Lili B. Wilms

Luft an Land


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sie sich nicht auf die Füße und jeder hatte seinen Rückzugsort. Er wusste nicht, wie sie in der Münchner Innenstadt in einer kleinen Mietwohnung überleben sollten, schoss es ihm durch den Kopf, als er das ganze Spielzeug im Garten liegen sah. Mit pochendem Herzen blieb er am Gartentor stehen und öffnete den Briefkasten. Leer. Gott sei Dank. Wobei ihn das Warten auf den Brief mittlerweile genauso belastete, wie die Angst vor dessen Inhalt.

      Er schloss die Haustür auf und hörte bereits eifriges Geklapper in der Küche. Seinen Schlüssel hängte er an das Board und noch bevor er seine Schuhe ausziehen konnte, hatte er ein Bündel in pink um seine Hüften hängen.

      »Fabian, du bist daheim!«

      »Wir haben uns heute Morgen gesehen, du kleine Kröte.«

      »Ich hab dich so vermisst.« Dieselben grauen Augen, die er auch hatte, strahlten ihn an.

      »Ich hab dich auch vermisst. Den gaaanzen Tag.«

      Lena lachte ihn offen an. »Das glaube ich dir nicht. Du musst doch arbeiten. Hast du ein Haus gebaut?«

      »Ah, ich hab’s versucht. War nicht so einfach. Erzähl mir lieber wie’s in der Schule war.«

      »Ich habe ein Bild von uns gemalt und Mama geschenkt. Tonia hat mich heute besucht und es war ganz toll.«

      Fabian strich ihr über das Haar, das in zwei Zöpfe geteilt war. »Wo ist denn die Mama?«

      »Die kocht. Ich helfe ihr«, erklärte Lena stolz.

      »Na dann lass uns mal sehen, was es gibt.«

      Lena nahm Fabians Hand und zog ihn in die Küche, in der ihre Mutter am Herd stand. Sie drehte sich schnell um und lächelte ihm zu, während sie das Schneidemesser aufgriff und begann, in einem wahnsinnigen Tempo Karotten zu schneiden.

      Obwohl Sigrid fast gänzlich ihr Augenlicht eingebüßt hatte, kannte sie ihre Küche wie ihre Westentasche. Das gesamte Haus war ihr Untertan und sie kam problemlos zurecht. Überhaupt hatte sie größte Probleme, Hilfe anzunehmen. Egal von wem. Ihre Grenze erreichte sie allerdings im Straßenverkehr. Autofahren war mit dem Sehverlust und dem milchigen Schleier, der ihre Sicht trübte, ausgeschlossen.

      Somit hatte es sich Fabian mit dem Tod seines Vaters zur Aufgabe gemacht, für seine Mutter und Schwester da zu sein. Lena sollte in ihrer gewohnten Umgebung bleiben, somit war ein Umzug der beiden ohnehin ausgeschlossen. Vielmehr war er wieder in sein Elternhaus gezogen, hatte seine Arbeitsstunden gekürzt, um flexibler die beiden wichtigsten Menschen in seinem Leben unterstützen zu können. Er wollte nicht darüber nachdenken, was es für Folgen für seine Schwester hätte, könnte sie ihre Fördertermine nicht mehr wahrnehmen, wegen seiner Dummheit. Sie war zehn und es trennten sie genau achtzehn Jahre von ihrem Bruder, von dessen Zuverlässigkeit sie abhängig war. Dazu kamen die Termine seiner Mutter. Er wollte nicht darüber nachdenken, welche Folgen dies alles hätte.

      »Wie war dein Tag?«, wollte seine Mutter wissen.

      »Alles Bestens! Und bei euch?«

      »Du hast Lena gehört. Sie hatte heute Besuch. Das Highlight der Woche.«

      Fabian sah zu seiner Schwester, die Perlen auf eine Schnur aufzog. Dass ihr 21. Chromosom dreimal vorhanden war, nahm Fabian im Alltag nicht mehr wirklich wahr. Aber für Außenstehende war sie besonders. Stach hervor. Für Fabian war sie die einzige Schwester, die er hatte. Und er würde alles für sie tun. Ihre lebensfrohe Art war ein Gewinn für jeden – fand er. Dass ihr gemeinsames Leben gewisse Besonderheiten aufwies, war weder tragisch noch wirklich relevant. Gemeinsam würden sie alles schaffen.

      »Was ist los mit euch beiden? Deckt den Tisch! In fünf Minuten gibt es Essen.«

      Sigrid mochte fast blind sein. Aber sie gab immer noch den Ton an im gemeinsamen Heim.

      Nachdem sie gegessen hatten, lehnte sich Fabian entspannt zurück. Zumindest heute hatte er seine Ruhe. Es war sehr früher Abend und das Fitnessstudio schien ihn nach wie vor immer dann zu rufen, wenn – wie er wusste – Nadine unterrichtete. Energisch schob er den Stuhl zurück und sammelte die Teller ein. Er würde diesem Ruf nicht nachgehen. Er wusste genau, dass es nicht das Studio war, das ihn lockte, sondern die Hoffnung, Izi wiederzusehen.

