Pädagogik hat es zum einen zu tun mit der Geschichte von Erziehung und Bildung, aber eben nicht nur, insofern es in vergangenen Zeiten pädagogische Gedanken und Theorien gegeben hat, sondern auch insofern sich darin Einmaliges und Individuelles ausdrücken. Zum anderen muss dieses Einmalige darum selbst zum Gegenstand der pädagogischen Reflexion gemacht werden. Denn Erziehung und Bildung haben es nicht mit genormten Menschen zu tun, sondern mit Individuen. Mit der Theorie vom „pädagogischen Bezug“ (H. Nohl) und dem Beachten der pädagogischen Verantwortung (z. B. W. Flitner, E. Weniger) hat die geisteswissenschaftliche Pädagogik unter anderem diesen Aspekten Rechnung getragen.
Ebenso wie der Gedanke der Geschichtlichkeit geht der von der Ganzheit auf W. Dilthey zurück. Mit Ganzheit ist bei ihm zunächst ein psychologisches Moment gemeint, nämlich die „Teleologie des Seelenlebens“. Diese bedeutet, dass jedes einzelne Psychische eingeordnet ist in einen größeren seelischen Zusammenhang. Dieser ergibt sich aus einer Geordnetheit, Strukturiertheit und Zielstrebigkeit des Seelenlebens. 13 Heute mag der psychologische Ansatz Diltheys überholt sein. Richtig bleibt jedoch, dass es in der Erziehung und Bildung immer um den ganzen Menschen geht, um die Einheit von „Denken, Fühlen und Wollen“. Mit diesem Gedanken verbindet sich ein weiterer: Die jeweilige Erziehungssituation steht in einem geschichtlichen und ganzheitlichen Zusammenhang, der nicht nur durch den Zögling gegeben ist, sondern auch durch den Erziehungsauftrag. Mit anderen Worten: Jede Erziehung verfolgt ein übergreifendes Ziel; mit der Zielvorstellung werden aber gleichzeitig ein bestimmtes Menschenbild und bestimmte Werte angestrebt; es ist immer ein Erziehungssinn, letztlich ein Lebenssinn leitend. Hiermit sind nun qualitative Momente angesprochen, die mit rein naturwissenschaftlichen, quantifizierenden Methoden nicht erfasst werden können, die aber im Rahmen der Pädagogik reflektiert werden müssen.
Sinn-, Wert-, Zielfragen verweisen auf einen größeren Zusammenhang, der das Erziehungsgeschehen übersteigt: auf Kultur und Gesellschaft . Diese sind ein Generalthema der geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Es ist daher nicht einsichtig, wenn ihr insbesondere von der so genannten kritischen Erziehungswissenschaft vorgeworfen wird, sie würde die gesellschaftlichen Zusammenhänge negieren und sich auf 26das Individuum konzentrieren. Allerdings glauben die Vertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik nicht an die Allmacht der Gesellschaft, an die ausschließliche Gesellschaftsbedingtheit. Aber sie haben immer den Wechselbezug von Einzelnem und Gesellschaft, von Individuum und Kultur reflektiert. So heißt es beispielsweise bei W. Flitner (1969, 375): Der Gegenstand der wissenschaftlichen Pädagogik „muss insofern universal sein, als er das gesamte menschliche Leben umfaßt, das kulturelle und gesellschaftliche wie das biographische Geschehen im einzelnen, aber bezogen auf das erzieherische Phänomen“. Die geisteswissenschaftliche Pädagogik betont also „die Verflechtung der individuellen seelischen Struktur mit den objektiv-geistigen Sinnbezügen (Kulturbereichen) und die Einordnung aller Einzelerscheinungen in die geschichtlich-kulturell-gesellschaftliche Gesamtlage und -entwicklung. “14
Ein weiteres Kriterium der Geisteswissenschaften und somit der geisteswissenschaftlichen Pädagogik stellt die Überzeugung dar, dass in jede Erkenntnis der Erkennende mit eingeht. „Im Prozess des geisteswissenschaftlichen Erkennens stehen Subjekt und Objekt innerhalb der Erkenntnisrelation in einem ‚Lebensbezug‘, weil beide dem werdenden Zusammenhang der geschichtlichen Wirklichkeit angehören“ (Schwarz 1957, 182, 191). Damit ist gemeint, dass der Mensch nicht aufhören kann, ganz er selbst zu sein, wenn er denkt und wenn er Wissenschaft betreibt. So bezeichnet R. Schwarz die Erkenntnis „als totalen Akt der Gesamtperson“ (Schwarz 1957, 193). Zum ganzen Menschen, zur Gesamtperson gehört aber, dass jeder von uns – bewusst oder unbewusst – von Grundüberzeugungen, von weltanschaulichen Vorentscheidungen geleitet ist. Damit sind nun einem blinden Irrationalismus und einer weltanschaulichen Willkür in der Wissenschaft nicht das Wort geredet. Es wird von den Geisteswissenschaften jedoch geleugnet, dass Wissenschaft „rein“, also völlig voraussetzungslos möglich sei; die Voraussetzungen sollen aber so weit wie möglich benannt werden. Hierher gehören die Fragen nach der Voraussetzungslosigkeit, Allgemeingültigkeit und Objektivität der Wissenschaft (siehe 2.1.2). Die Berücksichtigung der Voraussetzungen und Bedingungen der Erkenntnis hat den Geisteswissenschaften – insbesondere vom analytisch-positivistisch orientierten Wissenschaftstyp – den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit eingebracht.15 Wir können und wollen in diesen Prinzipienstreit hier nicht eingreifen, hoffen aber, dass durch die nachfolgende Erörterung der geisteswissenschaftlichen Methoden die Möglichkeit und Berechtigung geisteswissenschaftlichen Vorgehens deutlich werden wird.
