Hans-Ulrich Lessing

Wilhelm Dilthey


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aus der Vorrede zur Einleitung in die Geisteswissenschaften mit kleingestellten römischen Seitenzahlen, aus dem ersten Band von Diltheys Briefwechsel, aus dem Jungen Dilthey und aus dem Briefwechsel Dilthey-Yorck unter den Siglen „BW I“, „J“ und „B“. Hervorhebungen im Text werden durch Kursivierung wiedergegeben.

      Februar 2011

      Hans-Ulrich Lessing

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      Wilhelm Dilthey (1833 – 1911) zählt – neben Friedrich Nietzsche und Edmund Husserl – zu den wichtigsten deutschsprachigen Philosophen der zweiten Hälfte des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts. Sein Name ist eng mit den Geisteswissenschaften, der Hermeneutik und der Entwicklung einer nicht-naturalistischen, „verstehenden“ Psychologie verbunden. Seine entsprechenden Thesen und Theorien werden in den einschlägigen Debatten noch immer diskutiert, und sein Werk, das in einer umfangreichen Ausgabe vorliegt, hat mittlerweile eine kaum mehr zu überblickende Anzahl von Forschungsarbeiten veranlasst. Auf zahlreichen Kongressen und Kolloquien hat man sich mit seinen Gedanken auseinandergesetzt. Seine Texte wurden in fast alle Weltsprachen übersetzt; so gibt es inzwischen amerikanische, französische, russische, japanische und portugiesische Ausgaben seiner Werke sowie eine Fülle von Übersetzungen ins Italienische. Dilthey ist also – obwohl ein Autor, der im 19. Jahrhundert verwurzelt ist – ein Philosoph, dessen Werk noch lebendig ist, immer noch zu denken gibt und zu Interpretation, Auseinandersetzung und Fortführung herausfordert.

      Dilthey vertritt eine historisch-hermeneutische Philosophie des Lebens, und die Grundbegriffe seiner Philosophie sind neben „Leben“, „Erleben“ und „Erlebnis“ vor allem „Verstehen“, „Struktur“, „Zusammenhang“; hinzukommen im Spätwerk die Begriffe „Ausdruck“, „Lebensbezug“, „Wirkungszusammenhang“ und „objektiver Geist“. Sein reiches Lebenswerk umfasst Bücher und Schriften zu fast allen Disziplinen der Philosophie, insbesondere zur Erkenntnistheorie und Logik, zur Ethik, Ästhetik, Psychologie, Pädagogik und Poetik sowie darüber hinaus zur Philosophie- und Geistesgeschichte und zur Literaturgeschichte.

      Aus seinem Werk ragen drei Lebensprojekte heraus, die ihn über weite Strecken seiner wissenschaftlichen Biographie in Atem gehalten haben,

      [9] Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe

      ein biographisches, ein systematisch-philosophisches und ein geistesgeschichtliches.

      Am Beginn von Diltheys Laufbahn steht, nach kirchen- und philosophiegeschichtlichen Forschungen, die Beschäftigung mit Leben und Werk des protestantischen Theologen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, die in der großen Schleiermacher-Biographie Leben Schleiermachers kulminiert, deren erster (und einziger) Band 1870 erschien. Diese Lebensgeschichte, die zugleich eine sehr fundierte und fulminante Geistes- und Kulturgeschichte der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland bietet, war angeregt durch die Beteiligung an der Edition des Schleiermacher-Briefwechsels, die Dilthey nach dem Tod des Herausgebers allein weiterführte. Aus der Einleitung zum ersten vom ihm edierten Band der Briefe, die Dilthey wegen des Einspruchs der Schleiermacher-Familie nicht publizieren durfte, erwuchs der Plan zu einer umfangreichen Biographie, die ihn – auch nach der Publikation des ersten Bandes – mit Unterbrechungen jahrzehntelang beschäftigte, ohne dass es ihm gelungen wäre, den immer wieder angekündigten zweiten Band fertigzustellen. Die umfangreichen Materialien zu diesem Band wurden erst Jahrzehnte nach seinem Tod aus dem Nachlass herausgegeben.

      Das nächste große Projekt, das Dilthey fast sein ganzes wissenschaftliches Leben beschäftigen sollte – ebenfalls ohne zum Abschluss zu kommen –, war eine „Kritik der historischen Vernunft“, wie Dilthey in (kritischem) Bezug auf Kant sein Großprojekt einer umfassenden philosophischen Grundlegung der Geisteswissenschaften gelegentlich auch nannte. Verwirklicht werden sollte dieses Unternehmen mit seinem auf zwei Bände angelegten philosophischen Hauptwerk, der Einleitung in die Geisteswissenschaften, dem – wie der Untertitel lautet – „Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte“. Der erste, vorbereitende Band der Einleitung wurde 1883 veröffentlicht. Obwohl Dilthey in den folgenden Jahren für den geplanten zweiten Band, der die eigentliche Grundlegung enthalten sollte, schon größere Partien in Aufsatzform publiziert und umfangreiche Manuskripte verfasst hatte, konnte der Band von ihm ebenso wenig abgeschlossen werden, wie der zweite Band der Schleiermacher-Biographie. Auch in diesem Fall wurden

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      erst aus dem Nachlass wichtige systematische Teile der Grundlegung im Rahmen der Gesammelten Schriften (= GS) veröffentlicht.

