interpretierenden Schlüssen zu verleiten. Kommunizieren ist ein intelligentes Ratespiel.13García Die Fähigkeit, dem Adressaten Interpretationsvorlagen zu geben, die ihm das Erraten des Kommunikationsziels erlauben, möchte ich semiotische Kompetenz nennen. Das Wissen, das dieser Fähigkeit zugrunde liegt, sei semiotisches Wissensemiotisches Wissen genannt. Die hier vorgelegte Zeichentheorie ist konzipiert als eine Theorie unseres semiotischen Wissens. Semiotische Kompetenz und semiotisches Wissen sind der sprachlichen Kompetenz logisch vorgeordnet: Dank unserer Fähigkeit, Wahrnehmbares interpretativ zu nutzen, und dank der Fähigkeit, diese Fähigkeit wiederum zum Zwecke der KommunikationKommunikation auszubeuten, bilden sich sprachliche Zeichensysteme als spontane Ordnungen heraus. Etwas verkürzt kann man sagen: Sprachen entstehen durch die Nutzung semiotischen Wissens zum Zweck der Beeinflussung von Mitmenschen.
Das Buch besteht aus fünf Teilen mit insgesamt zwanzig Kapiteln. Im ersten Teil werden zwei prototypische Zeichenauffassungen einander gegenübergestellt. Jeweils am Beispiel eines klassischen und eines modernen Sprachphilosophen wird die instrumentalistische und die repräsentationistische Zeichenauffassung vorgestellt. Erstere wird durch PlatonPlaton und WittgensteinWittgenstein dokumentiert, letztere durch AristotelesAristoteles und FregeFrege. Der instrumentalistische Gedanke wird zur Grundlage der weiteren Überlegungen gewählt. Im zweiten Teil wird die BeziehungBeziehung von SemantikSemantik und Kognition angesprochen. Ich versuche zu zeigen, dass eine Identifikation der BedeutungBedeutung sprachlicher Zeichen mit den ihnen (möglicherweise) entsprechenden kognitiven Einheiten den in diesem Buch verfolgten Erklärungszielen inadäquat ist. Plakativ gesagt: Begriffe eignen sich nicht als Kandidaten für Bedeutungen. Der dritte Teil befasst sich mit den drei zeichenbildenden Verfahren, die den Kernbereich unserer semiotischen Kompetenz ausmachen: dem symptomischen, ikonischen und symbolischen Verfahren. Im vierten Teil versuche ich zu zeigen, dass diese drei grundlegenden zeichenbildenden Verfahren eine Art eingebaute Dynamik haben. Ein Verfahren kann von einem anderen abgelöst werden, ohne dass planende Absicht im Spiel ist. So können Symptome und Ikone zu Symbolen werden, und zwar ausschließlich durch die Art und Weise, in der sie zum Zwecke des Kommunizierens verwendet werden. Die drei gundlegenden zeichenbildenden Verfahren sind auf einer höheren Ebene erneut anwendbar. Wir nutzen sie, um Metonymien, Metaphern zu bilden, und um mittels Sprache über Sprache reden zu können. Im fünften Teil zeige ich an einigen Beispielen die Relevanz der dargelegten zeichentheoretischen Überlegungen im Rahmen erklärender Theorien des Sprachwandels.
Zeichentheoretische Schriften sind meist schwer zu verstehen. Es ist mein Wunsch, dass dies für den vorliegenden Text nicht gelten möge. Ich habe mich jedenfalls bemüht, so klar, unprätentiös und verständlich zu schreiben, wie es mir möglich ist. Um das Buch für die Leserin und den Leser und nicht zuletzt auch für den akademischen Unterricht benutzerfreundlich zu machen, habe ich versucht, jedes einzelne Kapitel so zu verfassen, dass es möglichst autonom ist. Jedes Kapitel sollte idealiter auch einzeln lesbar und aus sich selbst heraus verständlich sein. Ich hoffe, dass mir dies einigermaßen gelungen ist, wenngleich mir bewusst ist, dass dieses Ziel nur um den Preis unzumutbarer Redundanz wirklich konsequent durchführbar gewesen wäre. Insbesondere gilt für das zehnte Kapitel, dass es Voraussetzung für das Verständnis aller nachfolgenden Kapitel ist.
Vorfassungen des vorliegenden Textes wurden ganz oder teilweise gelesen und konstruktiver Kritik unterzogen von Raimo AnttilaAnttila, Axel Bühler, Sheila Embleton, Fritz Hermanns, Jochen Lechner und Frank LiedtkeLiedtke. Ihnen sei für ihre Hilfe sehr herzlich gedankt. Ständige Gesprächspartnerin in jeder Phase der Entstehung dieses Buches war mir Petra RadtkeRadtke. Ihre inhaltlichen wie sprachlichen Einflüsse, die in die vorliegende Fassung eingingen, sind so zahl- und umfangreich, dass es ein unmögliches Unterfangen wäre, sie im Einzelnen lokalisieren zu wollen. Sie wird das Maß des Dankes, das ich ihr schulde, selbst am besten einzuschätzen wissen. Nicole Schmitz hat mir bei der redaktionellen Überarbeitung und der Erstellung der Register sehr geholfen. Dafür sei auch ihr gedankt. Schließlich haben die Studierenden, Kollegen und Diskutantinnen, die Teile dieses Buches in Form von Vorlesungen und Vorträgen gehört haben, viel zum Entstehen beigetragen. Dankbar bin ich auch dem Verlag für die zuverlässige Betreuung und stets kooperative Unterstützung.
