Rudi Keller

Zeichentheorie


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Wohnungen.4Kanacher Es folgt beispielsweise daraus, dass der „öffentliche“ Teil der Wohnung zur Selbstdarstellung genutzt wird. Öffentlich zugängliche Bereiche der Wohnung sind in erster Linie Flur und Wohnzimmer, in zweiter Linie Küche und Bad. Der Besucher soll von dem ihm zugänglichen Teil der Wohnung auf den Rest der Wohnung und letztlich auf die Persönlichkeit des Bewohners selbst schließen. Untersuchungen zeigen, dass diesen Bereichen die größte Sorgfalt und der größte finanzielle Aufwand bei der Einrichtung und Gestaltung gewidmet wird.5Tränkle Auch dies dient der Symbolisierung sozialen Revieranspruchs.

      Betrachten wir für einen Augenblick das Wohnzimmer des deutschen Mittelstandes im Lichte seiner Zeichenhaftigkeit als Beispiel unserer Alltagssemiotik.

      1. Ein Vergleich der Grundrisse handelsüblicher Fertighäuser macht folgendes deutlich: Während das Kinderzimmer im Durchschnitt 8 % der Gesamtfläche ausmacht, entfallen auf das Wohnzimmer durchschnittlich 30 % der Wohnfläche. Insgesamt gilt: Je größer die Gesamtfläche ist, desto geringer ist der prozentuale Anteil des Kinderzimmers; der Zuwachs geht stets zugunsten der Wohnzimmergröße.6 Das Wohnzimmer ist gleichsam die republikanische Weiterentwicklung des aristokratischen Salons des 18. und 19. Jahrhunderts. Es „erinnert“, wie MitscherlichMitscherlich feststellt, „an ein Fürstenzimmer ohne das Schloß im Hintergrund“.7Elias

      2. Früher, etwa bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, gab es die sogenannte „gute Stube“. Das war ein Raum, der ausschließlich Repräsentationszwecken diente. Er wurde nur genutzt, um Besuch zu bewirten und zu besonderen familiären Anlässen. Der Tatsache, dass die gute Stube auch nur zu diesen Anlässen beheizt wurde, verdankte sie die ironische Bezeichnung „die kalte Pracht“.8 Das alltägliche Leben fand in der Küche statt. Unser heutiges Wohnzimmer hat beide Funktionen zu erfüllen. Es ist Repräsentationsraum und Hauptlebensraum. Damit aber sind Konflikte programmiert. Als Repräsentationsraum muss er stets „vorzeigbar“ sein, d.h. sauber und aufgeräumt, als Hauptlebensraum kann er das nicht sein. Das hat mindestens drei Konsequenzen, die jedem (mindestens vom Hörensagen) vertraut sind: a) Es gibt einen permanenten Konflikt mit den Kindern, die da spielen wollen, wo die Erwachsenen sich aufhalten, dies aber nur in bescheidenem Umfang dürfen, da das Wohnzimmer zu jeder Zeit Repräsentationszwecken dienlich sein muss. b) Die sogenannte Essecke des Wohnzimmers wird, um „unnötiges Durcheinander“ zu vermeiden, nur benutzt, wenn Gäste zu Besuch kommen. Ansonsten wird für die alltägliche Nahrungsaufnahme der Familienmitglieder in die zu kleine Küche ein kleiner Esstisch gezwängt. c) Fröhlichere Feste werden in den Partykeller, so vorhanden, ausgelagert, um die Repräsentativität des Wohnzimmers nicht zu gefährden.

      3. Wohnzimmereinrichtungen zeigen, wie Untersuchungen belegen,9 ein überraschend hohes Maß an KonformitätKonformität, und zwar in zunehmendem Maße mit abnehmendem Sozialprestige ihrer Bewohner. Wohnzimmer der unteren Mittelschicht weisen ein höheres Maß an Konformität auf als Wohnzimmer der gehobenen Mittelschicht, und diese wiederum sind weniger individuell als Wohnzimmer der sozialen Oberschicht. Auch dies ist, wie wir gleich sehen werden, eine Folge ihres Zeichencharakters.

      Das Wohnzimmer einer Familie der unteren Mittelschicht ist üblicherweise möbliert mit schweren Polstersitzmöbeln, bestehend aus einem dreisitzigen Sofa und zwei mächtigen Sesseln in überladenem Mischstil oder im sogenannten altdeutschen Stil. Ein Blick in die entsprechenden Werbebroschüren der Möbelhäuser zeigt, dass in den Beschreibungen der Abbildungen Adjektive wie schwer, repräsentativ, rustikal, massiv eine besondere Rolle spielen. Das Polsterensemble nennt man wie das obligatorische Petersiliensträußchen auf dem Tomatenachtel am Tellerrand eines Jägerschnitzels bezeichnenderweise „Garnitur“. Zu der Polstergarnitur kommt ein halbhoher Couchtisch, ein Wohnzimmerbüffet mit Glasvitrine für das Schaugeschirr oder, alternativ dazu, eine Schrankwand. Der dominierende Punkt, auf den die Einrichtung ausgerichtet ist, ist der Fernsehapparat. Der Tatsache, dass Wohnzimmer in früheren Zeiten (wie auch die Salons) stets zur Straßenseite lagen, ist wohl noch die vor allem in der unteren Mittelschicht ausgeprägte Vorliebe zu „Gardinenkult“ und überladener Fensterdekoration zu verdanken.10 Während in der unteren Mittelschicht Wertsymbole überwiegen, überschwere Sessel, Eichenholz usw., finden sich im Wohnzimmer der gehobenen Mittelschicht eher Bildungssymbole: Bücherregale, Kunstdrucke, Antiquitäten und Musikinstrumente.11 Die Möbel sind im Allgemeinen leichter. Kehren wir zurück zu der Frage, wie es zu dem hohen Maß an Konformität kommt, obgleich sich die Bewohner bei Befragungen allgemein zu einer Hochschätzung von Individualismus und Originalität bekennen.12 Die Antwort folgt aus dem Repräsentationscharakter des Wohnzimmers. RepräsentationRepräsentation (im hier relevanten Sinne) ist die Darstellung von Werten, die man hat oder gerne beanspruchen würde, mit Hilfe von Symbolen. Ein Zimmer, das eine Person bzw. eine Familie repräsentieren soll, muss also die Werte, auf die es ankommt, das sind im wesentlichen Wohlstand, Sozialprestige und Bildung, symbolisch ausdrücken. Der Erfolg der Repräsentation ist davon abhängig, dass die verwendeten Symbole verstanden werden, d.h. die intendierte Wertschätzung finden. Somit muss sich jeder, der seine Werte auf verständliche Weise symbolisch darstellen will, nach den Interpretationsmöglichkeiten und antizipierten Werturteilen seiner Adressaten richten. Das Streben nach Verständigung führt zu Homogenität der Mittel in der entsprechenden Gruppe.