      Trotz seiner Anspannung aufgrund des drohenden Bescheids und seinem Schwur sich selbst gegenüber, nicht mehr an ihn zu denken, verging kein Tag, an dem sich die grünlichblauen Augen nicht in sein Bewusstsein bohrten. Und dort an ihm zu nagen schienen. Ihn manchmal ein bisschen auffraßen und quälten. Oder morgens mit seiner Morgenlatte in die Dusche begleiteten. Genug!

      »Ich mach den Abwasch! Ruh dich aus, Mama.« Vielleicht lenkte ihn das ab.

      »Liest du mir heute etwas vor?«

      Fabian drehte sich zu Lena um. »Gerne, du Kröte. Wir können Die Reise des Königs weiterlesen. Das mag Mama auch.«

      »Au ja!« Lena lief zu ihrer Mutter und zog an ihrem Arm. »Los Mama, ich führe dich zum Sessel.«

      »O mein Gott, ich weiß, wo der Sessel steht. Und du weißt, dass ich es weiß. Wenn ich dich so behandeln würde wie du mich, mein kleiner Schatz, dann könnte ich mir aber was anhören.«

      »Ich will dir nur helfen.«

      »Ich brauche keine Hilfe.«

      »Bitte! Helfen macht so Spaß.«

      Unter Protest stand Sigrid auf und nahm Lenas Arm. Fabian musste fast lachen. Die beiden waren sich so unfassbar ähnlich. Unabhängigkeit um jeden Preis, war das Motto, das beide aus jeder Pore ausstrahlten.

      »Aber nur, weil du es bist«, betonte seine Mutter und Lena grinste. Sie hatte wieder jemanden erfolgreich um den Finger gewickelt.

      Fabian räumte das restliche Geschirr vom Tisch. »Lena, hol schon mal das Buch. Ich steck das nur in die Spülmaschine und mach den Rest danach.«

      »Ach Fabian, bevor ich es vergesse: Ich hab die Post auf das Board gelegt. Ich hab das Vergrößerungsglas nicht gefunden. Schau doch bitte nach, ob was Wichtiges dabei ist.«

      »Du weißt, dass du das Glas so aufheben sollst, dass du es immer findest«, entgegnete Fabian wie automatisch. Er hatte den Satz schon so oft gesagt, dass er wie von selbst aus ihm herauskam. Dennoch waren seine Hände sofort schwitzig angelaufen und ein entsetzter Schauer lief über ihn. Er schaute hinüber zu zwei Briefen, die von seinem Standpunkt aus keinen Hinweis auf ihre Absender gaben. »Ich schau sie gleich an.« Mit zittrigen Fingern räumte er den Geschirrspüler ein.

      Während Lena das Buch suchte, ging er auf die Post zu und hielt sie zwischen spitzen Fingern. Das Schreiben von Lenas Schule legte er zur Seite und riss den an ihn adressierten Brief auf. Sein Blick flog über die Seiten. Geschwindigkeitsüberschreitung, Einzug Führerschein, acht Monate, Rechtsbehelfsbelehrung. Acht Monate. Acht Monate.

      Er faltete die beiden Seiten samt Kuvert. Sie klebten leicht an seinen verschwitzten Fingern. Wie betäubt stopfte er die Zettel in seine hintere Hosentasche. In seinen Ohren rauschte sein Herzschlag wie ein Sturm auf hoher See. Und genauso fühlte er sich. Den Wellen, die drohten, über ihm zusammenzubrechen hilflos ausgeliert, schnappte er nach den letzten Spuren von Sauerstoff, die ihm noch gewährt wurden. Vor seinen Augen flimmerten kleine Sternchen. Reiß dich zusammen!

      Wie in Trance, gleich einer Marionette, die das Spiel, für das sie vorgesehen war, spielte, ergriff er das Buch. Die Worte, die er in der nächsten halben Stunde las, gingen spurlos an ihm vorbei. Er schien durch einen Schleier zu sprechen, ohne wirklich anwesend zu sein. Während seine Mutter Lena ins Bett brachte, schloss er sich in sein Zimmer ein. Er zog das Schreiben aus seiner Tasche und legte es vor sich hin. Mit schnellen Griffen hatte er die Nummer der Kanzlei, die er in seinem Telefon gespeichert hatte, aufgerufen. Er drückte auf den Kontakt und hörte dem Verbindungston zu.

      »Lutz, Meier, Höfling, wie kann ich Ihnen helfen?«

      Fabian holte tief Luft. »Hier ist auch Maier. Wir hatten schon telefoniert.«

      »Herr Maier, ich bin mir nicht sicher, ob wir gesprochen haben. Sie haben das Nachtsekretariat