Margrit Pernau

Transnationale Geschichte


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zur Außenpolitik sich nicht auf einen einzelnen Staat beschränken können, geht es doch in diesem Forschungsfeld gerade um die Beziehungen der Staaten untereinander. Dennoch braucht dies keinesfalls zu einer Relativierung oder gar Dekonstruktion der Kategorie Nationalstaat zu führen, ganz im Gegenteil. Für den größten Teil der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts war der Nationalstaat eine dem Menschen vorgegebene Realität, an der sich das politische Handeln zu orientieren hatte. Auf dem Feld der Außenpolitik begegneten sich die Nationalstaaten als gleichsam personifizierte, nicht weiter auflösbare Einheiten–man beachte die |20◄ ►21| Sprache der Quellen: ›Deutschland forderte‹, ›Frankreich warf ein‹, ›Großbritannien vermittelte‹. Ihnen schien die Selbstbehauptung nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten, denn über dem Staat gebe es keine übergeordnete Macht und kein übergeordnetes Recht: eine »Idealisierung des Staates auf der Basis der Spiritualisierung der Macht« (Mollin, 2000, S. 6). Eine Eindämmung der überbordenden Hegemonialansprüche einzelner Staaten könne nur durch die größere Macht anderer Staaten–allein oder in Allianzen–geschehen.

      Politiker und Historiker waren sich einig, dass der Charakter der Außenpolitik als ein Kampf um Macht den Staatsmännern, die den Nationalstaat auf dem internationalen Parkett vertraten, unbeeinflussbar vorgegeben sei. Ihre Kunst bestehe darin, die Handlungsmöglichkeiten auszuloten und in Entscheidungen umzusetzen –als große Männer machten sie große Politik. Die Aufgabe der Historiker sei es, diese Entscheidungen nachzuzeichnen und zu würdigen. Dies konnte durchaus zu Kritik im Einzelfall, jedoch kaum jemals zur Kritik an den Grundannahmen der Außenpolitik führen. Dabei war im Laufe des 19. Jahrhunderts eine Radikalisierung der nationalen Position der Historiografie zu verzeichnen. Wo noch Ranke den Staat zwar als unauflösliche Einheit, jedoch stets eingebunden in die Gemeinschaft mit anderen Staaten sah, warfen seine späteren Kritiker ihm vor, genau damit den nationalen Standpunkt bereits verlassen zu haben und zum Kosmopoliten geworden zu sein (genau das also, was den frühen Historismus, der in dieser Hinsicht noch das Erbe der Aufklärung bewahrte, für heutige Historiker zunehmend attraktiv zu machen scheint). Staaten bewegten sich nach ihrer Auffassung zwar auf dem gleichen Feld, doch gab es nichts mehr, was sie verbinden und zwischen ihnen vermitteln konnte–jeder Staat trug sein Gesetz des Handelns und seine Legitimation in sich selbst.

      Die deutsche Diskussion über die Bedeutung der Geschichte der Außenpolitik und die Maßstäbe, die zu ihrer Untersuchung anzulegen seien, entflammte Mitte der 1970er Jahre. Andreas Hillgruber und Klaus Hildebrand vertraten die Auffassung, dass es die Außenpolitik sei, die den Verlauf der Geschichte maßgeblich präge und vor allem auch die Rahmenbedingungen für die Innenpolitik|21◄ ►22| schaffe (Hildebrand, 1975; 1976; Hillgruber, 1973; 1976). Zwar wirkten auch die innenpolitischen Entwicklungen auf die Außenpolitik zurück, insgesamt folge diese jedoch einer Eigengesetzlichkeit, die von den Interessen des Nationalstaates bestimmt werde, der »in Geschichte und Gegenwart–und eben nicht zuletzt als politische Einheit im internationalen Geschehen–in seiner Erheblichkeit kaum hoch genug einzuschätzen ist« (Hildebrand, 1976, S. 349). Außenpolitik sei eine »Antwort der Staatskunst« auf die »Herausforderung der Macht« (Hildebrand, 1995), daher gelte es für die Geschichtswissenschaft, ihren Entscheidungscharakter herauszuarbeiten und ihn nicht mit Hilfe von über den Einzelfall hinausreichenden Theorien in allgemeinen Prozessen verschwinden zu lassen. Die Kategorien, anhand derer die Außenpolitik beurteilt werden müsse, sind–ganz im Rahmen des Historismus gedacht–die Kategorien der zeitgenössischen Akteure, die zugleich die Richtlinien der Interpretation vorgeben: die Nation, der Staat, die Macht, der Gegensatz zwischen Gleichgewicht und Hegemonie, aber auch Konzepte wie Dämonie, Tragik und Schicksal.

      Da die Historisierung dieser Begriffe unterbleibt und zugleich der Erzählung gegenüber der Analyse der Vorzug gegeben wird, gewinnen die Außenpolitikhistoriker dieser Schule keinen Ansatzpunkt, von dem aus die Innensicht auf die Ereignisse aufgebrochen werden könnte–zumal die Beschränkung auf die »Große Politik der europäischen Kabinette« (so der Titel einer vielbändigen Quellensammlung zur Diplomatiegeschichte von 1871–1914) eine entsprechende Begrenzung des untersuchten Quellenmaterials nach sich zieht. Noch immer sind es die Staatsmänner des 19. und 20. Jahrhunderts, deren Auffassung vom Charakter der Außenpolitik den Untersuchungsgegenstand definiert.

