Helmut Danner

Methoden geisteswissenschaftlicher Pädagogik


Скачать книгу

unter die geisteswissenschaftlichen Pädagogen erscheint gerechtfertigt durch seine Schülerschaft zu T. Litt, durch sein phänomenologisches Vorgehen und durch seine eigenen wissenschaftstheoretischen Reflexionen. 17

      Im Verlauf unserer Methodenüberlegungen werden wir immer wieder von Bildung und Erziehung sprechen müssen. Darum scheint es angebracht, aus dem Bereich der geisteswissenschaftlichen Pädagogik exemplarisch einen Erziehungs- und einen Bildungsbegriff vorzustellen, um eine Orientierung für das Folgende zu geben. Denn bekanntlich gibt es die unterschiedlichsten Erziehungs- und Bildungsbegriffe.

      R. Meister (1881–1964) formulierte 1946 einen weit und allgemein gefassten Erziehungsbegriff, er lautet:

      „Erziehung ist die planmäßige Führung, die die erwachsene Generation der heranwachsenden bei ihrer Auseinandersetzung mit der überkommenen Kultur angedeihen läßt …“ (Meister; zit. Ballauf/Schaller 1974, 683).

      29

e9783838509471_i0004.jpg

      30

      Dreierlei scheint uns hier wichtig zu sein:

      1. Bei Erziehung handelt es sich um ein Verhältnis zwischen „heranwachsender“ und „erwachsener“ Generation; es besteht also ein Verhältnis zwischen solchen, die Hilfe benötigen und solchen, die diese geben können; man spricht hierbei von „pädagogischem Gefälle“, das jedoch kein unterdrückendes Herrschaftsverhältnis ist, sondern sich vielmehr durch Verantwortung legitimiert.

      2. Erziehung soll planmäßige Führung sein; sie geschieht also nicht zufällig, nebenbei und nur durch die „Umstände“; sie wird vielmehr bewusst und verantwortlich übernommen. Dabei beruht „Führung“ auf einem personalen Vertrauensverhältnis zwischen Erzieher und Zögling (en), wobei nicht gegängelt wird, sondern alles auf die vertrauende und (später) auch einsichtige Zustimmung des Zöglings ankommt.

      3. Es handelt sich um Auseinandersetzung mit der überkommenen Kultur, nicht um ein bloßes Übernehmen und Reproduzieren von Kultur, die von äußerlichen Verhaltensweisen über Sprache Fertigkeiten, Wissenschaft usw. bis zu Grundüberzeugung reicht.

      Der Erziehungsbegriff von Meister wird von W. Flitner (1972, 60) inhaltlich gefüllt. Es sollte auch deutlich geworden sein, dass der Vorwurf gegen die geisteswissenschaftliche Pädagogik, sie fördere nur die Reproduktion der bestehenden Gesellschaftsverhältnisse, nicht haltbar ist (Broecken 1975, 244; Spranger 1966, 318f).

      Als Beispiel für einen Bildungsbegriff zitieren wir die Ausführungen E. Sprangers (1968, 24ff). Auch er definiert sehr allgemein:

      „Bildung ist die durch Kultureinflüsse erworbene, einheitliche und gegliederte, entwicklungsfähige Wesensformung des Individuums, die es zu objektiv wertvollen Kulturleistungen befähigt und für objektive Kulturwerte erlebnisfähig (einsichtig) macht.“

      Diesen verdichteten Satz erläutert Spranger wie folgt:

      Bildung „ist Wesensformung des Individuums; denn bloß vorübergehende Eigenschaften würden wir nicht als Bildung ansehen … Bildung ist ferner einheitlich und gegliedert, d. h. vielseitig und doch geschlossen. Einen Menschen von ganz einseitiger Seelenkultur würden wir nicht gebildet nennen; aber auch nicht den Vielseitigen, der nach allen Seiten umrißlos auseinander fließt und keinen Mittelpunkt, kein festes Wesen, keine Form hat.“ Echte Bildung enthält „immer Entwicklungsfähigkeit und Weiterwachsen, weil sie selbst ja im Grunde nichts ist als ein veredeltes Entwicklungsergebnis. Diese Veredlung wird gewonnen 31durch Kultureinflüsse … In den Kultureinflüssen selbst ist ein objektiver Wertgehalt gegeben …“ Sie machen den Menschen „einerseits fähig, Kulturgehalt zu verstehen …; andererseits erwecken sie in ihm selbst wertschaffende Kräfte, die das Verstehen und das Erlebnis wieder in objektive Kulturwerte (Leistungen) umsetzen … Es muß für diese erlebenden und schaffenden Kräfte auch ein persönlicher Mittelpunkt da sein, und indem die Kulturwerte auf diesen einheitlich bezogen werden, erhöht sich die rohe Individualität zur geformten Individualität oder zur voll gebildeten Persönlichkeit.“

