Helmut Danner

Methoden geisteswissenschaftlicher Pädagogik


Скачать книгу

lässt sich dennoch umreißen, was denn unter „Geisteswissenschaft“ zu verstehen sei. Am einfachsten ist zunächst eine negative Bestimmung, also was Geisteswissenschaft nicht ist: nämlich Naturwissenschaft. Auf einige unterscheidende Merkmale kommen wir noch zurück.

      Nun wird in der Regel nicht von der Geisteswissenschaft gesprochen, sondern von den Geisteswissenschaften, also von mehreren Wissenschaften, die sich als „geisteswissenschaftlich“ auszeichnen – wir können für unseren Zusammenhang sagen: die mit geisteswissenschaftlichen Methoden arbeiten. Zu den Geisteswissenschaften zählt man in der Regel die Folgenden: Philosophie, Sprachwissenschaften, Geschichte, Kunstwissenschaften, Rechtswissenschaft, Theologie, aber auch – unter bestimmten Voraussetzungen – Pädagogik, Psychologie und Soziologie. Dies sind also Wissenschaften, die in den (alten) philosophischen (philologisch-historischen), theologischen und juristischen Fakultäten gepflegt werden (Gadamer 1958, 1304). „Sie sind die Wissenschaften, die im Horizont der uns überhaupt zugänglichen geschichtlichen 22Zeit die Geschichte selbst, Sprache, Kunst, Dichtung, Philosophie, die Religionen, aber ebenso auch Dokumentationen persönlichen Lebens … zum Gegenstand haben und vergegenwärtigen“ (Ritter 1961, 17). Jene Wissenschaften haben zwar zum Teil selbst eine sehr lange Geschichte; ihr Selbstverständnis und ihre Begründung als „Geisteswissenschaften“ sind jedoch relativ jung und gehen auf das 19. Jahrhundert zurück.10 Dies hängt nicht zuletzt mit der Absetzung von den Naturwissenschaften zusammen.

      Es war vor allem W. Dilthey (1833–1911), der dem Wissenschaftsverständnis der Naturwissenschaften ein geisteswissenschaftliches entgegensetzen wollte. Für die geisteswissenschaftliche Pädagogik ist er der maßgebliche Denker; denn neben dem Versuch einer Begründung der Geisteswissenschaft überhaupt und einer geisteswissenschaftlichen Psychologie legte er den Grundstein für eine geisteswissenschaftliche Pädagogik.11 Dilthey selbst war beeinflusst von I. Kant (1724–1804); analog zu dessen „Kritik der reinen Vernunft“ forderte er eine „Kritik der historischen Vernunft“ (Dilthey VII, 1961, 191). Weiterhin steht hinter der Polarität von Natur- und Geisteswissenschaften die Natur-Geist-Philosophie des Deutschen Idealismus. [J. G. Fichte (1762–1814), F. W. J. Schelling (1775–1854), G. W. F. Hegel (1770–1831) sind Hauptvertreter des Deutschen Idealismus.] Dessen spekulatives Denken lehnte jedoch Dilthey strikt ab. Über Dilthey ist vor allem auch F. Schleiermacher (1768–1834) für die geisteswissenschaftliche Pädagogik fruchtbar geworden. „Das gilt u. a. für die von Schleiermacher gewonnenen Einsichten über das Verhältnis von Theorie und Praxis, Ethik und Pädagogik, Pädagogik und geschichtlich-gesellschaftlicher Wirklichkeit und für Schleiermachers Einsichten in die dialektische Struktur des pädagogischen Geschehens und Handelns“ (Kiel 1967, 802).

      In die Grundlegung der geisteswissenschaftlichen Pädagogik durch Dilthey geht zunächst sein lebensphilosophischer Ansatz ein. „Lebensphilosophie“ bedeutet, dass das „Leben“ als einheitlicher, nicht mehr hinterfragbarer Grund von allem gesehen wird; es geht um Unmittelbarkeit, um das schöpferische im Gegensatz zu einem rein spekulativen Denken. Nach Dilthey setzt geisteswissenschaftliche Erkenntnis an beim Erleben des Menschen, auch bei dessen Geschichte. „Die einzelnen Erscheinungen im Reiche der Geschichte lassen sich, das ist seine These, nicht von außen her erklären wie physikalische Vorgänge, sondern nur von innen her verstehen, d. h. von einer erlebenden Seele als Ausdruck eines Inneren auffassen, das ebenfalls erlebt und versteht. Dabei wird das Ganze nicht erst aus Elementen aufgebaut, sondern die 23Einzelerscheinungen sind bereits als ganzheitliches Gefüge, als Struktur gegeben und werden aus der Ganzheit heraus verstanden. Seelenleben verstehen heißt also ganzheitliche Gefüge erfassen, beschreiben und zergliedern“ (Reble 1975, 344).