      Das dritte Großprojekt Diltheys sind seine Studien zur Geschichte des deutschen Geistes. Diesem Unternehmen, das auf einen frühen, nicht realisierten Buchplan zurückgeht, zu dem schon ein Verlagsvertrag abgeschlossen war, wandte sich Dilthey nach 1900 zu. Unmittelbarer Auslöser war wohl das zweihundertjährige Jubiläum der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, aus dessen Anlass Dilthey zwei große wissenschafts- bzw. akademiegeschichtliche Aufsätze publizierte. Diese Beschäftigung mit der Geschichte der Berliner Akademie wuchs sich in der Folge zu einem umfangreichen Projekt einer Geschichte des deutschen Geistes aus, die neben der wissenschaftlichen, philosophischen auch die literarische und musikalische Entwicklung in Deutschland umfassen sollte und für die in Diltheys zahlreichen literarhistorischen Abhandlungen schon viele Vorarbeiten bereitlagen. Doch trotz seiner immensen Produktivität – der entsprechende Nachlassteil umfasst mehrere tausend Manuskriptseiten – gelang es Dilthey auch in diesem Fall nicht, das Werk zum Abschluss zu bringen. Teile daraus wurden in den Bänden III und XII der GS sowie 1933 in einer Einzelpublikation veröffentlicht.

      Neben diesen Großprojekten finden sich in Diltheys Werk weitere wichtige Veröffentlichungen, die eine intensivere Beschäftigung lohnen, wie z. B. seine Hegel-Biographie Die Jugendgeschichte Hegel von 1905 und vor allem die Sammlung seiner wichtigsten literargeschichtlichen Aufsätze Das Erlebnis und die Dichtung, die 1906 erschien. Außerdem sind Diltheys ausgedehnte geistes- bzw. philosophiegeschichtliche Studien, die seit Anfang der neunziger Jahre in dichter Folge erscheinen, seine Abhandlungen zur Poetik und Pädagogik, seine späten Arbeiten zu einer „Philosophie der Philosophie“, wie er seine Weltanschauungslehre auch genannt hat, sowie insbesondere die 1910 veröffentlichte Schrift Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, die sich an den ersten Band der Einleitung anschloss und Struktur und methodische Grundlagen der Geisteswissenschaften analysierte sowie das Problem der historischen Erkenntnis behandelte, von großer, dauerhafter Bedeutung. Aber auch im Fall des Aufbaus war es Dilthey nicht vergönnt, den angekündigten zweiten Teil dieser umfangreichen Abhandlung ab-

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      zuschließen; er starb, bevor er diese Absicht konkret in Angriff nehmen konnte. Insofern lässt sich durchaus mit einem gewissen Recht davon sprechen, dass über Diltheys Lebenswerk, das trotz vieler bedeutender Schriften letztlich ein großes Fragment darstellt, eine gewisse Tragik liegt, was Dilthey wohl auch gesehen und worunter er gelitten hat, wie gelegentliche Hinweise in seinen späten Texten belegen.

      Während wichtige Teile seines Werkes insofern noch lebendig und „aktuell“ sind, als sie noch immer in den einschlägigen Debatten als Referenztexte dienen, auf die man sich affirmativ oder kritisch beruft, erscheint uns die Person Dilthey doch merkwürdig fremd und als eine Gestalt, die uns heute fern gerückt ist.

      Diltheys Lebensspanne reicht vom Biedermeier bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs; als er geboren wurde, war Hegel zwei Jahre tot und Goethe gut anderthalb Jahre. In seine Lebenszeit fallen viele bedeutende, wenn nicht gar revolutionäre Entwicklungen in politischer, wirtschaftlicher, naturwissenschaftlich-technischer wie kultureller Hinsicht: die Märzrevolution von 1848, der preußisch-österreichisch-dänische Krieg von 1864, der preußisch-österreichische Krieg von 1866, der deutsch-französische Krieg von 1870/71, die Reichsgründung von 1871, der Wilhelminismus, die Gründerzeit, der rasante Aufstieg der Naturwissenschaften, der eine Fülle von Entdeckungen und technischen Entwicklungen mit sich brachte, sowie die Stilwechsel in Kunst und Literatur von der Spätromantik des Biedermeier über den Realismus zum Naturalismus und Impressionismus.

      Wie kein zweiter repräsentiert