Berliner Lehrtätigkeit stellt Dilthey seine außergewöhnlich umfangreiche Publikationstätigkeit für Westermanns Monatshefte ein und veröffentlicht nun fast nur noch wissenschaftlich-philosophische Schriften. Er entwickelt eine große Produktivität, und in schneller Folge treten nun viele wichtige systematische und historische Schriften Diltheys an die Öffentlichkeit, die zum erheblichen Teil dem historischen und systematischen Kontext des geplanten, aber nie fertig gestellten zweiten Bandes der Einleitung angehören.
1885 erscheint in erster Auflage als Grundlage für seine philosophiehistorischen Vorlesungen sein Biographisch-literarischer Grundriß der allgemeinen Geschichte der Philosophie (6. Aufl. 1905 in: GS XXIII, 1 – 160). 1887 wird Dilthey als ordentliches Mitglied in die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften (Berlin) aufgenommen (vgl. die Antrittsrede, V, 10 – 11) und gibt vom selben Jahr ab in Gemeinschaft mit Hermann Diels, Benno Erdmann und Eduard Zeller das Archiv für Geschichte der Philosophie (ab 1895 umbenannt in Archiv für Philosophie) heraus. Ebenfalls 1887 erscheint in der Festschrift für Diltheys Berliner Kollegen Eduard Zeller mit der Abhandlung Das Schaffen des Dichters (unter dem Titel Die Einbildungskraft des Dichters in: VI, 103 – 241), sein bedeutendster Beitrag zur Poetik. 1888 publiziert Dilthey seinen wichtigsten pädagogischen Text Über die Möglichkeit einer allgemeingültigen pädagogischen Wissenschaft (VI, 56 – 82). Im Jahr 1889 veröffentlicht er die beiden Aufsätze Archive für Literatur (XV, 1 – 16) und Archive der Literatur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der Philosophie (IV, 555 – 575). Gewissermaßen als Folge seiner Forderung nach Literaturarchiven beschäftigt sich Dilthey mit den Handschriften Kants und konzipiert 1893 den Plan zu einer „monumentalen Kantausgabe“ (B, 170), der Akademie-Ausgabe von Kants Gesammelten Schriften, die Dilthey bis 1902 leitet und in die er einen nicht unerheblichen Teil seiner Arbeitskraft und -zeit investiert.
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Im Sommersemester 1890 hält Dilthey seine (einzige) Ethik-Vorlesung, Ethik, in ihren Prinzipien und einzelnen Ausführungen dargestellt (Nachlassveröffentlichung unter dem Titel System der Ethik in: GS X), die er in einem großen Brief an Yorck detailliert vorstellt (B, 90 – 92) und als „Abschluß meiner systematischen Gedanken“ (B, 90) bezeichnet. Im selben Jahr veröffentlicht er die wichtige erkenntnistheoretische Abhandlung Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht (V, 90 – 135), die zum Umkreis des systematischen Teils des zweiten Bandes der Einleitung gehört, und 1891 beginnt die Reihe großer geistesgeschichtlicher Arbeiten Diltheys zu erscheinen, die ebenfalls dem Kontext des zweiten Bandes zuzurechnen sind: Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert (1891/1892, in: II, 1 – 89), Das natürliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert (1892/1893, in: II, 90 – 245), Die Autonomie des Denkens, der konstruktive Rationalismus und der pantheistische Monismus nach ihrem Zusammenhang im 17. Jahrhundert (1893; in: II, 246 – 296), Der entwicklungsgeschichtliche Pantheismus nach seinem geschichtlichen Zusammenhang mit den älteren pantheistischen Systemen (1900; in: II, 312 – 390) und Die Funktion der Anthropologie in der Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts (1904; in: II, 416 – 492).
1892 veröffentlicht Dilthey mit dem Aufsatz Die drei Epochen der modernen Ästhetik und ihre heutige Aufgabe (VI, 242 – 287) einen weiteren wichtigen Beitrag zur Ästhetik. Die berühmte programmatische Akademieabhandlung Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (V, 139 – 237), die dem systematischen Zentrum des zweiten Buchs der Einleitung zugehört, wird von Dilthey 1894 veröffentlicht. Sie erfährt in einem Ende 1895 erscheinenden Aufsatz des – mit Dilthey befreundeten – Psychologen Hermann Ebbinghaus eine vernichtende Kritik, die ihn in eine tiefe persönliche Krise stürzt, die für die geplante Ausarbeitung des zweiten Bandes der Einleitung fatale Folgen hat. Die unter dem Titel Über vergleichende Psychologie (1895) geplante, aber nur verkürzt unter dem Titel Beiträge zum Studium der Individualität publizierte Fortsetzung der Ideen erscheint, ebenfalls als Akademie-Abhandlung, 1896 (Rekonstruktion der „Abhandlung von 1895“ in: V, 241 – 316). Die beabsichtigte umfangreiche Antwort auf Ebbinghaus‘ Kritik will Dilthey trotz wiederholter Anläufe
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nicht gelingen. (Vgl. XXII, 337 – 345) Bis etwa Mitte 1896 arbeitet er an seiner psychologischen Konzeption weiter, bricht dann aber enttäuscht seine systematischen Arbeiten an der Einleitung endgültig ab und wendet sich wieder seiner Schleiermacher-Biographie zu, die er sich schon ab Mai 1896 wieder vorgenommen hatte. (Vgl. B, 214) Vom Dezember 1896 widmet er sich diesem Unternehmen intensiver und beginnt, nachdem er es jahrelang offenbar vernachlässigt hatte, wieder zu schreiben (vgl. B, 229, 234f., 239f.) und plant im Sommer 1897 eine Neuauflage des ersten Bandes der Schleiermacher-Biographie (vgl. B, 242), die aber erst gut ein Jahrzehnt nach seinem Tode zustande kommt.