      Hinter der Dilthey’schen Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaft steht, wie gesagt, die Philosophie des Deutschen Idealismus, die zwischen Natur und Geist unterscheidet. Die Geisteswissenschaft hat es demnach nicht mit „Natur“ zu tun, sondern mit „Geist“, „Geistigem“. Es stellt sich die Frage, was unter „Geist“ zu verstehen sei. Nun macht uns auch der Geist-Begriff – ähnlich wie der Begriff „Geisteswissenschaft“ – erhebliche Schwierigkeiten, ihn eindeutig zu bestimmen (Hist. Wb. Philos., Band 3, 154–207, zeigt unter dem Stichwort ‚Geist‘ die Vielfalt dieses Begriffes.). In unserem Zusammenhang geht er streng genommen auf die Philosophie G. W. F. Hegels (1770–1831) zurück; verschiedene Vertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik berufen sich auch auf sie. So kann etwa bei E. Spranger mit gutem Recht von „Geistes“-Wissenschaft gesprochen werden, da er sich ausdrücklich auf die „Philosophie des Geistes“ bezieht. Spranger macht aber eigenständige Ergänzungen, um das spezifisch Pädagogische hervorzuheben. Der streng philosophische Geistbegriff wird also uminterpretiert. [Spranger (1973, 146ff) unterscheidet vier Geist-Begriffe: den objektivierten, objektiven, normativen und subjektiven Geist.]

      Nun wäre aber geisteswissenschaftliche Pädagogik zu eng verstanden, wenn man sie prinzipiell auf den Hegel’schen Geistbegriff, an den sich Spranger anlehnt, festlegen wollte. Unter anderem wird dies daran sichtbar, dass auch Ansätze der so genannten Existenzphilosophie in die Geisteswissenschaften Eingang gefunden haben, so etwa durch O.F. Bollnow in die Pädagogik; die spekulative Geist-Philosophie Hegels steht aber in vieler Hinsicht in konträrem Gegensatz zur so genannten Existenzphilosophie. Hält man sich darum die große Spannweite dessen, was sich alles als „Geisteswissenschaft“ versteht, vor Augen, dann scheint es besser, auf die Begriffe „Geist“ und „Geisteswissenschaft“ ganz zu verzichten.

      Aber in der Praxis wird „Geisteswissenschaft“ übereinstimmend als Sammelbegriff, als Etikett verwendet, um eine bestimmte Art von Wissenschaft damit anzuzeigen. Gemeint sind Wissenschaften, die in einem bestimmten Sinn vom Menschen handeln. So heißen die „Geisteswissenschaften“ im Englischen „humanities“ und im Französischen „sciences humaines“ (Diemer 1974, 212f). Es geht bei ihnen um die humanitas, um das Menschliche, um dasjenige, was den Menschen zum 24Menschen macht. Hierfür kann nun auch losgelöst von der Geist-Philosophie des Deutschen Idealismus die Chiffre „Geist“ verwendet werden. Denn dasjenige, was den Menschen gegenüber dem Naturding und dem Tier auszeichnet, ist „Geist“. Durch ihn wird der Mensch befreit aus den rein kausalen Bezügen;‘ er kann und muss zu seinem Leben Stellung nehmen; er muss sich entscheiden; Gestaltung des Daseins, Orientierung an Qualität und Werthaftem sind Kennzeichen und Folge menschlichen „Geistes“. Fasst man den „Geist“ in einem solch weiten und humanen Sinn, dann wird die „Geisteswissenschaft“ in der Dilthey’schen Ausprägung zu einem bestimmten historischen Typ dieser Wissenschaftsrichtung. Entsprechend kann dann „geisteswissenschaftliche Pädagogik“ auch andere Formen und Inhalte annehmen, als sie Dilthey bestimmt hat. Auch im Rahmen der Hermeneutik wird sich zeigen, dass „geisteswissenschaftliche Pädagogik“ nicht mit der so genannten Dilthey-Schule identisch ist.

      Einige wohl gleich bleibende Kriterien lassen sich jedoch für die geisteswissenschaftliche Pädagogik angeben. Ein Erstes ist mit der Geschichtlichkeit des Menschen gegeben. Diese besagt zwar auch, dass der Mensch eine Vergangenheit, eine Entwicklung hat, dass es also menschliche Dinge und Ereignisse gibt, die vorüber sind und die man daher nachträglich erforschen und festhalten kann. Der Mensch aber hat nicht nur diese faktisch feststellbare Geschichte, er ist sie auch. Damit ist gemeint, dass jeder von uns eingeflochten ist in seine Vergangenheit, dass diese ihn in seinem Handeln und Denken immer mit bestimmt, ob er will oder nicht, und mehr noch: dass alles, was ich heute tue und unterlasse, Folgen hat, die auf mich zurückfallen, d. h.: ich bin dafür verantwortlich. In diesem Sinne lebe ich nicht nur aus meiner Geschichte, sondern „mache“ sie auch. Geschichtlichkeit kann darum nicht zusätzlich und beliebig in (pädagogische) Überlegungen einbezogen werden; sie ist vielmehr konstitutiv für das Wesen des Menschen. „Die geschichtliche Welt ist immer da, und das Individuum betrachtet sie nicht nur von außen, sondern es ist in sie verwebt … Wir sind zuerst geschichtliche Wesen, ehe wir Betrachter der Geschichte sind, und nur weil wir jene sind, werden wir zu diesen“ (Dilthey 1961, VII, 277f).

      Ein entscheidender Gesichtspunkt von Geschichtlichkeit ist Folgender: Der Mensch lebt nur in einem Hier und einem Jetzt, also in einer bestimmten räumlichen Umgebung und in einer bestimmten Zeit; er ist eingebunden in seine gesellschaftliche und historische Umwelt, wenn auch nicht davon determiniert. Es ist ein Verdienst der Lebensphilosophie und damit auch Diltheys, die Realität gegenüber der reinen