Rudi Keller

Zeichentheorie


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      Rudi Keller

      Zeichentheorie

      Zu einer Theorie semiotischen Wissens

      A. Francke Verlag Tübingen

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      © 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

      Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

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      E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

      ePub-ISBN 978-3-8463-4878-9

      „Was ihr denkt, das weiß ich nicht“, antwortete der Schalk, „wie kann einer des anderen Gedanken erraten! Aber was ihr mir gesagt habt, das weiß ich.“

      Till Eulenspiegel (1519/1948: 82)

      Vorbemerkungen

      1 Vorwort

      Dieses Buch handelt von sprachlichen Zeichen und ihrer Dynamik. Es will zeigen, wie Zeichen entstehen, funktionieren und sich verändern im Zuge der menschlichen KommunikationKommunikation. Sprachliche Zeichen sind nicht Voraussetzungen unserer kommunikativen Bemühungen, sondern deren (meist unintendierte) Folge. Dass der unüberschaubar großen Zahl an Publikationen über diesen Gegenstand eine weitere hinzugefügt wird, ist erläuterungsbedürftig. „Most of what we know about language has been learned in the last three decades“, schrieb Derek BickertonBickerton im Jahre 1990.1 Wenn diese Aussage mehr sein soll als ein autobiographisches Vermächtnis, so dürfte sie falsch sein. Mit Sicherheit trifft sie nicht zu für den Bereich der linguistischen Zeichentheorie. Alles was über sprachliche Zeichen gesagt werden kann, ist vermutlich irgendwann zwischen PlatonPlaton und heute gesagt worden. In einem sprachphilosophischen Gebiet mit mehr als zweitausendjähriger Tradition lässt sich wirklich Neues wohl kaum mehr entdecken. Mit anderen Worten, keine der wahren Aussagen dieses Buches erhebt Originalitätsanspruch. (Die falschen mögen origineller sein.) Allerdings bin ich der Meinung, dass dem vorschnellen Defensivargument „Das hat doch schon XY gesagt“ nicht allzuviel Gewicht zuzubilligen ist. Denn bei genauerem Hinsehen zeigt sich meist, dass mindestens die Zusammenhänge, in denen etwas bereits früher gesagt wurde, andere waren. Den Nutzen dieser Arbeit sehe ich in erster Linie in der Rekombination von Ideen und Überlegungen, die verschiedenen Traditionen entnommen sind, sowie in der Perspektive ihrer Auswahl. Zeichentheoretische Überlegungen mögen auf den ersten Blick den Eindruck empirisch irrelevanten und unnützen Philosophierens erwecken. Martti NymanNyman sagt deutlich, weshalb dies falsch ist: „A theory of language change depends on the underlying theory of language. Therefore […], it is not at all idle ivory-towering to dwell upon ontological questions about language. For example, if we look upon language as an abstract Platonic object […], we get virtually no theory of language change at all.“2 All die psychologistischen Sprachauffassungen, die den Ort der Existenz der Sprache ausschließlich im Kopf des Menschen ansiedeln, sind ebensowenig in der Lage, Sprachwandel als inhärentes Phänomen zu konzipieren. „Die Sprache hat schließlich keine eigene Existenz unabhängig von ihrer mentalen Repräsentation“,3 schreibt ChomskyChomsky und entzieht sich damit der Möglichkeit, den Zustand einer Sprache (auch) in seiner historischen Bedingtheit zu begreifen. Das Verständnis von WandelWandel und Genese der Sprache ist ein konstitutives Moment des Verständnisses ihres Wesens, und vice versa. Grundlage einer jeden Sprachtheorie ist der Zeichenbegriff. Auch sprachliche Zeichen fallen nicht vom Himmel. Was Nyman von der Sprache allgemein sagt, gilt auch von Zeichen im Besonderen. Wenn wir sie im platonischen Himmel ansiedeln oder ausschließlich im menschlichen Kopf, erfahren wir nicht, woher sie kommen. Dass wir sie verwenden, um kommunikative Ziele zu erreichen, ist psychologistischen Auffassungen gemäß kontingent. Und dass sie entstehen im Zuge unserer Bemühungen, kommunikative Ziele zu verwirklichen, muss einer solchen Theorie verborgen bleiben. Die vorliegenden zeichentheoretischen Überlegungen gehen von dem Faktum aus, dass die Sprache, die wir heute sprechen, samt der Zeichen, die wir heute benutzen, eine Episode im permanenten Prozess sprachlichen Wandels sind.4Keller