      Hier setzte die Kritik des Bielefelder Gesellschaftshistorikers Hans-Ulrich Wehler ein, der forderte, den Primat der Außenpolitik durch einen Primat der Innenpolitik zu ersetzen (Wehler, 1975). Dies erlaube erstens die Frage, welche innenpolitischen Konstellationen die Formulierung einer außenpolitischen Position beeinflussten und zweitens die Untersuchung, wie Außenpolitik in die Innenpolitik zurückwirke. Damit würde ihre Interpretation|22◄ ►23| aus der Fixierung auf die internationalen Konstellationen herausgelöst und es könne sichtbar gemacht werden, dass sich Ziele der Außenpolitik häufig weniger durch ihren Bezug auf andere Nationalstaaten, als vielmehr durch ihre innenpolitischen Intentionen erklären lassen. In seinen Untersuchungen zum Kaiserreich führte Wehler diese These am Beispiel des Imperialismus aus, der für ihn weniger aus der Dynamik der Großstaatspolitik, denn als ›Sozialimperialismus‹ mit dem Ziel der Ablenkung von Partizipationsforderungen im Innern erklärt werden muss (Wehler, 1973).

      Für die transnationale Geschichte sind beide Positionen nur sehr begrenzt anschlussfähig. Die Schärfe des Streits ließ in den Hintergrund treten, in welchem Maße seine Protagonisten wesentliche Grundannahmen teilten, allen voran die Idee der herausragenden Stellung des Nationalstaates. Beherrschten bei Hillgruber und Hildebrand die Nationen als einzige Akteure die internationale Bühne, so gelang es Wehler, die Heterogenität der Nation im Inneren aufzuzeigen und konfligierende soziale und wirtschaftliche Interessen in den Mittelpunkt der Analyse zu rücken. Ohne dass dies ausdrücklich thematisiert oder gar theoretisch reflektiert wird, geht jedoch auch er davon aus, dass der Nationalstaat den gleichsam natürlichen Rahmen für diese Interessen darstellt und sie ohne Referenz auf andere Einflüsse abschließend erklärt werden können–Gesellschaftsgeschichte kann als Nationalgeschichte, kann als »Deutsche Gesellschaftsgeschichte« (Wehler, 1987–2008) geschrieben werden.

      Der Gegensatz zwischen den beiden Lagern–der im Rückblick weit weniger fundamental erscheint, als es die Zeitgenossen empfanden –bestimmte die Debatten zur Außenpolitik über zwanzig Jahre lang. Vermittelnde Positionen, die es immer wieder gegeben hat, konnten sich nicht durchsetzen (Ziebura, 1990). Erst Ende der neunziger Jahre gelang es, diese Fronten aufzubrechen (Conze, 1998; Loth / Osterhammel, 2000). Seitdem besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass sich Außenpolitik nur durch das Zusammenspiel von inneren und äußeren Faktoren erklären lässt. Im Gegensatz zur Hildebrand-Schule wird damit die Bedeutung der Innenpolitik für die Interpretation der Außenbeziehungen |23◄ ►24| anerkannt; zugleich wird betont, dass einzelne Bereiche, gerade dort, wo sie institutionell abgestützt sind, auch eine Eigendynamik und Eigengesetzlichkeit entwickeln können. Jedoch erlaubt erst der größere, transnationale Zusammenhang die Ebenen, die sinnstiftend für das Handeln der außenpolitischen Akteure sind, zueinander in Beziehung zu setzen und ihren jeweiligen Einfluss empirisch auszuloten.

      Die Betonung des kommunikativen Aspekts der Politik (Frevert / Haupt, 2005) rückt nicht nur die Strukturen und Regeln der internationalen Beziehungen als historisch geworden und historisch wandelbar in den Mittelpunkt–sie sind gleichermaßen Niederschlag vergangener Kommunikation wie auch Bedingung künftiger. Dieser Ansatz lässt auch nach den Bedingungen der Kommunikation fragen, nach ihren Formen und Symbolen, nach ihrer Sprache sowie nach der Sozialisation ihrer Akteure. Damit eröffnet er den Weg für eine Kulturgeschichte der internationalen Beziehungen, die ihrer Anlage nach nicht mehr von den einzelnen Nationalstaaten her, sondern nur noch transnational gedacht werden kann (Albert / Blum / Helmig, et al., 2009; Paulmann, 2000).

      Wieder einmal bedeutet die Betonung des Transnationalen jedoch nicht, dass die Rolle der als Nationalstaaten konstituierten kollektiven Akteure zu vernachlässigen wäre–weder historisch noch heute, in Zeiten von zunehmender wirtschaftlicher Verflechtung, supernationalen Zusammenschlüssen und der wachsenden Bedeutung von nicht-staatlichen international agierenden Akteuren. Die Geschichte der internationalen Beziehungen vermag dies wieder ins Gedächtnis zu rufen und zu verhindern, dass die Kategorie staatlicher Macht aus transnationalen Analysen verschwindet.

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