsächlich übersehen? Der siebzehnte November, Jills Geburtstag.

      »Ich bin davon überzeugt, dass Stradivari sich der Macht bewusst war, die seinen Instrumenten innewohnt«, fährt diese fort und legt den Bogen auf die Saiten. »Ob Musik, Worte, Malerei oder irgendetwas anderes, die Kunst vermag Welten zu erschaffen, Mauern einzureißen und den Tod zu überdauern.«

      Jill spielt ein Stück, so mitreißend und dynamisch, dass bereits nach kurzer Zeit Tränen meine Wangen hinabgleiten. Hätte ich früher versucht, diese Emotionen zu verbergen, sie als Schwäche angesehen, so wird mir nun mit jedem Ton klarer, wie töricht ich war, Menschliches der Ratio zu opfern. Einige Minuten später endet ihr Spiel und lässt mich als anderen Menschen zurück, bebend und von Ehrfurcht erfüllt.

      »Lady de Lily schenkte mir diese Violine vor vielen Jahren«, sagt Jill, während sie das Instrument wieder in den Geigenkoffer legt. »Sie hatte weder Kosten noch Mühen gescheut und unter Aufbietung all ihrer Überzeugungskraft dieses Prachtstück erworben. Sie glaubte daran, dass ich seiner würdig wäre, und muss ein wahres Vermögen dafür ausgegeben haben.« Sie nimmt wieder mir gegenüber Platz. »Doch dieses Jahr, mein Lieber, hat sie es tatsächlich fertiggebracht, sich selbst zu übertreffen und mir etwas geschenkt, das mit allem Geld der Welt nicht aufzuwiegen ist.«

      »Eine gute Suppe vermag den Schmerz der Welt für eine Weile zurückzudrängen, finden Sie nicht auch?«, fragt Jill, während wir in der Küche sitzen. Eine einzelne Kerze in der Mitte des Tisches erleuchtet unsere Mahlzeit, ansonsten ist es stockdunkel. »Und Schwester Lavinia ist eine großartige