In der achten Auflage von Friedrich Ueberwegs Grundriß der Geschichte der Philosophie veröffentlich Dilthey 1897 eine aufschlussreiche Übersicht meines Systems (mit Zusätzen aus dem Nachlass, in: VIII, 176 – 184, 265 – 266), die seinen systematisch-philosophischen Anspruch deutlich werden lässt.
Seit 1900 verfolgt Dilthey sein neues Großprojekt der Studien zur Geschichte des deutschen Geistes, die in mehreren Bänden eine Darstellung des deutschen Geisteslebens von der germanischen Frühzeit bis zur Gegenwart bieten und Literatur, Musik, Philosophie und Geschichte umfassen sollen. Dieses, nicht nur in Anbetracht seines fortgerückten Alters, sehr ehrgeizige Projekt geht zurück auf eine konkrete Absprache mit dem Cotta-Verlag über eine Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland in der Neuzeit, die im Rahmen einer geplanten Bibliothek deutscher Geschichte erscheinen sollte. (Vgl. Diltheys Brief an Carl von Cotta vom 29. 12.1880 [BW I, 848 – 850] und den Verlagsvertrag vom 3.1.1881) Dieses Projekt, dem man auch Diltheys zahlreiche literaturgeschichtliche Arbeiten zurechnen kann, wird aber aus unbekannten Gründen nicht weiterfolgt.
Konkreter Anlass für das von der Jahrhundertwende ab verfolgte Projekt der Studien ist offenbar das Jubiläum der Berliner Akademie, an dem sich Dilthey mit dem Rundschau-Artikel Die Berliner Akademie der Wissenschaften, ihre Vergangenheit und ihre gegenwärtigen Aufgaben (1900; umgearbeitet vom Herausgeber in: III) beteiligt und der ihn in weitere wissenschaftsgeschichtliche Forschungen hineinzieht. In diesem Zusammenhang publiziert Dilthey noch zwei Abhandlungen in der Deutschen
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Rundschau über Die deutsche Aufklärung im Staat und in der Akademie Friedrichs des Großen (1901; umgearbeitet vom Herausgeber in III) und Das 18. Jahrhundert und die geschichtliche Welt (mit wenigen Änderungen in: III, 207 – 268). Im Sommer 1901 stellt er die Rundschau-Artikel zu dem Buch Drei Epochen deutschen Geisteslebens. Leibniz – Friedrich der Große und die Aufklärung – Die Begründer der geschichtlichen Weltansicht zusammen, das – schon fertig ausgedruckt – von ihm aber vor der Veröffentlichung wieder zurückgezogen wird, da er, mit dem Inhalt des Werks unzufrieden, das Unternehmen breiter anlegen will. In den nächsten Jahren häuft Dilthey eine riesige Manuskriptmenge zu dieser Thematik an, in die er auch älteres Material integriert, von der nach Diltheys Tod aber nur wenige ausgearbeitete Aufsätze in Band XII der GS und dem Buch Von deutscher Dichtung und Musik (Leipzig und Berlin 1933, herausgegeben von G. Misch und H. Nohl) veröffentlicht werden können.
Neben diesen geistesgeschichtlichen Studien verfolgt Dilthey nach der Jahrhundertwende auch wieder intensiver seine Arbeiten zur Grundlegungsproblematik der Geisteswissenschaften. In diesen Zusammenhang gehört der im Jahr 1900 in der Festschrift für den Tübinger Philosophen Christoph Sigwart veröffentlichte wichtige Aufsatz Die Entstehung der Hermeneutik (V, 317 – 331; Zusätze aus den Handschriften, 332 – 338), dem für seine späte Philosophie der Geisteswissenschaften besondere Bedeutung zukommt. Der Publikation vorausgegangen waren die Akademie-Vorträge Über Hermeneutik. 1. Hälfte (Juni 1896) und Über die Hermeneutik von Baumgarten und Semler (Februar 1897).
Ab Anfang 1904 unternimmt Dilthey Arbeiten für eine geplante zweite Auflage der Einleitung (vgl. I, 410 – 426), die aber nicht realisiert wird, und beschäftigt sich seit Ende des Jahres in einer Reihe von Vorträgen in der Berliner Akademie wieder intensiv mit seinem Lebensthema, den Problemen einer philosophischen Grundlegung der Geisteswissenschaften, die aber nur zum geringen Teil in den Sitzungsberichten der Akademie veröffentlicht werden. Von Dilthey publiziert wird nur 1905 die Erste Studie zur Grundlegung