und Lehre sowie dem Austausch mit befreundeten Philosophen und Wissenschaftlern gewidmet. Nahezu alles wurde seinem rastlosen Arbeiten untergeordnet. Urlaube wurden zur Arbeit an begonnenen Forschungsvorhaben genutzt; seine Briefe, selbst an die Familie und die Braut, dienen fast immer auch dem Bericht über gerade anstehende Arbeiten oder dem Ausblick auf neue Projekte. Diese fast als eine Bessenheit zu bezeichnende Erfülltheit von seinen Forschungen und seine umfassende geisteswissenschaftliche Bildung werden treffend illustriert durch eine
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köstliche briefliche Schilderung, die der junge William James in einem Brief vom 17. Oktober 1867 an seine Schwester von einer Begegnung mit Dilthey anlässlich eines Mittagessens bei dem mit Dilthey eng befreundeten Kunst- und Literarhistoriker Herman Grimm gibt und die Herman Nohl in einem Handbuchartikel über Dilthey wiedergegeben hat: „Ein weicher dicker Mann mit schwarzem Haar […] von ungewissem Alter zwischen fünfundzwanzig und vierzig Jahren, mit sehr kleinen grünen Augen. Er trug den obligaten Frack, hatte aber an exceedingly grimy shirt and collar and a rusty old rag of a cravat. Der Professor floß über von Informationen über alles Erkennbare und Unerkennbare. He is the first man I have ever met of a class of men, to whom learning has become as natural as breathing. Er sprach und lachte unaufhörlich bei Tisch, berichtete Frau Grimm die ganze Geschichte des Buddhismus, und ich weiß nicht, was von andren Punkten der Religionsgeschichte. Nach Tisch gerieten Grimm und der Professor in eine heiße Kontroverse über die primitive Form der Naturreligion. Ich bemerkte, daß die Antworten des Professors ziemlich müde wurden, als plötzlich sein dicker Kopf nach vorn fiel. Grimm rief, er solle lieber einen ordentlichen Schlaf im Sessel nehmen. Er stimmte eifrig zu. Grimm gab ihm ein reines Taschentuch, das er über sein Gesicht warf und augenblicklich einzuschlafen schien. Nach zehn Minuten weckte ihn Grimm mit einer Tasse Kaffee. Er erhob sich, erfrischt wie ein Riese, und fuhr fort, mit Grimm zu streiten über die Identität von Homer.“ (The Letters of William James. Edited by his son H. James. Vol. I. Boston 1920, 109 – 111; H. Nohl: Wilhelm Dilthey (1957), in: Ders.: Die Deutsche Bewegung. Vorlesungen und Aufsätze 1770 – 1830. Herausgegeben von O. F. Bollnow und F. Rodi. Göttingen 1970, 304.)
In stiller Arbeit entstand im Laufe der Jahre nicht nur ein höchst umfangreiches publiziertes Werk, das heute in der Ausgabe seiner Gesammelten Schriften greifbar ist, die 1914, kurz nach seinem Tod, vom Kreis seiner engeren Schüler begonnen wurde und 2006 nach der Edition von sechsundzwanzig, z. T. sehr umfangreichen Bänden zum Abschluss kam. Er füllte darüber hinaus in jahrzehntelanger harter, disziplinierter Arbeit mit seinen Manuskripten, Skizzen, Entwürfen, Plänen und Projektdispositionen seine Manuskriptschränke. Sein handschriftlicher Nachlass, dessen umfangreichster Teil im Archiv der Berlin-Brandenburgischen
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Akademie der Wissenschaften (Berlin) aufbewahrt wird – ein kleinerer Nachlassteil befindet sich in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen –, umfasst mehrere zehntausend Seiten, von denen nur ein Teil in den Nachlassbänden der GS veröffentlicht werden konnte.
Gute Gründe für eine intensivere Beschäftigung mit dem philosophischen Werk Diltheys wurden oben schon genannt: er ist eine bedeutende, philosophiehistorisch wichtige Gestalt der deutschen Philosophie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts und hat eine große Rezeptions- und Wirkungsgeschichte, zu der so wegweisende Philosophen wie u. a. Martin Heidegger, Georg Misch, Helmuth Plessner, Erich Rothacker, Otto Friedrich Bollnow und Hans-Georg Gadamer gehören, die in unterschiedlicher Weise durch sein Werk zu Kritik und Auseinandersetzung oder zur (kritischen) Weiterführung seiner Denkmotive angeregt wurden.
Diltheys bedeutendste Leistung liegt zweifellos in seiner Philosophie der Geisteswissenschaften: Er hat als einer der ersten versucht, die Geisteswissenschaften als eine von den Naturwissenschaften unabhängige Gruppe von Wissenschaften philosophisch zu begründen und dabei entscheidende Einsichten in das Wesen geisteswissenschaftlicher Erfahrung und die Struktur der Geisteswissenschaften gewonnen.
