jünger sie sind und je höher ihre Schulbildung ist. Grenzkontrollen sind selten geworden, Urlaub, Praktika und Berufstätigkeit im Ausland sowie der tägliche Kontakt mit Bekannten in anderen Erdteilen über Facebook oder andere soziale Netzwerke dafür umso häufiger.
Damit verliert auch die Ausrichtung der Geschichtswissenschaft an der Nation und ihren Grenzen viel von ihrer Selbstverständlichkeit –ob und unter welchen Bedingungen sie dennoch sinnvoll ist, bleibt zu diskutieren. Bestimmten vor einer Generation Veranstaltungen und Bücher zur deutschen, vielleicht auch einmal zur französischen oder britischen, noch seltener zur europäischen Geschichte die meisten Vorlesungs- und Publikationsverzeichnisse, so sehen sich Studierende und historisch Interessierte heute immer häufiger mit Angeboten konfrontiert, die entweder Regionen in den Fokus nehmen, also unterhalb der nationalen Ebene bleiben, oder über den nationalen Rahmen hinausweisen.
Diese Entwicklung hat in den letzten Jahren zu einem neuen Blick auf die Vergangenheit geführt, der neue Fragen aufwarf, neue Forschungsfelder erschloss, aber auch Altbekanntes für neue Interpretationen öffnete. Dies alles macht die Geschichtswissenschaft noch spannender, als sie ohnehin schon ist. Transnationale Geschichtsschreibung, Geschichtsschreibung also, die danach strebt, nationale Grenzen empirisch und methodisch zu transzendieren, ist einer der Bereiche der Geschichtswissenschaft, der zurzeit am stärksten expandiert. Zumindest transnationale Bezüge dürfen in keiner anspruchsvollen Arbeit fehlen, so wird häufig gefordert. Zugleich ist sie ein ausnehmend anspruchsvoller Zugang, der hohe Anforderungen an die Selbstreflexion der Historiker stellt.
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Hier will diese Einführung Hilfestellungen leisten, einige Schneisen durch das mittlerweile recht unübersichtlich gewordene Theorieangebot schlagen und vor allem zum Weiterdenken einladen. Sie kann nicht die Beschäftigung mit den Originaltexten ersetzen, sondern allenfalls den Weg zu ihnen erleichtern. Dementsprechend liegt das Schwergewicht nicht auf der Vermittlung von Faktenwissen, sondern auf der Erörterung von Problemen.
Das einleitende erste Kapitel blickt zurück auf die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts und zeigt, dass die wissenschaftliche Historiografie und der Aufstieg der Nation zur zentralen Interpretationskategorie nicht nur zeitgleich entstanden, sondern auch in so hohem Maße aufeinander verwiesen, dass eines ohne das andere weder bestehen noch verstanden werden konnte. Nur vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass der Ansatz der transnationalen Geschichte letztlich nichts weniger bedeutet als ein Neudenken der methodischen Grundlagen des Fachs.
Das zweite Kapitel wendet sich den Forschungsfeldern zu, in denen traditionell mehr als eine Nation in den Blick genommen wurde: die Geschichte der Außenpolitik und die Diplomatiegeschichte, die Untersuchungen zum Imperialismus und die Komparatistik. Hier zwang der Gegenstand selbst die Forschungen, über nationale Grenzen hinauszugehen; ob und inwieweit sie die Nation als Leitkategorie der Geschichte damit in Frage stellten oder unter Umständen sogar verstärkten, wird zu fragen sein.
Das dritte Kapitel widmet sich den aus meiner Sicht wichtigsten Theorieangeboten der letzten Jahre und versucht sie in einem systematischen Zusammenhang darzustellen. Das Ziel ist nicht, einen vollständigen Katalog aller jemals vertretenen Ansätze aufzustellen, sondern Probleme der transnationalen Geschichtsschreibung aufzuzeigen und Lösungsangebote zu vergleichen. Wenn Leserinnen und Leser zu anderen Schlussfolgerungen kommen –umso besser. Die Geschichtswissenschaft lebt von der Diskussion und vom Widerspruch.
Das vierte Kapitel stellt exemplarisch ausgewählte Forschungsfelder vor, in denen die Methoden der transnationalen Geschichtsschreibung bereits erprobt wurden–ob sie sich ausdrücklich|8◄ ►9| auf die laufende Diskussion beziehen oder nicht. Auch hier ist das Interesse ausschließlich ein methodisches: Wie lösen Autoren und Autorinnen in ihrer empirischen Arbeit die Probleme, die im vorigen Kapitel theoretisch erörtert wurden? Was können künftige transnationale Historikerinnen und Historiker davon lernen, wo liegen Schwierigkeiten? Ganz ausdrücklich handelt es sich hierbei weder um einen Entwurf für eine transnationale Weltgeschichte noch um Vorschläge, wie man die bisherigen Forschungsfelder von Politik-, Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte in Zukunft systematisch aus transnationaler Sicht umschreiben könnte.
