Margrit Pernau

Transnationale Geschichte


Скачать книгу

gegeben hat, der–gleichsam aus der Natur der Sache heraus–den Blick über nationale Grenzen hinweg auf weltweite Zusammenhänge gelenkt hat, müssten dies die Untersuchungen zum Imperialismus sein. Und in der Tat weisen viele der älteren Forschungen Verbindungslinien zur heutigen transnationalen Geschichte auf.

      Mit dem Begriff des Imperialismus werden zwei zusammenhängende Phänomene bezeichnet. Zum einen markiert er als Epochenbezeichnung die Zeit zwischen 1880, der Aufteilung Afrikas und dem Wettlauf um die letzten Kolonien einerseits, sowie dem Ersten Weltkrieg andererseits. Zum anderen verweist er als systematischer Begriff auf spezifische Antriebskräfte und Formen der überseeischen Eroberungen, die ihn vom früheren Kolonialismus unterscheiden.

      Außenpolitisch war das imperiale Zeitalter von der Konkurrenz zwischen den europäischen Großmächten markiert. Anhand der Kolonien, so die weit verbreitete Meinung, würde sich die künftige Stellung jeder Nation entscheiden, würde sich entscheiden, ob sie Großmacht werden oder bleiben würde oder in Zukunft lediglich eine Macht zweiten Ranges wäre. Dieser Gedanke des Entscheidungskampfes führte dazu, dass auch Kolonien, deren unmittelbarer Nutzen –politisch, strategisch oder wirtschaftlich–nicht offensichtlich war, gleichsam als Pfand auf die Zukunft erworben wurden.

      Innenpolitisch ging diese Epoche einher mit der fortschreitenden Politisierung und Mobilisierung immer weiterer Bevölkerungskreise, die sich auch in einer wachsenden Begeisterung für den Imperialismus äußerte. Inwieweit und von wem diese Begeisterung als Ablenkungsmanöver von innenpolitischen Schwierigkeiten instrumentalisiert wurde, der Imperialismus also im Wesentlichen ›Sozialimperialismus‹ war (Wehler, 1970b) und inwieweit sie sich im Gegenteil autonom entwickelte und die politische Führung unter Druck setzte (Hildebrand, 1975), wurde lange kontrovers diskutiert.

      Zwei Fragekomplexe waren für die Forschung zum Zeitalter des Imperialismus bestimmend. Zum einen ging es darum, die |25◄ ►26| Ursachen und den Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu erklären. Für das Deutsche Reich kamen Fragen nach Kontinuitätslinien zwischen dem Kaiserreich und dem Dritten Reich hinzu, insbesondere nach dem Zusammenhang zwischen Nationalismus und Imperialismus auf der einen und Totalitarismus auf der anderen Seite (Arendt, 1951). Zum anderen, und diese Frage hat eine lange Tradition, die bis in die zeitgenössische Auseinandersetzung mit dem Imperialismus zurückreicht, soll die imperiale Expansion immer auch Auskunft geben über die imperiale Nation. Auf welches historische Erbe, welche Strukturen, welche Anlagen und Eigenschaften lässt ihr Wille und ihre Fähigkeit zur Eroberung und Beherrschung überseeischer Gebiete rückschließen? Diese Frage hat nach dem Verlust der Kolonien und vor allem nach der postkolonialen Kritik am Imperialismus an unmittelbarer Bedeutung verloren. Doch scheint sie zum Teil in Untersuchungen zum europäischen Sonderweg verlagert worden zu sein (im Rückbezug auf Weber Mitterauer, 2003; Weber, 1920–1921): Die imperiale Expansion der europäischen Staaten wird durch den Verweis auf die Besonderheiten der europäischen Geschichte–sei es die industrielle Revolution, seien es kulturelle Spezifika oder Institutionen –erklärt. Zum anderen Teil mag sie einfach ihr Vorzeichen gewechselt haben und von einer Suche nach wesensmäßiger Stärke zu einer nicht minder teleologischen nach grundlegenden Ursachen des Imperialismus übergegangen sein, jetzt als Teil einer zerstörerischen Moderne interpretiert.

      Deutscher und europäischer Sonderweg

      Debatte, die die Erklärung für den deutschen Nationalsozialismus in langfristigen Entwicklungen des Deutschen Reiches suchte (verspätete Nationalstaatsbildung, verspätete Industrialisierung, schwache Stellung des Bürgertums, Ausbleiben von Parlamentarisierung und Demokratisierung).

      Erklärungsansätze, warum es in Europa früher als in anderen Kontinenten zur industriellen Revolution gekommen ist und warum es Europa seit dem 16. Jahrhundert gelang, immer größere Teile der Welt zu unterwerfen und zu beherrschen. |26◄ ►27|

      Für beide Fragestellungen steht der imperiale Nationalstaat im Zentrum des Interesses. Dies kann vereinbar sein mit transnationaler Methodik, wenn nämlich die Nation ihrerseits als Produkt von Wechselwirkungen aufgefasst wird, die sie selber überschreiten. Dieser Ansatz wurde jedoch zumindest in der älteren politikgeschichtlichen Literatur eher selten verfolgt (Schmidt, 1985; Schöllgen, 1986).