      Erziehung und Bildung wollen wir nicht eingeschränkt sehen auf den schulischen Bereich, wenngleich aus der pädagogischen Literatur häufig der Eindruck entsteht, als gäbe es nur diesen. Man könnte eher umgekehrt die Frage stellen, inwiefern unsere Schulen überhaupt in der Lage sind, zu erziehen und zu bilden. Außerdem sollen Erziehung und Bildung hier nicht in einem Über- und Unterordnungsverhältnis gesehen werden; beide sind gleich wichtige Vorgänge der Menschwerdung und des Menschseins, die allerdings eng zusammengehören (Menze 1970, 158).

      Wir gingen der Frage nach, was denn geisteswissenschaftliche Pädagogik sei, mit deren Methoden wir uns befassen wollen. Die einzelnen Gesichtspunkte, die sich ergeben haben, wollen wir uns nochmals vergegenwärtigen.

      „Geisteswissenschaft“ ist als Begriff zunächst mehrdeutig und in ihrem Wissenschaftscharakter umstritten.

      Als Geisteswissenschaften bezeichnet man die Wissenschaften der früheren philosophischen, theologischen und juristischen Fakultäten.

      Unter dem Einfluss von I. Kant, dem Deutschen Idealismus und vor allem von F. Schleiermacher konzipierte W. Dilthey eine Theorie der Geisteswissenschaften, die er den Naturwissenschaften entgegensetzte .

      Lebensphilosophie, geisteswissenschaftliche Psychologie und Geschichtlichkeit sind hierbei die wichtigsten Ansatzpunkte für Dilthey. Er ist auch der Begründer der geisteswissenschaftlichen Pädagogik.

      Der Geist-Begriff im Hegel’schen Sinn trifft im Rahmen der „geistes“-wissenschaftlichen Pädagogik nur für einige Vertreter zu; zum Teil ist er eher irreführend. Unter Geist soll hier ganz allgemein dasjenige verstanden werden, was den Menschen gegenüber dem Naturding und dem Tier auszeichnet. Dadurch wird auch „geisteswissenschaftliche Pädagogik“ von der Dilthey-Tradition unabhängig.

      32

      Charakteristische Gesichtspunkte geisteswissenschaftlicher Pädagogik sind: Geschichtlichkeit, insofern der Mensch Geschichte als feststellbare, vergangene Fakten hat und insofern er Geschichte ist, weil er frei und verantwortlich handeln kann; die Einmaligkeit, das Individuelle in jedem Einziehungs- und Bildungsvorgang; Ganzheit und Struktur des persönlichen und des geschichtlich-kulturell-gesellschaftlichen Lebenszusammenhangs; Ziel-, Wert-, Sinnfragen im Hinblick auf Erziehung und Bildung; Erziehungswirklichkeit, Theorie-Praxis-Verhältnis sowie Autonomie der Pädagogik.

      Am meisten ist geisteswissenschaftliche Pädagogik deshalb umstritten, weil sie die Möglichkeit einer voraussetzungslosen, „reinen“ Wissenschaft leugnet; sie betrachtet vielmehr die Erkenntnis als „Akt der Gesamtperson“ (R. Schwarz), somit auch als bedingt durch deren existenzielle Grundentscheidungen.

      Geisteswissenschaftliche Pädagogik ist abzugrenzen gegen die normative und eine „philosophische“ Pädagogik und gegen die so genannte kritische Erziehungswissenschaft.

      „Klassische“ Vertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik sind: Dilthey, Frischeisen-Köhler, Spranger, Litt, Nohl, W. Flitner, Weniger, Meister, Kerschensteiner, Bollnow, Langeveld.

      Als allgemeine Definition von Erziehung im Sinne der geisteswissenschaftlichen Pädagogik kann die von R. Meister gelten: „Erziehung ist die planmäßige Führung, die die erwachsene Generation der heranwachsenden bei ihrer Auseinandersetzung mit der überkommenen Kultur angedeihen lässt.“

      Definition von Bildung durch E. Spranger: „Bildung ist die durch Kultureinflüsse erworbene, einheitliche und gegliederte, entwicklungsfähige Wesensformung des Individuums, die es zu objektiv wertvollen Kulturleistungen befähigt und für objektive Kulturwerte erlebnisfähig (einsichtig) macht.“

      Vor diesem Hintergrund müssen wir nun die Forschungsmethoden der geisteswissenschaftlichen Pädagogik sehen. Nach dem Gesagten lässt