Das fünfte Kapitel stellt die Frage, wie transnationale Geschichte mit dem Problem der Vielsprachigkeit umgeht–mit den unterschiedlichen Sprachen der Quellen, aber auch der Frage nach der Übersetzung von Begriffen aus der Quellensprache in die Sprache der Geschichtsschreibung.
Ein Wort noch zur Auswahl der Fallbeispiele. Leserinnen und Leser werden sich vielleicht wundern, dass Indien häufiger vorkommt, als sie es in einer Einführung erwartet hätten und sich fragen, warum nicht ein größeres Gleichgewicht zwischen den Regionen angestrebt wurde. Dies hat zum einen subjektive Gründe –der indische Subkontinent ist das Gebiet, in dem ich mich am besten auskenne und über das ich mit der größten Sicherheit schreiben kann. Darüber hinaus aber geht es mir nicht um eine flächendeckende Darstellung der Ergebnisse der Area Studies, wohl aber darum aufzuzeigen, dass Theoriebildung schon lange nicht mehr ausschließlich von Europa aus erfolgt. Dafür ist die indische Geschichtsschreibung–Stichwort Post-colonial Studies–ein eindrucksvolles Beispiel.
2. Geschichtsschreibung als nationale Aufgabe
Beeinflusst vor allem durch die fast zeitgleich erschienenen Werke von Benedict Anderson, Imagined Communities (dt.: Die Erfindung der Nation, 1988), Eric Hobsbawm, The Invention of Tradition und Ernest Gellner, Nations and Nationalism (alle drei 1983) hat sich |9◄ ►10| heute in der Forschung ein konstruktivistischer Begriff der Nation durchgesetzt. Dies bedeutet zum Ersten, dass die Nation nicht eine vorgegebene, gewissermaßen natürliche Größe ist, die es lediglich zu erkennen gilt, sondern ein Begriff, mit dessen Hilfe Menschen ihre Umwelt ordnen.
Konstruktivismus
Wissenschaftstheoretische Richtung, die davon ausgeht, dass menschliche Vorstellungen und Begriffe die Wirklichkeit nicht passiv abbilden, sondern aktiv ordnen und erschaffen. Hierbei handelt es sich nicht um einen individuellen, sondern um einen sozialen Prozess.
Diesen konstruierten Charakter teilt sie mit anderen sozialen Kategorien wie etwa der Klasse oder dem Geschlecht. Zum Zweiten ergibt sich hieraus, dass das Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit sich nicht von selbst einstellt, sondern einer Vorstellung von Gemeinsamkeit (Anderson, 1991, S. 7), von geteilten Eigenschaften, bedarf. Dabei werden bestimmte Eigenschaften für bedeutsam erklärt und allen Nationsangehörigen zugeschrieben, andere hingegen als unwesentlich heruntergespielt. Die Vorstellung der Nation beinhaltet also immer einen Akt der Homogenisierung nach innen und der Differenzbildung nach außen. Zum Dritten gewinnen diese Vorstellungen an Überzeugungskraft, indem sie in Praktiken umgesetzt werden. Dies können inszenierte Rituale sein, wie etwa die Sedanfeiern im deutschen Kaiserreich, die Parade und das Feuerwerk zum 14. Juli in Frankreich oder die Last Night of the Proms in England, die mit dem hingebungsvollen gemeinschaftlichen Singen von »Rule, Britannia!« endet. Es können aber auch Institutionen wie der Militärdienst oder die Grenzkontrolle sein oder sogar das Lesen der gleichen Romane oder Zeitungen.
Die Nation als Konstrukt, als Vorstellung und als inszenierte Praxis ist nun aber nur begrenzt gleichzusetzen mit ihrer ›Erfindung‹ und noch weniger impliziert es die Idee von der Nation als etwas Irrealem. Insofern ist der Titel von Andersons Werk etwas |10◄ ►11| unglücklich ins Deutsche übersetzt worden. ›Erfindung‹ suggeriert sowohl einen Nullpunkt, gewissermaßen eine Schaffung aus dem Nichts, als auch die Freiheit, sich so oder anders entscheiden zu können. Beides ist im Falle der Hervorbringung der Nation für den einzelnen Akteur oder auch für eine Gemeinschaft von Akteuren nur begrenzt gegeben, da sie nur selten eine Position außerhalb ihrer eigenen Geschichte einnehmen können, in der sie nicht von vorgängigen Konstruktionen und Denkmustern geprägt sind. Dies macht die Nation nicht erneut zu einer vorgegebenen, zu einer objektiven Größe. Was aber vorangegangene Generationen konstruiert und praktiziert haben, ist den Akteuren vorgegeben, ob es die Schulbücher und Erzählungen sind, mit denen sie aufwachsen, die Feiern und Paraden oder eine bestimmte nationale Sprache, die ihr Denken prägt. Hierzu müssen sie sich verhalten–ob sie die Konstruktionen nun in der eigenen Vorstellung aktualisieren und damit gewissermaßen die Nation aufs Neue hervorbringen oder ob sie sie modifizieren,