      Platon stellte in seinem Kratylos-Dialog unter anderem die folgende Frage: „Wenn ich dieses Wort ausspreche“ und dabei „jenes denke“, wie ist es dann überhaupt möglich, „daß du erkennst, daß ich jenes denke“?5 Er formuliert damit ein zeichentheoretisches Grundproblem, das bis auf den heutigen Tag in verschiedenen Versionen diskutiert wird. Till EulenspiegelEulenspiegel formulierte es so: „Was Ihr denkt, das weiß ich nicht[…], wie kann einer des anderen Gedanken erraten! Aber was Ihr mir gesagt habt, das weiß ich.“6 In Ludwig WittgensteinsWittgenstein Philosophischen Untersuchungen findet sich die folgende Version: „Wenn man aber sagt: ‚Wie soll ich wissen, was er meint, ich sehe ja nur seine Zeichen‘, so sage ich: ‚Wie soll er wissen, was er meint, er hat ja auch nur seine Zeichen.‘“7 Was Platon, Till EulenspiegelEulenspiegel und Wittgenstein mit unterschiedlicher Akzentuierung thematisieren, ist die Frage, vermöge welcher Eigenschaften Zeichen zu erkennen geben, welche kommunikative Absicht der Sprecher mit ihrer Verwendung zu realisieren beabsichtigt. Dies ist die zentrale Frage, die in diesem Buch erörtert wird. Das Leitmotiv, unter dem es geschrieben wurde, haben Raimo AnttilaAnttila und Sheila Embleton formuliert: „Change is the essence of meaningmeaning.“8 An anderer Stelle schreibt Anttila: „Only a full understanding of the notion ,linguistic sign‘ makes both change and reconstruction comprehensible and theoretically explainable.“9 Es ist meine Absicht, einen kohärenten zeichentheoretischen Entwurf vorzuschlagen, der in der Lage ist, einen Beitrag zum Verständnis der Dynamik und der EvolutionEvolution natürlicher Sprachen zu leisten. Dabei bin ich mir bewusst, dass die Chance, ein solches Ziel zu treffen, geringer ist, als es zu verfehlen.

      „The recent history of semiotics has been one of simultaneous institutional success and intellectual bankruptcy“,10Sperber und Wilson schreiben Dan Sperber und Deirdre Wilson mit einem gewissen Mangel an Selbstkritik. Aber selbst wenn man den Bankrott nicht ganz so dramatisch sieht, muss man wohl zugestehen, dass die zeichentheoretischen Überlegungen für die Sprachwissenschaft (mit wenigen Ausnahmen11Grice) weitgehend folgenlos waren. „After the publication in 1957 of Noam Chomsky’s Syntactic Structures, linguistics took a new turn and did undergo remarkable developments; but these owed nothing to semiotics.“12 Nun könnte man argumentieren: Das liegt nicht an der Zeichentheorie, sondern am chomskyschen Paradigma. Zu welchem Urteil man auch immer kommen mag, die Konsequenzlosigkeit der Zeichentheorie scheint mir für jedes andere linguistische Paradigma in gleicher Weise zuzutreffen. Dafür gibt es meiner Ansicht nach zwei Gründe.

      Zum einen ist die herrschende Metapher, in deren Licht KommunikationKommunikation gemeinhin gesehen wird, inadäquat. Das Problem des Kommunizierens wird als Transportproblem konzeptualisiert. Der in diesem Buch vorgetragenen Ansicht gemäß hat Kommunikation nichts mit dem Vorgang des Einpackens, Wegschickens und Wieder-Auspackens zu tun. Kommunizieren ist vielmehr ein inferentieller Prozess. Kommunizieren heißt versuchen, den Adressaten zu bestimmten Schlüssen zu bewegen. Demgemäß haben Zeichen nicht den Charakter von Versandkartons, sondern vielmehr den von Prämissen für interpretiereninterpretierendes Schließen.

      Zum anderen werden sprachliche Zeichen als im Grunde stabile Einheiten gesehen, denen bisweilen das Missgeschick des Wandels widerfährt. Zeichentheorien befassen sich gemeinhin mit Fragen der Architektur von Zeichen: Wie sind sie gebaut? Wieviele Seiten haben sie? Welches sind ihre Teile? Wie lassen sie sich ihrem Aufbau gemäß klassifizieren? Solche zeichentheoretischen Fragen passen zu der vorchomskyschen Syntax, die sich im Wesentlichen mit der Architektur von Sätzen befasste. Die hier vorgeschlagene Zeichentheorie versucht, einen anderen Weg zu gehen. Ihr oberstes Ziel ist nicht, die Frage nach der Architektur von Zeichen zu beantworten, sondern die nach den Prinzipien ihrer Bildung. Antworten auf die Frage der Architektur ergeben sich dabei von selbst. Menschen verfügen über die Fähigkeit, Dinge (im weitesten Sinne) als Zeichen zu interpretieren. Sie sind in der Lage, aus ‚Dingen‘, die sie sinnlich wahrnehmen, interpretierende Schlüsse zu ziehen. Genau diese Fähigkeit beuten sie zum Zwecke