Margrit Pernau

Transnationale Geschichte


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umso wirkmächtiger, je mehr es gelang, ihren Charakter als Vorstellung vergessen zu machen und sie als naturgegeben erscheinen zu lassen. Dabei kam der Geschichtsschreibung von Anfang an eine zentrale Rolle zu, denn sie war das Medium, durch das die Existenz der Nation in die Vergangenheit, ins ›Immer-Schon-Da-Gewesene‹, verlängert werden konnte. Das Interesse der Historiker richtete sich damit gerade nicht auf den Wandel, sondern im Gegenteil auf das, was inmitten aller historischen Veränderung ewig und dem menschlichen Zugriff entzogen schien. Bestand der eine Teil ihrer selbst gesetzten Aufgabe darin, den objektiven Charakter der Nation freizulegen, so richtete sich der andere durch die Darstellung der langen gemeinsamen Geschichte und ihrer Wechselfälle auf die Erzeugung und Verstärkung des subjektiven Gefühls der Zugehörigkeit beim Leser. Dieses Gefühl jedoch war nach Ansicht der Zeitgenossen nicht ins Belieben des Einzelnen gestellt, sondern ihm als Pflicht aufgegeben–er fühlte nicht nur für und mit der Nation, er musste auch so fühlen, wenn er kein ›vaterlandsloser Geselle‹ sein wollte.

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      Zugleich war die Historiografie der Ort, an dem verhandelt wurde, welche Eigenschaften die Angehörigen einer Nation vor allen anderen auszeichneten. Wie die Nation selbst, so wurde auch ihr Charakter in seinem Kern als historisch unwandelbar angesehen, daher ließ er sich aus den Taten der Vorfahren besonders klar erkennen. Anhand der nationalen Eigenschaften aber beantworteten die Historiker nicht nur die Frage ›Wer sind wir?‹ (und implizit: ›Wer sind die anderen?‹), sondern im nächsten Schritt auch die Frage ›Wer gehört zu uns?‹ Damit trafen sie Entscheidungen über Inklusion und Exklusion, also über die Grenzen der nationalen Gemeinschaft.

      Wie sich die Geschichtsschreibung und die Nation gegenseitig hervorbrachten, soll im Folgenden anhand des deutschen und des indischen Fallbeispiels verdeutlicht werden.

      2.1 Das Beispiel Deutschland

      In Deutschland gingen die Professionalisierung der Historiker, die Verwissenschaftlichung der Historiografie und ihre Nationalisierung Hand in Hand. Bereits im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts fand die Geschichtsschreibung ihren Ort an den Universitäten und Akademien. Damit wurden die Historiker zu Staatsbeamten, ihre Ausbildung standardisiert und über die Berufungsverfahren sowohl Qualitätskontrolle als auch Konformitätsdruck ausgeübt.

      Hinsichtlich der Verwissenschaftlichung der Historiografie sind zwei Ebenen zu unterscheiden (Iggers, 1994). Die Quellenkritik und die Entwicklung der historischen Hilfswissenschaften erlaubten es nicht nur, die Echtheit von Quellen zu überprüfen, sondern auch, sie präzise zu datieren, Lesarten zu bestimmen und philologisch zu interpretieren; dies führte zur Aufdeckung von Fälschungen und zu groß angelegten Editionsprojekten. Der Grund hierzu wurde bereits im 18. Jahrhundert gelegt, vor allem in der Altertumsforschung. Wissenschaftlich weitaus weniger präzise zu fassen war die Ebene der Interpretation der Quellen, ihre Einordnung in einen größeren Kontext und ihre Zusammenführung zu einem kohärenten Narrativ. Es war diese Ebene, auf der sich die |12◄ ►13| Nationalisierung der Geschichtswissenschaft abspielte–zögerlicher als die Verwissenschaftlichung und anfänglich gegen den Widerstand einer Tradition der Universalgeschichtsschreibung, die sich aus dem Gedankengut der Aufklärung speiste, doch auch da, wo sie sich dem Nationalismus verweigerte, die zentrale Rolle der Nation nicht in Frage stellend (Fulda, 1996; Süßmann, 2000).

      Leopold von Ranke (1798–1876), von vielen als Begründer der Geschichte als Wissenschaft angesehen, betonte, dass Staat und Nation als organische Subjekte der Geschichte dem Historiker vorgegeben seien, sie seien die Konkretisierung von Gottes Idee der Menschheit. Dadurch waren jeder Staat und jede Nation einmalig und von allen anderen unterschieden. Nur durch die Untersuchung ihrer jeweiligen Besonderheit war dem Historiker ein Vordringen zum Allgemeinen möglich. Die Betonung der unhintergehbaren Individualität von historischen Ereignissen unterschied die Geschichtswissenschaft, so Ranke und der Historismus, von den Naturwissenschaften, die stattdessen auf die Bildung von Typen und allgemeinen Gesetzmäßigkeiten abhoben.

