Margrit Pernau

Transnationale Geschichte


Скачать книгу

informale und die formale Herrschaft im Prinzip austauschbar, so erfolgte die Entscheidung zwischen ihnen, und dies ist die zweite These, in der Regel als Antwort auf lokale Faktoren. Die frühen Arbeiten von Gallagher und Robinson betonten hierbei noch sehr stark die Rolle der men on the spot, d.h. der kolonialen Prokonsuln und Beamten, denen schon aufgrund der langen Kommunikationswege eine sehr große Unabhängigkeit in der Formulierung imperialer Politik zukam. Dieser Ansatz wurde in den achtziger Jahren weiterentwickelt und radikalisiert: Nicht nur den Briten in den Kolonien wurde Handlungskompetenz und Einfluss auf die Entwicklung der imperialen Geschichte zugeschrieben, sondern auch den Kolonisierten und vor allem den Interaktionen zwischen beiden. David Fieldhouse hob hervor, dass imperiale Geschichte–im Gegensatz zur Geschichte der Metropolen und zur Geschichte der ehemaligen Kolonien–nur in der Konzentration auf die areas of interaction zwischen beiden weiterführende Interpretationen entwickeln könne (Fieldhouse, 1984). Robinson konzentrierte sich bei der Fortführung seiner Untersuchung der lokalen Faktoren auf die Rolle der Kollaborationsregime. Ob die Kolonialmacht in der Lage war, einheimische Eliten zur Zusammenarbeit zu bewegen, ob diese in der Lage waren, ihren Einfluss über weitere Bevölkerungsteile aufrechtzuerhalten und welcher Konkurrenz sie ausgesetzt waren, dies bestimmte nachhaltig die Möglichkeit und Gestalt kolonialer Herrschaft.

      Vor allem David Fieldhouse betonte, dass diese Integration von Imperialismusforschung und regionalwissenschaftlichen Studien |29◄ ►30| zu den Kolonien keinen ausschließlichen Weg vorschreiben wollte, sondern die nationalstaatlichen Narrative sowohl der kolonisierten wie auch der kolonisierenden Staaten durchaus ihre Legitimität behielten. Was jedoch nicht mehr möglich erschien, war eine umfassende Analyse der nationalstaatlichen Geschichte ohne Berücksichtigung ihrer globalen Bedingungen und noch weniger die Erklärung globaler Entwicklungen allein aus der Perspektive eines Nationalstaates.

      3. Komparatistik

      Der dritte große Bereich, in dem die Historiografie schon früh nationale Grenzen überschritt, war die Komparatistik. Vergleich bedeutet in der Geschichte die systematische Diskussion von zwei oder mehr Fällen mit dem Ziel, ihre Ähnlichkeiten und Unterschiede deutlicher erfassen zu können. Häufig handelt es sich dabei um Fallbeispiele aus unterschiedlichen Ländern, doch sind auch Vergleiche unterhalb wie oberhalb der nationalen Ebene möglich–etwa zwischen Städten oder zwischen Kulturen (Kaelble, 1999b; Kocka, 2003).

      Diese Definition zeigt bereits, dass weder ein Vergleich zwischen Fällen, die sich allzu ähnlich sind, noch zwischen solchen, die keine Gemeinsamkeiten aufweisen, Sinn macht. Wenn daher immer wieder darauf hingewiesen wird, dass man nicht Äpfel und Birnen miteinander vergleichen dürfe, so stimmt dies nur bedingt: Sie lassen sich in zahlloser Hinsicht miteinander vergleichen, ob es nun in Bezug auf ihren Vitamin- oder Kaloriengehalt oder ihren Anteil an den Exporten einer Volkswirtschaft ist. Wichtig ist allein, ob beide einer gemeinsamen Oberkategorie, einem tertium comparationis angehören, mit Blick auf welches sie verglichen werden können. In den ersten beiden Fällen wären dies Nahrungsmittel, im dritten Fall Exportgüter. Äpfel und Autos lassen sich selbstverständlich nicht in Bezug auf ihren Vitamingehalt vergleichen, doch können beide Exportgüter sein und in dieser Hinsicht einen Vergleich sinnvoll erscheinen lassen.

      |30◄ ►31|

      Als Vater der modernen Komparatistik wird häufig der französische Historiker Marc Bloch zitiert, der in einem programmatischen Artikel aus dem Jahre 1928 auf den Erkenntnisgewinn hinwies, den die Untersuchung ähnlicher Phänomene in unterschiedlichen Kontexten verspreche (1928; dt. Übersetzung 1994). Der Vergleich erlaube zum einen die Überprüfung von kausalen Verknüpfungen zwischen zwei oder mehr Ereignissen und ihre Verfeinerung: Ließ der Blick auf ein einzelnes Land es einleuchtend erscheinen, dass eine bestimmte Ursache eine bestimmte Wirkung hervorbringe, so könne der Vergleich zeigen, dass die gleiche Ursache auch andere Wirkungen haben könne bzw. dieselbe Wirkung durch unterschiedliche Ursachen hervorgebracht werden könne. Damit verhindere er monokausale Deutungen. Zum anderen verfremde der Vergleich Phänomene, die bisher natürlich erschienen, und provoziere damit neue Fragen an Altbekanntes. Verglichen werden könnten dabei Fälle, die zeitlich und räumlich weit voneinander entfernt lägen, oder solche, die miteinander in einer engen Beziehung stünden–Letzteres sei sogar interessanter, denn hier erlaube der Vergleich, verborgene Einflüsse aufzuzeigen sowie endogene und exogene Ursachen von Entwicklungen voneinander zu trennen.

