Rudi Keller

Zeichentheorie


Скачать книгу

Das Wohlwollen ist notwendig, weil eine Sprache nicht einfach als ein System von Benennungen von sprachunabhängig gegebenen Dingen angesehen werden kann. Viele Kategorien werden durch die jeweilige Sprache erst geschaffen und nicht einfach benannt; außerdem ist das Benennen nicht die einzige HandlungHandlung, die wir mit Wörtern ausführen. Das wollen wir ihm hier aber nicht vorwerfen, da die Unterstellung einer realistischen Sprachkonzeption unter den drei Diskussionsteilnehmern wohl unstrittig ist. Irreführend ist Hermogenes’ Unterstellung, Wörter verhielten sich zu ihren Referenzobjekten wie EigennameEigennamen zu ihren Trägern; als sei der Personenname sozusagen der prototypische Fall referierender Ausdrücke.8BeziehungGadamer Diese überbewertende Generalisierung der Eigennamenrelation hängt wohl damit zusammen, dass der Eigenname einer der seltenen Fälle ist, wo der Mensch willentliche und bewusste Akte der ReferenzfixierungReferenzfixierung vornehmen kann, zum Beispiel durch die Taufe. In Wahrheit ist aber der Eigenname ein Sonderfall, der nicht als Analogieargument für den Normalfall herangezogen werden kann. Dies verkennt Hermogenes und lässt sich dazu verleiten, von der ArbitraritätArbitrarität der Konvention auf die Möglichkeit idiosynkratischer Beliebigkeit der Benennung durch einzelne Individuen zu schließen. Dieser Schluss ist ungültig. Dies wird noch in Kapitel 12 deutlich werden, wo der Begriff der Arbitrarität in seinem Bezug zu dem der Konventionalität und der Regelhaftigkeit erörtert wird. Ferdinand de SaussureSaussure sieht sich noch gute 2000 Jahre nach PlatonPlaton veranlasst, vor der Fehlannahme der radikalen idiosynkratischen Beliebigkeit zu warnen: „Das Wort ‚beliebig‘ erfordert hierbei eine Bemerkung. Es soll nicht die Vorstellung erwecken, als ob die Bezeichnung von der freien Wahl der sprechenden Person abhinge.“9

      Erster Teil, zweite Runde

      Das zweite Argument, mit dem Sokrates Hermogenes aufs Glatteis zu führen versucht, hat folgende Struktur: Sokrates bietet Hermogenes vier Prämissen an, denen dieser auch zustimmt. Aus diesen Prämissen zieht Sokrates sodann den folgenden gültigen Schluss: Es gibt eine den Dingen gemäße Richtigkeit der Bezeichnungen. Die Prämissen sind (385 b–c):

      1 Eine Rede kann wahr oder falsch sein.

      2 Jede Rede besteht aus Teilen.

      3 Wenn eine Rede als ganze wahr sein soll, müssen auch alle ihre Teile wahr sein.

      4 Das Wort ist der kleinste Teil der Rede.

      Daraus folgt:

      1 Das Wort einer wahren Rede ist ein wahres Wort.

      Daraus folgt außerdem: Es muss auch falsche Bezeichnungen geben können. Hermogenes gibt sich zunächst geschlagen: „Wie anders!“ (385 d), aber überzeugt ist er nicht. Er versucht mit einem Evidenzargument zu parieren: „Und so sehe ich auch, daß für dieselbe Sache bisweilen einzelne Städte ihr eigenes eingeführtes Wort haben und Hellenen ein anderes als andere Hellenen, und Hellenen auch wiederum andere als Barbaren.“ (385 e) Auch dieses Argument wird noch von de SaussureSaussure zur Stützung seiner These der BeliebigkeitBeliebigkeit des Zeichens bemüht: „Das beweisen die Verschiedenheiten unter den Sprachen und schon das Vorhandensein verschiedener Sprachen: das Bezeichnete ‚Ochs‘ hat auf dieser Seite der Grenze als Bezeichnung o-k-s, auf jener Seite b-ö-f (breuf).“10 Nun folgt natürlich, wenn man es genau nimmt, aus der Arbitrarität weder die Verschiedenheit (denn alle Hellenen und Barbaren könnten ein und derselben Konvention folgen), noch folgt aus der Verschiedenheit der Bezeichnungen deren Arbitrarität (denn Verschiedenheit könnte anders verursacht sein). Aber in der Tat legt Verschiedenheit die Annahme der Konventionalität und somit der Arbitrarität nahe.

