Hans-Ulrich Lessing

Wilhelm Dilthey


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er zu einer Zeit, in der der Materialismus von Ernst Haeckel, Ludwig Büchner etc., der Positivismus und Empirismus von Auguste Comte, John Stuart Mill und Henry Thomas Buckle sowie die exakten Naturwissenschaften mit ihren Methodenkonzeptionen den Eigensinn der geistigen Welt – wie er sagte – „verstümmeln“ wollten, die Autonomie dieser geistigen Welt und die ihrer Wissenschaften zu retten versuchte. Gegenwärtig befinden wir uns in einer Situation, die derjenigen Diltheys gegen Ende des 19. Jahrhunderts verblüffend ähnlich ist: zahlreiche naturalistische Positionen, angefangen von der Hirnforschung über Repräsentanten der analytischen Philosophie bis zu Anhängern eines Neo-Materialismus, stellen mit großer Resonanz in den Medien die Annahme der menschlichen Willensfreiheit und damit die Souveränität der Person sowie die These einer Unabhängigkeit des Geistigen von Naturprozessen und folglich die der kulturellen Wirklichkeit radikal infrage. Diltheys Argumente gegen eine solche, heute im Trend liegende naturalistische Vereinnahmung bzw. Negation der geistig-kulturellen Wirklichkeit und sein Versuch der Begründung der

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      Geisteswissenschaften als eigenständiger, von den Naturwissenschaften unabhängiger Wissenschaftsgruppe können auch heute noch wichtige Impulse geben in einer Debatte, in der es um nicht mehr und nicht weniger geht, als um die uns alle betreffende zentrale Frage nach unserem Begriff des Menschen selbst.

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Wilhelm Dilthey: Basisdaten zu Leben und Werk

      Diltheys Leben verlief – von außen betrachtet – unspektakulär. Seine Lebensgeschichte entspricht auf geradezu frappierende Weise der typischen Biographie eines deutschen Professors der Geisteswissenschaften oder der Philosophie in der zweiten Hälfte des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts.

      Wie viele andere bedeutende Gestalten der deutschen Geistesgeschichte entstammt auch Dilthey einem protestantischen Pfarrhaus. Sein Großvater war Pfarrer, seine Großmutter Pfarrerstochter, und Diltheys Vater, Maximilian Dilthey (1804 – 1867), war reformierter Pfarrer, Kirchenrat, Dekan und nassauischer Oberhofprediger. Diltheys Mutter, Maria Laura Dilthey (1810 – 1887), kam aus einem künstlerischen Haus und war Tochter des herzoglichen Hofkapellmeisters Johann Peter Heuschkel. Dilthey hatte drei Geschwister: seine Schwester Marie (1836 – 1891) lebte nach kurzer Ehe wieder im Hause ihrer Eltern, sein Bruder Karl (1839 – 1907) war Professor der Archäologie und klassischen Philologie in Zürich und Göttingen, und seine Schwester Lily (1846 – 1920) war verheiratet mit Diltheys Freund, dem Bonner klassischen Philologen Hermann Usener (1834 – 1905).

      Wilhelm (Christian Ludwig) Dilthey wurde am 19. November 1833 in Mosbach-Biebrich am Rhein bei Wiesbaden im damaligen Herzogtum Nassau geboren. Dilthey besuchte ein Gymnasium in Wiesbaden und bestand 1852 die Reifeprüfung. Im Sommersemester 1852 begann er – dem Wunsch seines Vaters und der Familientradition folgend – ein Studium der Theologie an der Universität Heidelberg in der Absicht, ebenfalls den Beruf des Pfarrers zu ergreifen. Doch schon bald, das zeigen seine frühen Briefe, geht er auch philosophischen Interessen nach und hört bei dem später sehr bekannt gewordenen hegelianischen Philosophiehistoriker Kuno Fischer (1824 – 1907).

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      Nach drei Semestern in Heidelberg wechselt Dilthey zum Wintersemester 1853/54 an die Berliner Universität, wo er neben seinen theologischen Studien bei Karl Immanuel Nitzsch (1787 – 1868) und August Detlev Christian Twesten (1789 – 1876) u. a. auch Lehrveranstaltungen bei dem bekannten Philosophen Friedrich Adolf Trendelenburg (1802 – 1872), der Aristoteliker und entschiedener Hegel-Gegner war, dem Philologen August Boeckh (1785 – 1867) und dem Historiker Leopold von Ranke (1795 – 1886) besucht und die schon in Heidelberg vorgezeichnete Wendung zur Philosophie und Geistesgeschichte schon bald endgültig vollzieht.