      Synchroner und diachroner Vergleich

      Synchroner Vergleich: Vergleich von Ereignissen, Strukturen oder Entwicklungen, die sich zeitgleich in verschiedenen Regionen finden lassen (die Periode bleibt stabil, die Phänomene können unterschiedlich sein–Beispiel: Parteiensystem in Großbritannien und Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg). Demgegenüber untersucht der diachrone Vergleich diese Phänomene in zeitlicher Verschiebung (Phänomene bleiben stabil, Periode kann unterschiedlich sein–Beispiel: Auswirkungen der Einführung der Altersversicherung auf Familienstrukturen, dies kann in einem Land um 1870 sein, in einem anderen um 1920, in einem dritten erst 1990).

      Die Geschichte des Vergleichs als wissenschaftliche Methode reicht jedoch wesentlich weiter zurück (Schriewer, 2003). Seit |31◄ ►32| dem ausgehenden 17. und dann vor allem im 18. Jahrhundert hatten sich die Naturwissenschaften in wachsendem Maße des Experiments als Instrument der planmäßigen Erhebung von Daten bedient, die dann klassifiziert und kategorisiert und dergestalt zur Überprüfung von Hypothesen eingesetzt wurden. Wo Experimente nicht möglich waren, suchte man sie durch Vergleiche zu ersetzen. In beiden Fällen jedoch ging es um die Erkenntnis allgemeiner und intersubjektiv überprüfbarer Gesetzmäßigkeiten. In ganz Europa wurde das 18. Jahrhundert zur Blütezeit der vergleichenden Anatomie, der vergleichenden Sprachwissenschaft und des proto-anthropologischen Vergleichs–aus Letzterem entwickelte sich dann die Lehre von den Entwicklungsstadien, die alle Völker und Nationen zu durchlaufen hätten. Die offensichtliche Differenz zwischen ihnen dürfe nicht davon ablenken, dass sie dennoch gemeinsamen historischen Gesetzmäßigkeiten unterworfen seien–diese waren sowohl die Bedingung wie auch das wesentliche Erkenntnisinteresse des historischen Vergleichs.

      Brachte der Siegeszug des Historismus mit seiner Betonung der unhintergehbaren Individualität von Nationen und historischen Ereignissen die Abkehr von der Suche nach dem Allgemeinen und damit auch vom Vergleich, so führte die Wendung gegen den Historismus seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts vor allem in Deutschland zu einer neuen Blütezeit der Komparatistik. War es im 18. Jahrhundert die Begegnung mit den Naturwissenschaften, so wurde jetzt die Auseinandersetzung mit der Soziologie und den Wirtschaftswissenschaften, vor allem mit den Theorien zur gesellschaftlichen und ökonomischen Modernisierung, zur treibenden Kraft. Nicht mehr die Frage nach dem ›Wie‹ historischer Abläufe, sondern nach ihrem ›Warum‹ sollte fortan im Zentrum der Forschung stehen. Der Königsweg dorthin führte über den Vergleich (Wehler, 1980).

      Gleichwohl wurde von Anfang an auch das Spannungsverhältnis zwischen zwei Tendenzen thematisiert: auf der einen Seite die Suche nach Gesetzmäßigkeiten, die eine Isolierung von Faktoren verlangt, um ihren Zusammenhang analysieren zu können; auf der anderen Seite das für die Geschichtswissenschaft zentrale Bestreben, diese Faktoren in ihren Kontext einzubetten und zu |32◄ ►33| betonen, dass erst dieser Kontext bedeutungsstiftend sei. Zudem spielte für die Geschichtswissenschaft die sprachliche Konstitution der Wirklichkeit, ihre Erfassung und Interpretation durch die historischen Akteure eine wesentlich größere Rolle als in den Sozialwissenschaften. Schufen Akteure durch ihre sprachliche Benennung Unterschiede zwischen Phänomenen, gaben sie ihnen damit unterschiedliche Bedeutung, so wurde argumentiert, dann könnten die Historiker diese Unterschiede nicht durch übergreifende Definitionen einebnen. Damit war das Ziel des Vergleichs nicht länger die Erkenntnis allgemeiner Gesetze, also solcher, die für alle Zeiten und Räume Gültigkeit beanspruchten, sondern die Erfassung von kausalen Zusammenhängen mit begrenzter Reichweite (Haupt / Kocka, 1996b; Kaelble, 1999a). Die Gesetze, denen die Geschichte unterworfen war, waren selbst Produkt der Geschichte und bedurften damit der Historisierung.

      Auf der anderen Seite: Ohne Auswahl und Gewichtung von Faktoren und ohne die Frage, wie eine spätere Entwicklung mit einer früheren kausal zusammenhängt, ist Geschichtswissenschaft, selbst in ihrer historistischen Ausprägung, unmöglich. Der explizite Vergleich