      Das Argument des Sokrates enthält zwei entscheidende Fehler: Erstens ist es eine Äquivokation, von der Frage der Richtigkeit oder Falschheit der Benennung stillschweigend überzugehen zu der Frage der Wahrheit oder Falschheit einer Aussage. Richtigkeit ist nicht dasselbe wie Wahrheit. Die Prädikate richtig und falsch dienen nicht dazu, Propositionen Wahrheitswerte zuzuschreiben, sondern dazu, Handlungen bezüglich ihrer Korrektheit zu beurteilen. Die Frage, ob Zeichen arbiträrarbiträr sind, ist unabhängig von der Frage, ob Aussagen wahrheitswertdefinit sind. Zweitens enthält die Prämisse 3 einen Irrtum: Es ist ein Fehlschluss, von der (korrekten) These, dass Aussagen wahrheitswertdefinit sind, überzugehen zu der (inkorrekten) These, dass auch alle ihre Teile wahrheitswertdefinit sein müssen. Sokrates nimmt offenbar einen HomomorphismusHomomorphismus in der Sprache an, der bis hinunter zur Ebene der Wörter reicht. Das Prinzip des Homomorphismus der AbbildAbbildung, es wurde erstmals von dem Physiker Heinrich HertzHertz formuliert,11Beeh besagt, dass ein Teil einer Abbildung stets die Abbildung eines Teils ist. Dieses Prinzip gilt für jede Abbildung und für einige Fälle sprachlicher Abbildungen. So ist ein Teil einer Fotografie eines Hauses stets eine Fotografie eines Teils eines Hauses, und ein Teil einer Beschreibung eines Abendessens ist stets die Beschreibung eines Teils eines Abendessens. Dieses Prinzip hat jedoch nach unten hin eine Grenze der Gültigkeit. Wo genau sie sich in der Sprache befindet, darüber streiten sich bis heute die Sprachphilosophen.12 Ein Teil einer wahren Beschreibung ist die wahre Beschreibung eines Teils; das gilt nur bis zu der Ebene wahrheitswertdefiniter Einheiten, und das sind Aussagen oder Propositionen. „Das Prinzip von Hertz wird nicht nur in der Sprache nach unten ungültig, sondern auch z.B. bei Photographien. Wörter entsprechen Rasterpunkten (oder dem Korn). Rasterpunkte sind keine Bilder, sondern leiten ihre BeziehungBeziehung zum Original aus dem Zusammenhang im Bild ab. Sie sind ebenfalls arbiträr.“13 Sokrates versucht, das Prinzip des Homomorphismus bis hinunter auf die Ebene der Wörter (und, wie wir gleich sehen werden, auf die Ebene der Laute) zu führen. Diesen Fehler hat bereits Platons Schüler AristotelesAristoteles in seiner Schrift „Peri Hermeneias“14, allerdings ohne PlatonPlaton beim Namen zu nennen, in angemessener Weise aufgedeckt:

      Wie aber die Gedanken in der Seele bald auftreten, ohne wahr oder falsch zu sein, bald so, daß sie notwendig eins von beiden sind, so geschieht es auch in der Rede. Denn Falschheit und Wahrheit ist an Verbindung und Trennung der Vorstellungen geknüpft. Die Nomina und Verba für sich allein gleichen nun dem Gedanken ohne Verbindung und Trennung, wie z.B. das Wort Mensch oder weiß, wenn man sonst nichts hinzusetzt: Hier gibt es noch nicht Irrtum und Wahrheit. Dafür haben wir einen Anhaltspunkt z.B. an dem Wort Tragelaphos (Bockhirsch): es bedeutet zwar etwas, aber doch nichts Wahres oder Falsches, so lange man nicht hinzusetzt, daß das Ding ist oder nicht ist, schlechthin oder zu einer bestimmten Zeit.15 (16 a)

      Auch in der zweiten Runde ist Hermogenes argumentativ unterlegen. Er vertritt zwar eindeutig die plausiblere These, nämlich die Arbitraritätsthese, ist aber den fintenreichen Argumenten des Sokrates nicht gewachsen. Insbesondere erweist sich seine Zustimmung zu Prämisse 3, dem unterstellten Homomorphismus von Rede und Redeteil, als verhängnisvoll. Sokrates spielt nun eine Serie von Argumenten aus, die auf dem Gedanken des Werkzeugcharakters der Wörter aufbauen.

      Erster Teil, dritte Runde

      So wie die Dinge „ihr eigenes WesenWesen haben“ (386 e) und nicht jeweils so sind, wie sie dem einen oder anderen erscheinen mögen, argumentiert Sokrates, so haben auch HandlungHandlungen ihre ihnen eigene Natur (387 a). Das heißt, Handlungen kann man richtig oder falsch ausführen. Nun ist auch das Reden eine Handlung; und das Benennen ist ein Teil des Redens. „Also ist auch das Benennen eine Handlung.“ (387 c) Daraus folgt: Man kann nicht einfach nach eigenem Gutdünken benennen, „wie wir etwa jedesmal möchten“ (387 d), sondern es gibt eine Richtigkeit des Benennens, „wie es in der Natur des Benennens und Benanntwerdens der Dinge liegt“. (387 d) Hermogenes pflichtet bei: „Offenbar.“

      Auf der korrekten These, dass das Benennen eine Handlung ist, für deren Ausführung es ein Richtig und Falsch gibt, baut Sokrates nun seine Gegenargumente auf. Um eine handwerkliche Tätigkeit korrekt ausüben zu können, bedarf es des geeigneten Werkzeugs: Zum Weben dient uns die Weberlade, zum Bohren der Bohrer; und was dient uns zum Benennen? Hermogenes: „Das Wort.“ „Richtig“, sagt Sokrates, „ein WerkzeugWerkzeug ist also auch das Wort.“ (388 a) Er erläutert auch sogleich, zu welcher Tätigkeit das Wort als Werkzeug dient: Wir lehren „einander etwas und sondern die Gegenstände voneinander, je nachdem sie beschaffen sind“. (388 b) Das Wort dient also zum Belehren, zum Sondern und natürlich zum Benennen. Damit hat Sokrates die drei wesentlichen Funktionen der Sprache auf den Punkt gebracht: KommunikationKommunikation, KlassifikationKlassifikation und RepräsentationRepräsentation.