      In Berlin erhält Dilthey die entscheidenden Anregungen, die die Ausrichtung und Entwicklung seines Lebenswerks bestimmen sollten. Es gibt ein sehr schönes, ebenso autobiographisch wie wissenschaftsgeschichtlich aufschlussreiches Textstück, in dem Dilthey die geistesgeschichtliche Konstellation anschaulich schildert, die in der zweiten Hälfte der fünfziger und beginnenden sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts an der Berliner Universität herrschte. Dieser Passus findet sich in dem Nachruf auf seinen Freund Wilhelm Scherer (1841 – 1886), einen seinerzeit bekannten positivistischen Literaturhistoriker und -wissenschaftler. Sehr lebendig und eindringlich beschreibt Dilthey in diesem Text, in dem er auch die ihn prägenden Lehrer und Anreger nennt, die Situation, in der er sich und mit ihm viele andere Vertreter seiner Generation während ihres Studium befanden und die durch das Spannungsverhältnis zwischen der in Berlin traditionsreichen historischen Schule, dem neu aus Frankreich und England kommenden Positivismus und Empirismus sowie den rasch expandierenden Naturwissenschaften charakterisiert war: „An der Berliner Universität überwogen damals noch von ihrer Gründung her die Geisteswissenschaften. Auf Wilhelm von Humboldt, Fr. A. Wolf, Schleiermacher, Hegel, Savigny als ihre nächsten Vorfahren blickten die Gelehrten zurück. Berlin war noch der Sitz der historischen Schule. Die am meisten hinreißenden Vorlesungen waren die von Ritter und Ranke, in denen der universale erdumspannde Geist empirisch-historischer Betrachtung, wie er von den Humboldts zuerst vertreten worden war, am reinsten sich ausdrückte. Indem Trendelenburg durch die Erkenntnis und die Verteidigung des Aristoteles die Kontinuität der

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      philosophischen Entwicklung aufzuzeigen und zu wahren strebte, erschien seine Richtung mit der historischen Schule einstimmig. Berlin war aber auch zweifellos der Mittelpunkt der germanistischen Studien, denen sich Scherer gewidmet hatte. Hier lebte und arbeitete noch Jacob Grimm, zuweilen sah man wohl die schlichte unbeschreiblich imponierende Gestalt durch den Tiergarten schreiten oder vernahm ihn in der Akademie, niemand kann den Eindruck vergessen, der ihn dort über den Bruder sprechen hörte. […] Aber die Jüngeren, die sich zu Berlin in den sechziger Jahren zusammenfanden und sich da ganz anders, als es heute in der Reichshauptstadt möglich wäre, aneinanderschlossen, hatten nun auch ihr eigenes Leben. Ein so spröder und stolzer Zug durch das gelehrte Wirken von Trendelenburg, Müllenhoff, Droysen hindurchging: sie haben doch ihre Schüler niemals einengen wollen. Unter diesen herrschte der Geist einer veränderten Zeit. Die Erfahrungsphilosophie, wie sie Engländer und Franzosen ausgebildet haben, wurde ihnen durch Mill, Comte und Buckle nahe gebracht, und von ihr aus formten sich ihre Überzeugungen. Die aufstrebenden Naturwissenschaften forderten eine Auseinandersetzung mit denselben, wollte man zu festen Ansichten gelangen.“ (XI, 242f.)

      Doch wurde – wie Dilthey zu verstehen gibt – seine anfängliche Aufgeschlossenheit oder gar Begeisterung für die moderne positivistisch-empiristische Erfahrungsphilosophie wieder relativiert oder zurückgenommen, denn die Beschäftigung mit der Romantik „regte freiere und der deutschen Wissenschaft gemäßere Betrachtungen über den Zusammenhang der Geschichte an, als Mill, Buckle und Comte gegeben hatten. Eine an Carlyle, Emerson, Ranke erzogene Vertiefung in große Persönlichkeiten lehrte ihre Rolle in der Geschichte anders beurteilen, als jene englischen und französischen Schriftsteller es getan haben.“ (XI, 243; vgl. auch V, 4)

      Auf Drängen seines Vaters legt Dilthey im Oktober 1855 sein theologisches Examen in Wiesbaden und im folgenden Jahr in Berlin sein philologisches Examen ab. Es folgt eine mehrjährige Lehrtätigkeit an Berliner Gymnasien, während der er aber seine wissenschaftlichen Projekte weiterbetreibt, die er schon in der Spätphase seines Theologie-Studiums mit der Absicht verfolgt hatte, eine Universitätslaufbahn einzuschlagen. Dilthey beschäftigt sich in diesen Jahren mit dem Plan, „Kirchen- u.

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      Dogmengeschichte zum Studium der Geschichte der christlichen Weltanschauung im Abendlande zu verknüpfen“. (BW I, 548) Insbesondere widmet er sich den frühchristlichen theologisch-philosophischen Systemen und der Gnosis, und er will aus diesem Forschungsfeld ein Dissertations-Thema wählen.

      Im Jahr 1859 beteiligt sich Dilthey, der sich schon seit einiger Zeit mit Schleiermacher und dessen wissenschaftlichen Nachlass beschäftigt hatte, an einer Preisaufgabe der Schleiermacher-Stiftung und gewinnt im Februar 1860 mit seiner großen Abhandlung Das eigentümliche Verdienst der Schleiermacherschen Hermeneutik ist durch Vergleichung mit älteren Bearbeitungen dieser