beiden Ebenen unterscheiden sich. Die Theatergeschichte besteht aus Prozessen, die die Theatergeschichtsschreibung erläutert. Es sind spezifische Beziehungen zwischen leibhaftig anwesenden Agierenden und Schauenden, welche in flüchtigen Ereignissen als eine kulturelle Praxis erfahrbar sind, die erst im Nachhinein partiell beschrieben werden kann. Die Schilderung kann sich aber wegen ihres unzulänglichen Mittels Sprache nur bis zu einem gewissen Grade den Geschehnissen oder Aufführungen annähern und erfolgt unter bestimmten Voraussetzungen zu bestimmten Zwecken, ist also subjektiv geprägt. Sie macht aus ihrer notwendigen Unvollkommenheit – Sprache [<< 13] erfasst nur schlecht Geschehen – die Tugend sinngebender Auswahl. Der Diskurs ist traditionsstiftend und insofern eine zweite kulturelle Praxis. Sie ist durch und durch paradox. Denn viel zu viel ist geschehen, ohne dass wir Kunde davon hätten. Trotzdem haben wir immer noch von viel zu viel Geschehen Kunde, als dass es aufschreibbar wäre. Und dann nennt sich auch noch ein Buch, das sich theaterhistoriografisch mit Theatergeschichte als Prozess beschäftigt, Theatergeschichte.
Die Theaterhistoriografie entstand aus Diskursen über Theater, aus dem philosophisch-ästhetischen (Aristoteles) ebenso wie aus dem religiösen (Tertullian), aus dem dramatischen (Terenz), aus jenem reisender Berufsschauspieler (Francesco Andreini) oder Zuschauender (Michel de Montaigne) ebenso wie aus den unzähligen Reformversuchen (Luigi Riccoboni), die die Theaterformen über sich ergehen lassen mussten.2 Nicht mehr nur auf seine eigene Nation konzentriert, wie noch Riccoboni, entwirft Pietro Napoli-Signorelli 1777 das Muster aller späteren Versuche. Er schreibt aus literarisch-dramatischer Sicht die erste systematisch-universelle Welttheatergeschichte und erklärt, dass ähnliche Ideen unter ähnlichen Umständen gleich wirken, Theater also in allen Weltteilen entsteht, weil überall Menschen aus dem Nachahmen ein Spiel machen. Aus Materialgründen setzt er aber dann für die Anfänge doch auf die Komödie und Tragödie der Griechen und Römer. Ab dem 2. Jahrhundert gäbe es keine wesentlichen Dramatiker mehr, deshalb beginne Theater neu im Mittelalter mit der Entwicklung der populären Rede zur literarischen Sprache. Erste weltliche Dramatiker sind am Ende des 13. und Anfang des 14. Jahrhunderts Albertus Mussatus aus Padua und Francesco Petrarca. Als Republikaner akzentuiert er das profane Theater als älter gegenüber dem geistlichen Drama, das er erst für das 15. Jahrhundert in Frankreich erwähnt.3 Dies wiederum widerstrebt den Interessen einiger späterer Theaterhistoriker, die schon das frühe geistliche Spiel als Theater gelten lassen. In einem engeren Sinne entfaltet sich Theaterhistoriografie vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus zwei Forschungsrichtungen, aus der Literaturwissenschaft durch einen verstärkten Einbezug der Aufführungsumstände in die Dramengeschichte sowie aus der Architekturgeschichte durch die Auswertung der systematischen Ausgrabungen griechischer und römischer Theater im Mittelmeerraum. Sie bestimmt sich heute mindestens vierfach, nämlich als Theatergeschichtsschreibung erstens der intentionalen Schemata, der Konzepte, Programmatiken, zweitens der benutzten Mittel (Rolle, Text, Dekoration, Kostüm, Requisiten, Licht, Theater- und Bühnenform) samt der institutionellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen, [<< 14] drittens der szenischen Vorgänge, Ereignisse, Inszenierungen, ihres jeweiligen Verlaufs, und viertens der Wirkungen auf ein Publikum sowie der Wechselwirkungen zwischen Agierenden und Publikum.4 Theaterhistoriografie untersucht im Blickwinkel vorliegender Einführung Konzepte, Mittel und Umfeld, Verlauf und Wirkungen von szenischen Vorgängen, die Theater genannt werden können. Allerdings wären ohne ein exemplarisches Vorgehen viele tausend Seiten nötig, um diesem Anspruch gerecht zu werden.