      Von dieser Basis aus war zwar keine transnationale Geschichte denkbar, denn es galt gerade die Besonderheiten der nationalen Entwicklung zu wahren und der Übertragung fremder Ideen und Institutionen zu wehren. Eine Universalgeschichte aber konnte aus dieser Logik durchaus entwickelt werden, denn die ausgeführten Prinzipien galten nicht nur für die deutsche, sondern für jede Nation. In jede Nation hatte der Historiker sich einzufühlen und ihre Eigenheiten herauszuarbeiten, ohne sich dabei von seiner eigenen Herkunft leiten zu lassen.

      Dieses Bemühen um Objektivität war es, das zu heftigen Angriffen der Vertreter der kleindeutschen Geschichtsschreibung auf Ranke führte, also jener Historiker, die nach den Bismarck’- schen Einigungskriegen die Schaffung des deutschen Nationalstaats als Preußens geschichtliche Mission interpretierten. Diesem Nationalstaat hätte die Historiografie zu dienen; er war zugleich die Basis, von der aus eine Interpretation der Geschichte allein für möglich erachtet wurde–nicht das Einfühlen in das Fremde, sondern im Gegenteil, radikale nationale Standortgebundenheit wurde nunmehr vom Historiker gefordert.

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      Kleindeutsche Bewegung

      Seit 1848 eine politische Richtung, die die Einigung Deutschlands unter Ausschluss Österreichs unter preußischer Führung anstrebte. Sie setzte sich mit den Bismarck’schen Einigungskriegen politisch durch und bestimmte die deutsche Geschichtsschreibung bis zum Ersten Weltkrieg.

      Sind solchermaßen die Nationalstaaten die eigentlichen Akteure der Geschichte, so folgt jeder von ihnen dem Gesetz seines eigenen Wesens und kann nur aus sich selbst heraus interpretiert werden. Dies bedeutet nicht nur eine Absage an die Untersuchung von Austauschbeziehungen und gegenseitigen Beeinflussungen, sondern auch das Ende eines möglichen Dialogs zwischen Historikern und Historiografien verschiedener Länder. Folgerichtig versuchten die deutschen Geschichtswissenschaftler 1903 das Abhalten des Internationalen Historikerkongresses in der Reichshauptstadt mit dem Argument zu verhindern, es sei keine gemeinsame Grundlage für die Interpretation der Geschichte außerhalb des nationalen Rahmens denkbar (Muhlack, 2000, S. 34). Die Aufgabe der Historiker sei es vielmehr, »der Nation das Bild ihrer selbst zu erarbeiten und vor die Seele zu stellen« (Droysen, zitiert nach Haltern, 1994, S. 75) und in den Deutschen die »Freude an ihrem Vaterland« zu erwecken (Treitschke zitiert nach Muhlack, 2000, S. 38 f.); in die Sprache Andersons und Hobsbawms übersetzt also: ihre Wissenschaft in den Dienst der Konstruktion der eigenen Nation zu stellen.

      Dieses Denken von der Nation her war dabei keineswegs auf die »Nationalgeschichte« beschränkt, also die Geschichte, die sich das Deutsche Reich oder die deutsche Nation zum Thema nahm. Vielmehr prägte sie auch solche Untersuchungen, für die man sich ganz andere Referenzrahmen vorstellen könnte, etwa die Landes-und Regionalgeschichte, die Volks- und Heimatgeschichte, sogar, wenn vielleicht auch in geringerem Maße, die Kulturgeschichte.

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      2.2 Das Beispiel Indien

      Jede Möglichkeit wissenschaftlicher Geschichtsschreibung in Indien wurde im 19. Jahrhundert zunächst von der kolonialen Situation bestimmt–auch da, wo bewusst auf vorkoloniale Formen zurückgegriffen wurde. Wie Edward Said in seinem bahnbrechenden Buch Orientalism (1978) betonte, waren Herrschaft und Produktion von Wissen–das Sammeln von Informationen, die Schaffung von Kategorien, um sie zu ordnen und schließlich ihre Interpretation–untrennbar miteinander verbunden. Dies traf auch für die britische Historiografie über Indien zu.

      In der Tradition der Aufklärung waren die britischen Historiker und Philologen des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die sich mit Indien beschäftigten–in der Indienforschung wegen ihrer Begeisterung für die orientalische Kultur und ihre Sprachen unter dem mittlerweile irreführenden Namen ›Orientalisten‹ bekannt –einem zyklischen Modell von Aufstieg und Verfall großer Reiche verpflichtet. Zwar fanden sie in der indischen Gegenwart wenig Bewundernswertes, doch die Existenz eines vergangenen goldenen Zeitalters garantierte Indien den Status einer Hochkultur und verbürgte die Hoffnung, dass es ihm mit britischer Hilfe gelingen könne, die einstige Größe wiederzuerlangen.

      Hiergegen wandten sich seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die