Sein Ziel war es, ein „allgemeingültiges Wissen der geschichtlichen Welt“ (VII, 152) zu begründen bzw. die Bedingungen der Allgemeingültigkeit des geschichtlichen und kulturellen Verstehens zu erforschen. Die Geisteswissenschaften begreift Dilthey daher zunächst als Wissenschaften, die – wie die Naturwissenschaften – die allgemein anerkannten Kriterien der Wissenschaftlichkeit erfüllen, wie z. B. die Forderungen nach Allgemeingültigkeit und Objektivität. Während Dilthey somit einerseits den Wissenschaftscharakter dieser Gruppe der Wissenschaften der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit betont, hebt er aber auf der anderen Seite zugleich hervor, dass sie in erkenntnistheoretischer und in der Folge davon auch in methodischer Hinsicht von den Naturwissenschaften unterschieden sind.
Der Grund dafür liegt in der unaufhebbaren (ontologischen) Differenz von Natur und menschlicher Kultur sowie dem je verschiedenen (methodischen) Verhältnis, das wir als Forschungssubjekte zu diesen
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beiden Bereichen der Wirklichkeit einnehmen. Die Natur, als ein Zusammenhang kausal bestimmter Prozesse, ist für uns – so Dilthey – eine „fremde Welt“, die für uns „stumm“ ist. Die kulturelle, geistige Welt dagegen, an der wir partizipieren, ist „unsere Welt“, sie spricht uns an, wir verstehen sie, sie ist für uns bedeutsam und sinnhaft. Der Natur können wir uns gleichsam nur „von außen“ nähern, die Kultur dagegen, die als menschliches Erzeugnis zugleich den Menschen formt – der Philosoph und Kulturanthropologe Michael Landmann wird für dieses Wechselverhältnis die prägnante Formel vom Menschen als „Schöpfer und Geschöpf der Kultur“ finden –, ist uns „von innen“ bekannt, vertraut und daher verständlich. Wir – und hier wird deutlich, dass Dilthey das so genannte „Vico-Axiom“ (F. Fellmann) paraphrasiert, wonach der Mensch nur das verstehen kann, was er selbst hervorgebracht hat – verstehen die kulturelle Welt, die „unsere Welt“ ist, weil wir sie (mit)hervorgebracht haben. Wir sind als Elemente dieser kulturellen Welt verwoben in die mannigfaltigen und komplexen Geflechte oder Netzwerke gesellschaftlich-geschichtlicher Wirklichkeiten, wie Sprache, Traditionen, Religion etc., die uns umgeben und prägen, an denen wir mitgestalten und weiterarbeiten und die für uns deshalb verständlich sind.
Außerdem ist Dilthey wichtig, weil er einer der Hauptbeteiligten der sogenannten „Verstehen-Erklären-Debatte“ ist, zu den Klassikern der Hermeneutik zählt und mit seiner Philosophie der Geisteswissenschaften den Versuch einer hermeneutischen Grundlegung der Geisteswissenschaften unternommen hat, die nicht nur einen wesentlicher Beitrag zur Philosophie der Geisteswissenschaften geliefert, sondern auch bedeutende Anstöße zur Begründung einer „hermeneutischen Philosophie“ gegeben hat. Dilthey hat das für die Geisteswissenschaften konstitutive Grundverhältnis von Leben, Ausdruck und Verstehen herausgearbeitet und den von Hegel übernommenen, aber von ihm anders gefassten Begriff des „objektiven Geistes“ in die Theorie der Geisteswissenschaften und damit auch in die Hermeneutik eingeführt und mit seiner Analyse der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit außerdem auch einen beachtlichen Beitrag zur Kulturphilosophie geleistet.
Weiterhin ist Diltheys Konzeption einer nicht-naturwissenschaftlich ausgerichteten, beschreibenden und zergliedernden, d. h. „verstehenden“
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Psychologie von außerordentlicher Bedeutung, da er mit dieser eine Konzeption entwickelt hat, die aktuell wieder viel Resonanz erfährt und in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Lage von besonderer Virulenz ist.
Einige weitere gute Gründe, warum sich eine intensive Beschäftigung (und Auseinandersetzung) mit ihm lohnt, lassen sich noch darüber hinaus anführen: weil er als Alternative zur Bewusstseinsphilosophie der Neuzeit (Locke, Hume und Kant) eine auf die Totalität der menschlichen Natur begründete „Philosophie des Lebens“ entwickelt hat und in seinen anthropologischen Überlegungen den Menschen als ein geschichtliches und gesellschaftliches Wesen herausgestellt hat; weil er durch seine literarhistorischen Aufsätze schulbildend geworden ist; weil er mit seinen biographischen Werken über Schleiermacher und Hegel glänzende Beispiele geistesgeschichtlicher Forschung geliefert hat; weil er nicht nur die geisteswissenschaftliche oder verstehende Psychologie, sondern auch die geisteswissenschaftliche Pädagogik inspiriert hat und weil er mit seiner Weltanschauungslehre wichtige Einsichten in den Lebensbezug der Philosophie vermittelt hat.