      Anders lag das Erkenntnisinteresse bei Studien, die sich den Zusammenhängen zwischen Imperialismus und Kapitalismus widmeten, auch hier mit einer langen Forschungstradition. Ihnen ging es um den systematischen Zusammenhang zwischen den Phänomenen der industriellen Revolution und der damit einhergehenden Entwicklung einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung auf der einen Seite und der wirtschaftlichen Durchdringung überseeischer Gebiete, oftmals verbunden mit politischer Machtübernahme, auf der anderen.

      Umstritten war dabei nicht nur, ob sich die Ausgaben, die die Weltmachtpolitik mit sich brachte, überhaupt rechneten, sondern auch, welche wirtschaftlichen Vorteile die Expansion den Metropolen brachte: Waren es Rohstoffe, Absatzmärkte für ihre Waren oder Anlagemöglichkeiten für Investitionskapital? Welchen Personenkreisen kamen diese Vorteile zugute? Lässt sich nachweisen, dass die gleichen Personen einen Einfluss auf die imperiale Außenpolitik nehmen konnten und tatsächlich genommen haben? Umstritten war weiterhin schon unter den Zeitgenossen, ob die Verfolgung dieser Ziele wirklich des Imperialismus bedurfte oder ob sie ebenso durch eine Freihandelspolitik hätte realisiert werden können. Freihandel plus soziale Reformen im Innern, so John Hobson, ein Vertreter der britischen Radikalliberalen, schon um die Jahrhundertwende, sei in der Lage, den Kapitalismus von seiner gegenwärtigen Übersteigerung im Imperialismus zu seinem Grundprinzip des friedlichen Interessenausgleichs zurückzuführen (Hobson, 1902). Ihm wurde von marxistisch-sozialistischer Seite entgegengehalten, dass im Gegenteil die imperialistische Expansion dem Kapitalismus inhärent sei, da dieser nur so lange zu überleben vermöge, wie er sich neue Gebiete einverleiben könne. Da aber die Expansionsmöglichkeiten letztendlich begrenzt seien, |27◄ ►28| führe der Imperialismus zwar kurzfristig zu einer Stärkung des Kapitalismus, bereite aber langfristig seinen Untergang umso sicherer vor (Hilferding, 1910; Luxemburg, 1913; Lenin, 1917).

      Für die transnationale Forschung sind diese Ansätze insofern von Bedeutung, als hier mit der Entwicklung des kapitalistischen Weltwirtschaftssystems Kräfte in den Mittelpunkt der Analyse gestellt wurden, die die Nationalstaaten transzendierten (Wallerstein, 1974–1989). Dies würde bedeuten, dass die wirtschaftliche, soziale und politische Geschichte der europäischen Metropolen nicht mehr aus sich heraus, nicht mehr ohne Einbeziehung der Tatsache erklärbar wäre, dass es sich um imperiale Mächte handelte. Zu fragen bleibt jedoch, ob nicht in dieser Interpretation das Wirtschaftssystem weiterhin seine Dynamik in entscheidendem Maße aus den Metropolen erhielt. Auch in den Arbeiten, die den Imperialismus als globales System betrachteten, blieb damit Europa genauso wie in der politischen Geschichte das Zentrum der Welt und der Historiografie.

      Überraschend früh wurde dieses Paradigma, dass sich Imperialismus –als Epoche und als Konzept–in erster Linie, wenn nicht ausschließlich von Europa her interpretieren lasse, in Zweifel gezogen. Bahnbrechend waren in dieser Hinsicht in den 1950er Jahren die Forschungen der britischen Historiker John Gallagher und Ronald Robinson, die den Imperialismus aus seiner Engführung auf die Übernahme formaler Herrschaft lösten und stattdessen betonten, dass, zumal im britischen Empire, immer formale und informale Herrschaft nebeneinander gestanden hätten. Aus Kostengründen hatten die Briten es vorgezogen, bei der Sicherung ihrer Interessen, wann immer möglich, auf Eroberungen und die Einführung einer eigenen Verwaltung zu verzichten: »By informal means if possible, or by formal annexation when necessary, British paramounty was steadily upheld« (Gallagher, 1953, S. 3).

      Zwei Schlussfolgerungen ergaben sich hieraus. Zum ersten verschwamm mit dieser engen Verknüpfung von formaler Herrschaft und informellem Einfluss der Charakter des imperialen Zeitalters als einer eigenständigen Epoche, und zwar sowohl für die Vergangenheit durch die Betonung der Kontinuität zwischen |28◄ ►29| Kolonialismus und Imperialismus, als auch für die Zukunft, da nun eine Fortdauer kolonialer Herrschaft auch nach der Dekolonisierung denkbar wurde (Mommsen / Osterhammel, 1986; Robinson, 1984). Dieser Gedanke wurde vor allem von Politikwissenschaftlern aufgenommen und in der Dependenztheorie, die postkoloniale Unterentwicklung zu erklären trachtete, weiterentwickelt (Senghaas, 1972). Nicht mehr die Frage nach den europäischen Nationalstaaten und ihrem Schicksal stand damit im Vordergrund,