vom zyklischen Aufstieg und Niedergang großer Reiche wurde abgelöst von der Idee des Fortschritts und Indien in einen zeit- und geschichtslosen Limbus verbannt, aus dem es erst durch die Ankunft der Briten befreit werden konnte. Die indische Geschichte als Geschichte begann nach britischer Vorstellung erst mit der kolonialen Eroberung.
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Orientalistik
Wissenschaft vom Orient, insbesondere seiner Religionen und Sprachen. Im Gegensatz hierzu bezeichnet der von Edward Said und den postkolonialen Studien als Kampfbegriff verwendete Ausdruck Orientalismus eine bestimmte Sicht auf den Orient, seine Konstruktion als Gegensatz zu Europa (vor allem in den Kategorien zeitlos vs. fortschrittlich; religiös / abergläubisch vs. aufgeklärt / säkularisiert; despotisch vs. demokratisch; weiblich vs. männlich).
Wie aber gingen die indischen Historiker und Schriftsteller des 19. Jahrhunderts mit diesen Vorstellungen zur eigenen Geschichtslosigkeit um? Ohne Geschichte, ohne eine gemeinsame Vergangenheit, mit der sich die Akteure der Gegenwart identifizieren konnten, konnte es auch in ihrer Gedankenwelt keine Nation geben. So fehlten der Nationalbewegung gewissermaßen ihr Subjekt und ihre Legitimation. Daher rief der bengalische Dichter und Historiker Bankimchandra 1880 aus »Bengal must have her own history. Otherwise there is no hope for Bengal.« (zitiert nach Guha, 1988, S. 1) Sprach Bankimchandra zu diesem Zeitpunkt noch von Bengalen, so war es wenige Jahre später schon unumstritten, dass Indien die Nation sein solle, die es zu schaffen galt–das Denkmuster aber blieb das gleiche.
Dieser neuen Historiografie war von Anfang an eine doppelte Ausrichtung zu Eigen. Auf der einen Seite orientierte sie sich an den gleichen Standards der Wissenschaftlichkeit wie die europäische Geschichtsschreibung und übernahm damit nicht nur ihre Quellenkritik, sondern auch ihre Argumentationsmuster und narrativen Strukturen. Auf der anderen Seite betonte sie, dass die neue Geschichte nur von Indern geschrieben werden könne, da nur sie zur Identifikation mit der Vergangenheit in der Lage seien, die die notwendige Grundlage der Interpretation darstelle und das Schreiben der Geschichte als nationaler Geschichte ermögliche.
Als Teil der Nationalbewegung übernahmen die indischen Historiker deren Programm einer Reform der Nation und wollten durch ihre Arbeit zu ihrer Renaissance und Regeneration beitragen;|16◄ ►17| neben der emotionalen Vergemeinschaftung sahen sie ihre Aufgabe darin, dem gegenwärtigen Indien die Vergangenheit, das Goldene Zeitalter, vor Augen zu stellen, an welche es anschließen konnte.
»Vergemeinschaftung«
Nach Max Weber (1985 [1922], S. 21) »eine soziale Beziehung«, die auf der »subjektiv gefühlten Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht« und in der das Gefühl der Zusammengehörigkeit handlungsleitend wirkt.
Noch dringlicher als in Deutschland warfen diese Muster und Metaphern die Frage auf, an welche Geschichte angeschlossen werden sollte und wer und welche Epochen zur ›wahren‹ indischen Geschichte dazu gehörten. War das Reich der muslimischen Moguln eine Epoche nationaler Einheit und Machtentfaltung oder eine Zeit islamischer Fremdherrschaft über Indien? Was bedeutete dies für die Stellung der Muslime in der Gegenwart? War Indien eine Nation oder zwei, welche Folgen sollte dies für die politische Struktur des unabhängigen Staates haben? Diese Fragen gewannen ihre Virulenz erst nach dem Ersten, mehr noch nach dem Zweiten Weltkrieg und zur Zeit der Teilung des Subkontinents, angelegt waren sie jedoch schon in der Historiografie des 19. Jahrhunderts.
3. Transnational, translokal, transregional?
Vor dem Hintergrund dieser historischen Verzahnung von Geschichte und Nationalismus, in der Historiker es als ihre wichtigste Aufgabe angesehen hatten, durch ihre wissenschaftlichen Forschungen zur Nationsbildung beizutragen, wird erst deutlich, wie viel Sprengstoff die grundlegenden Interpretationskategorien im Programm einer transnationalen Geschichte bergen. Es geht um nichts Geringeres als darum, eine »Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaates« (Osterhammel, 2001) zu entwerfen. |17◄ ►18| Dieses Programm basiert ebenso auf Vorstellungen von der Historizität der Nation wie es auch zu ihrer Historisierung beiträgt. Wenn die Nation keine ›natürliche‹ Größe ist, sondern als Vorstellung zu bestimmbaren Zeiten von bestimmbaren Akteuren hervorgebracht wird, so ist sie auch für die Geschichtswissenschaft nicht Ausgangspunkt, sondern Gegenstand der Untersuchung.