2 Zeichen im Alltag
Zeichen bestimmen unser Leben. Dies gilt nicht nur für die sprachlichen Zeichen. Wir sind umgeben von Zeichen, wir umgeben uns mit Zeichen, und meist ist uns dies gar nicht bewusst. Bewusst wird uns die Tatsache, dass unser Leben nahezu vollständig zeichenimprägniert ist, oft erst dann, wenn die Zeichen, mit denen wir uns umgeben und die wir verwenden, Anlass zu unerwarteten Interpretationen sind. Mein Auto ist zeichenhaft, mein Fahrrad auch. Hätte ich kein Auto, wäre auch dies zeichenhaft. Austern essen ist ebenso zeichenhaft wie der Verzehr von Hamburgern. Wenn ich eine Krawatte trage, so ist dies zeichenhaft, ebenso wenn ich auf sie verzichte. Das gleiche gilt für die Cordhosen, die Jeans und meine Anzüge. Jemand könnte auf die Idee kommen zu sagen: „Ich habe es satt, dass alles stets interpretiert wird; ich mache nicht mehr mit!“ Auch für diese Haltung gibt es die geeignete Kleidung. Individualisten erkennt man, wie die Spießer, an ihren Zeichen. Es gibt kein Entrinnen aus der InterpretierbarkeitInterpretierbarkeit. Dies erinnert an den berühmt gewordenen Satz von WatzlawickWatzlawick, Beavin und Jackson: „Man kann nicht nicht kommunizierenkommunizieren.“1 Aber diese These soll hier nicht vertreten werden. Ihr liegt der, wie wir noch sehen werden, unangemessene Schluss zugrunde, dass alles, was interpretierbar ist, kommuniziert sein muss. Dem ist jedoch nicht so.
Bedeutsam ist in unserem Leben nicht nur wie etwas interpretiert wird, sondern auch das Was. KulturKulturen und Subkulturen unterscheiden sich im Ausmaß und in den Bereichen, die Gegenstand zeichenhafter Interpretation sind. Das Maß der ZeichenhaftigkeitZeichenhaftigkeit der verschiedenen Lebensbereiche einer Gruppe ist nachgerade das Maß der Zivilisiertheit, die dieser Gruppe zugebilligt wird. In je höherem Maß das Leben einer Gruppe „durchsemiotisiert“ ist, desto mehr Kultur (im umgangssprachlichen Sinne) schreiben wir ihr zu. Kultur besteht unter anderem darin, Dingen des täglichen Lebens Zeichenhaftigkeit beizumessen. „Culture depends on symbolic structure“, schreibt Raimo AnttilaAnttila. „Culture is learned sign behavior.“2 Es ist die Regelhaftigkeit, die Verhalten zeichenhaft zu machen im Stande ist – eine Tatsache, die uns noch ausgiebig beschäftigen wird. Wenn wir von „primitiven Kulturen“ reden, meinen wir Kulturen, deren Lebensformen mehr zeichenfreie Räume enthalten als die unsrigen oder deren Zeichenhaftigkeit wir nicht als zeichenhaft erkennen. Wenn wir in einer Kultur einen zeichenfreien Bereich entdecken, der in unserer Kultur zeichenhaft ist, so tendieren wir dazu, jene Kultur als in diesem Bereich „unzivilisiert“ zu bewerten. Betrachten wir ein einfaches Beispiel: Bei uns sind Körpergeräusche wie Schmatzen, Rülpsen oder noch Unanständigeres streng reglementiert. Wir bringen unseren Kindern mit einigem Aufwand bei, wo und wann man was tun darf und wann nicht; beispielsweise, dass man bei Tisch nicht schmatzt. Es gibt jedoch genau ein körperliches Geräusch, das zu allem Überfluss noch mit einer unappetitlichen Körperausscheidung verbunden ist, das hierzulande so gut wie nicht reglementiert ist: das Schneuzen. Die Nase darf man sich überall putzen und zu jeder Zeit: in der Straßenbahn, im Unterricht, sogar bei Tisch. Nicht so beispielsweise in Korea und anderswo in Ostasien. Dort ist es nachgerade der Gipfel an Barbarei, sich etwa bei Tisch Schleim aus den Nasenlöchern in ein Tuch zu pusten. Was hierzulande weitgehend unreglementiert ist, ist anderswo Gegenstand der Interpretation. Es gilt als unanständig, unzivilisiert und eklig. Regelungslücken erzeugen semiotische Löcher. Sie fallen meist nur denen auf, bei denen sie geschlossen sind.
Es scheint ein Kennzeichen sogenannter Hochkulturen zu sein, Wünsche und Bedürfnisse nicht (nur) real, sondern (auch und) vor allem symbolisch zu verarbeiten. Wer hierzulande Abenteuerlust verspürt, geht nicht in die Wildnis, sondern raucht Marlboro oder Camel und fährt mit dem allradgetriebenen Geländewagen ins Büro. Große Männer, und solche, die sich für wichtig halten, haben große Büros, große Schreibtische, große Sessel, und rauchen dicke Zigarren. Es handelt sich hierbei um die Symbolisierung sozialen Revieranspruchs. Natürlich ist das karikierend überzeichnet. Aber wahr daran ist: Wenn wir unsere Lebensform verstehenverstehen wollen, müssen wir sie in ihrer Zeichenhaftigkeit interpretiereninterpretieren. Wählen wir als Beispiel die Wohnung. Sie ist ein Teil unserer Lebensform, der weitgehend semiotisiert ist; insbesondere das Wohnzimmer. Alphons SilbermannSilbermann