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In Stichpunkten wollen wir einige Gesichtspunkte festhalten, die geisteswissenschaftliche und naturwissenschaftliche Wissenschaft voneinander unterscheiden: „Geist“ und „Natur“ stehen sich gegenüber. „Geist“ manifestiert sich in Geschichte und Geschichtlichkeit; „Natur“ dagegen wird erhellt in „Wissenschaft“. Vom Blickwinkel dieser NaturWissenschaft aus ist Geistes-Wissenschaft keine Wissenschaft; wir müssen dagegenhalten: Sie ist lediglich eine Wissenschaft anderer Art. Während nämlich die Naturwissenschaft, z.B. die Physik, aus ist auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten, befasst sich Geisteswissenschaft mit geschichtlichen, anthropologischen Grundstrukturen. Das Auffinden von Gesetzmäßigkeiten beruht auf der Beschäftigung mit positiv Gegebenem (Positivismus!), mit quantitativen Momenten; Geisteswissenschaft hat dagegen qualitative Momente zum Inhalt, wie etwa Sinn, Wert, persönliche Einmaligkeit, Schönheit etc. Naturwissenschaft kann darum messen, zählen, wiegen, um zu Ergebnissen zu kommen, während Geisteswissenschaft auf Hinschauen, Beschreiben, Deuten angewiesen ist. Die Zusammenhänge sind im naturwissenschaftlichen Bereich kausal, d. h. auf eine bestimmte Ursache folgt immer eine bestimmte Wirkung; Geisteswissenschaften haben es dagegen mit Sinn-Zusammenhängen zu tun. Dort sind Beweise möglich, hier „nur“ Hinweise . Das eine Vorgehen muss „exakt“, das andere dagegen muss „streng“ sein, um als wissenschaftlich zu gelten (Diemer 1975; Flitner 1949).
Damit sind einige Kennzeichen der geisteswissenschaftlichen Pädagogik genannt. Darüber hinaus sei noch darauf hingewiesen, dass geisteswissenschaftliche Pädagogik nicht verwechselt werden sollte mit normativer Pädagogik. Diese gehört philosophisch gesehen der Richtung des Neukantianismus an; ihr Generalthema ist das „Sollen“ in der Erziehung und die Bemühung um die Begründung von Normen (Lassahn 1976, 94–112; Schurr 1976). Das heißt nicht, dass in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik Norm- und Zielfragen ausgeklammert würden; sie legt jedoch ihren Schwerpunkt – im Gegensatz zur normativen Pädagogik – auf die Erziehungswirklichkeit und deshalb auch auf das Theorie-Praxis-Verhältnis.
Ebenso ist geisteswissenschaftliche Pädagogik nicht gleichzusetzen mit philosophischer Pädagogik. Zwar reflektiert sie auf philosophische Weise; ihr Anliegen besteht aber gerade auch darin, die Autonomie der Pädagogik als Wissenschaft zu begründen. Es gibt eine Reihe anderer Ansätze philosophisch orientierter Pädagogik, die wenig mit „geisteswissenschaftlicher“ Pädagogik zu tun haben, so etwa die Orientierung 28an Hegel, Kant oder an der so genannten Existenzphilosophie, wobei Letztere besonders durch O. F. Bollnow für die geisteswissenschaftliche Pädagogik fruchtbar gemacht worden ist. Schließlich ist diese Pädagogik auch abzugrenzen gegen die so genannte kritische Erziehungswissenschaft ; geisteswissenschaftliche Pädagogik versteht sich im Gegensatz zu dieser nicht als Sozialwissenschaft; ihr Anliegen ist weder primär soziologisch noch politisch, sondern pädagogisch; ihr geht es in erster Linie um Erziehung und Bildung und nicht um Gesellschaftsveränderung (Uhle 1976; Gaßen 1978). Wir werden bei der Behandlung der Methoden nur auf die geisteswissenschaftliche Pädagogik eingehen, nicht auch auf die so genannte kritische Erziehungswissenschaft.
Es war hier unmöglich, einen systematischen und historischen Aufriss all dessen zu geben, was man unter geisteswissenschaftlicher Pädagogik versteht. Um wenigstens einen gewissen Überblick über die wichtigsten Vertreter zu vermitteln, stellen wir diese auf einer gesonderten Tafel vor (Abb. 2) und beschränken uns auf die „Klassiker“ dieser Richtung. Wir führen dort gleichzeitig jeweils die allerwichtigsten Schwerpunkte des Werks der einzelnen Pädagogen mit an, wodurch stichwortartig auch die Inhalte der geisteswissenschaftlichen Pädagogik sichtbar werden. Die Zuordnung einzelner Vertreter ist nicht immer eindeutig; so zählt A. Reble unter anderem