Es ist vehement diskutiert worden, ob das Programm einer trans-›nationalen‹ Geschichte weit genug ginge und ob nicht schon die Wahl des Begriffes dazu führe, die Nation, die durch die Vordertür entlassen wurde, durch die Hintertür wieder hereinzulassen. Wie kann man eine transnationale Geschichte für Epochen und Regionen schreiben, denen die Nation als Ordnungsmuster unbekannt war? Wird hiermit nicht wieder ein eurozentrisches Zulaufen der Geschichte auf die Entstehung von Nationalstaaten suggeriert, ihre Abwesenheit als Defizitgeschichte konzipiert? Daher ist vorgeschlagen worden, den Ausdruck ›transnational‹ durch ›translokal‹ (Freitag / von Oppen, 2005; 2010) oder ›transregional‹ (WIKO) zu ersetzen und die Nation dergestalt nur noch als eine Möglichkeit der Raumordnung unter anderen zu betrachten (→ Kap. III.5).
Diese Überlegungen müssen sehr ernst genommen werden. Wenn im Titel dieser Einführung dennoch von transnationaler und nicht translokaler oder transregionaler Geschichte die Rede ist, so deshalb, weil dem Begriff ›transnational‹ im Gegensatz zu seinen Alternativen eine doppelte Stoßrichtung zu eigen ist, die zu bewahren mir wichtig erscheint. Transnational bezieht sich zum einen auf die Untersuchung von Geschichte, die sich nicht in nationalen Grenzen erfassen lässt, sei es, weil sie sich auf kleinere oder größere Einheiten bezieht, sei es, weil sie sich in einem konzeptionellen Rahmen bewegt, in dem die Nation keine oder zumindest keine wichtige Kategorie darstellt. Das ›trans-‹ der transnationalen Geschichte bezieht sich hier auf eine empirische Erweiterung des Untersuchungsgegenstandes. Zum anderen aber, und das könnte aufs Ganze gesehen sogar noch wichtiger sein, geht es darum, durch transnationale Geschichte die Selbstverständlichkeit der Kategorie der Nation selbst infrage zu stellen. |18◄ ►19| Hier bezieht sich das ›trans-‹ auf das Transzendieren der Nation als einer Ordnungskategorie für die Geschichtsschreibung. Die Diskussion, ob und wie weit dies geschieht, wenn man die Nation einfach ignoriert, oder ob es nicht auch darum gehen muss, ihre Deutungsmacht und damit auch das Schwergewicht überlieferter Historiografien direkt und ausdrücklich zu hinterfragen, ist nicht abgeschlossen.
Wir brauchen empirische Studien, die flexibel mit ihren Bezugsgrößen umgehen. Welchen Einfluss lokale, translokale, regionale, transregionale, nationale oder transnationale Faktoren hatten, lässt sich ja in den allermeisten Fällen nur erkennen, wenn der Maßstab der Untersuchung groß genug gewählt ist, um sie in Beziehung zueinander setzen zu können. Diese Studien können je nach Erfordernis mit dem Begriff der Nation arbeiten oder nicht. Dies allein aber reicht meines Erachtens nicht aus, um die enge methodische Verbindung zwischen Nation und Historiografie zu sprengen. Hierfür brauchen wir einen Rahmen, in dem diese Studien in Beziehung zu nationalen und kolonialen Meistererzählungen gesetzt werden, deren Beharrungskraft wohl manchmal unterschätzt wird. Diesen Rahmen kann die transnationale Geschichte bieten.
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II. Über die Nation hinaus?
Forschungstraditionen und Möglichkeiten ihrer Fortentwicklung
Wie die Einleitung gezeigt hat, war die Geschichtsschreibung seit dem 19. Jahrhundert eng mit Vorstellungen von Nationalstaaten verbunden. Doch bedeutete dies nicht, dass nur die Innenpolitik der einzelnen Nationen als angemessenes Thema für die Historiografie gesehen wurde. Die transnationale Geschichte, so wie sie jetzt verstanden wird, ist keineswegs die erste historiografische Richtung, die mehr als eine Nation zugleich untersucht und in ihren Beziehungen analysiert. Dieses Kapitel zeigt an drei Themenfeldern –der Geschichte der Außenpolitik, der Imperialismusforschung und der vergleichenden Geschichtswissenschaft–auf, welche Ansätze einer Überwindung der thematischen Begrenzung auf die Nation es schon vor den gegenwärtigen Debatten gegeben hat, in welche Richtungen sie in den letzten Jahren weiterentwickelt wurden und welche Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten sie in Bezug auf die transnationale Geschichte immer noch bereitstellen.