      Je höher die soziale Schicht, desto subtiler und versteckter werden (hierzulande) die Symbole der Selbstdarstellung. Das liegt zum einen am umfassenderen Bereich der zu repräsentierenden Werte, zum zweiten an der größeren Interpretationsfähigkeit der Adressaten und zum dritten an unserer Ethik der Bescheidenheit.13 Der Gebildete ist gerne wohlhabend, aber er verachtet den, der es zu offen zeigt. Sich die Schneidezähne vergolden zu lassen, gilt als unfein. Das Bescheidenheitsgebot führt zu einem Paradox der Selbstdarstellung der Art: „Ich bin wohlhabend und gebildet; das soll jeder wissen, aber ich darf es nicht zeigen.“ Diese Situation führt notwendigerweise zu einer Selbstdarstellung nach der MaximeMaxime: „Gib dem andern zu erkennen, was du hast und was du bist, und zwar so, dass er nicht erkennt, dass du beabsichtigst, ihm dies erkennen zu geben.“ Die vollkommene Kunst der Selbstdarstellung besteht gemäß dieser Maxime darin, dem andern erkennen zu geben, dass man so wohlhabend und gebildet ist, dass man es nicht nötig hat, dies dem andern zu zeigen. Dies ist das Ziel der StrategieStrategie des sogenannten „Understatement“. Das angemessene Mittel, diesen Effekt zu erreichen, besteht darin, Symbole zu verwenden, deren Entschlüsselung Kennerschaft voraussetzt: Kunst, Exotik, Antiquitäten, Designermöbel, Teppiche usw. Sie sind von hoher Zielgenauigkeit; denn nur diejenigen, die auch Ziel der Botschaft sind, sind in der Lage, die Zeichen zu interpretiereninterpretieren. Da aber auch das Understatement darauf angewiesen ist, verstanden zu werden, entstehen auch hier Konventionen seiner Symbolik, die den Bereich der theoretischen Möglichkeiten auf ein überschaubares Repertoire der faktisch genutzten reduziert.

      4. Betrachten wir zum Abschluss des Exkurses über das Wohnzimmer noch einen Aspekt, der ebenfalls eine Folge seiner Zeichenhaftigkeit sein dürfte, seine Kommunikationsfeindlichkeit. Jeder hat es schon erlebt: Nach dem Essen hebt die Gastgeberin oder der Gastgeber die Tafel auf mit den Worten: „Kommt, wir setzen uns noch ein bisschen gemütlich ins Wohnzimmer.“ Dies ist das sichere Ende der Gemütlichkeit und/oder der angeregten Gespräche. Die Gäste sitzen weit auseinander in tiefen, weichen Sesseln bei gedämpfter Beleuchtung. Drei davon sitzen, wie die Hühner, nebeneinander auf der Couch, einem "Dreisitzer". Sie haben nun die Wahl zwischen zwei Optionen: Entweder sie nehmen die Körperhaltung ein, die von den Sitzmöbeln vorgesehen und vorgegeben ist: tief in den Polstern sitzend mit behaglich zurückgelehntem Oberkörper. Das ist genau die Haltung, mit der man das Gegenteil von Zuwendung und Gesprächsbereitschaft signalisiert. In dieser Haltung ist ein lebendiges Gespräch so gut wie unmöglich. Die andere Möglichkeit ist, dass das Kommunikationsbedürfnis über das Verhaltensangebot der Polstermöbel siegt. In diesem Falle sitzen die Gäste auf der vorderen Kante der für diese Haltung zu weichen Sitzposter mit auf den Knien aufgestützten Ellenbogen. Am härtesten trifft es dabei die drei auf der Couch: Die mittlere Person beugt sich zurück, um den beiden äußeren, schräg auf der Kante sitzenden Personen den Blickkontakt zu gewähren. Die zweite Option erlaubt es, unter erheblichen körperlichen Opfern, gleichsam den Möbeln zum Trotz, die KommunikationKommunikation aufrecht zu erhalten.

      Das Fazit lautet: Unsere Wohnzimmer sind dazu da, Wohlstand, Sozialprestige und Bildung zu