Perspektivwechsel notwendig
Die Forschungslage in der Theaterwissenschaft hat sich in den letzten 100 Jahren grundsätzlich verändert. Viele hochrangige Publikationen zu einzelnen Forschungsfeldern, zeitlich oder örtlich beschränkt, sind erschienen, gleichzeitig wichen die erbitterten Kämpfe der frühen wissenschaftlichen Schulen einem frag(en)losen Mainstream. Durch Zusammenfassungen aller Art wurden bestimmte Positionen zementiert. Zahlreiche Überblicksdarstellungen wurden in das Internet transponiert, sodass es nicht mehr an einer bestimmten Art von faktischer Übersicht mangelt, sie ist einfacher zu beschaffen denn je. Der Datenmangel ist einem Datenüberfluss gewichen, die monumentalen Werke sowie das Internet bieten ausreichend einzelne Fakten. Eine Einführung, die diesen Status quo reproduzierte, fände keine Legitimation.
Laufende grundlegende Umgestaltungen des Studiensystems tragen im Übrigen dazu bei, dass den Studierenden vornehmlich Fakten in wohltemperierten und abgewogenen Dosen verabreicht werden, statt sie durch Problematisierungen zu belasten. Je mächtiger sich ein common sense über das, was Theatergeschichte sei, Bahn bricht, desto schwieriger wird es jedoch für Lernende, überhaupt noch Forschungsfragen zu stellen. Noch vor 100 Jahren versuchte jede wissenschaftliche Schule mit ihrem eigenen Ursprungskonzept über einen möglichst geschlossenen Zusammenhang von Bühnen- und Schauspielentwicklung den Nachweis zu führen, dass es Theaterwissenschaft auf der Basis von Theatergeschichtsschreibung brauche: Die Aufführungen in der Geschichte beleuchten die in der Gegenwart.
Heute hat sich diese Situation völlig verkehrt. Die Theaterwissenschaft, als eine der drei Kunstwissenschaften, gehört zu den erfolgreichsten kleinen Fächern im universitären Angebot. Doch durch den Drang zur Homogenität und zur Harmonisierung, durch Globalisierung ausgelöst, schwinden Differenzierungsbemühungen und Problembewusstsein. Vom Mainstream abweichende Positionen ruhen in vergessenen [<< 15] Dissertationen, weggespült durch die Macht der Standardwerke, oder in entlegenen Artikeln, die nie das Netz der Welt erblicken werden. Insofern wandeln sich die Aufgaben in Forschung und Lehre. Den Überblick können sie den schnell erreichbaren Texten überlassen. Die Reibung zwischen Realprozess und Reflexion und der produktive Widerspruch zwischen beiden, samt Lücken und Tücken, wären darzustellen. Da Lesende auf den ersten Seiten eines Buches nach einer Antwort auf die Frage suchen, ob sich ein Weiterlesen lohnt, sei eine Entscheidungshilfe vorgeschlagen: Wessen bisheriges Verständnis von Theatergeschichte jenem entspricht, das im nun folgenden Abschnitt verknappt referiert wird, der liest das Buch vermutlich mit Gewinn.
Der Mainstream
Gab es einen Ursprung von Theater? Gab es mehrere Ursprünge? Die frühen Theaterwissenschaftler suchten stets nach einem Ursprung von Theater. 1903 wurde von Hermann Reich Theater aus dem Mimus hergeleitet, Artur Kutscher bezog sich auf die Mimik, George Thomson auf den Dionysoskult, Carl Niessen auf den Totenkult und Oskar Eberle schloss sich Kutscher an. Für das Mittelalter griff Edmund K. Chambers 1903 auf heidnische Frühlingsbräuche zurück, Karl Young später auf den Ostertropus und Robert Stumpfl auf germanische Kultspiele.5 Diese materialreichen, oft aber kompilatorischen Ansätze wurden von der nachfolgenden Forschung kritisiert, die seit der letzten Jahrhundertmitte eher von mehreren Ursprüngen für Theater ausgeht. Dennoch bleibt es im Einklang mit literaturwissenschaftlichen Konzepten im allgemeinen Theaterverständnis dabei, dass Theater in Form von Tragödie und Komödie im 6. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland entstanden sei. Als Beginn von Theater wird angesehen die Institutionalisierung der Tragödie im Zuge staatlicher Reformen bestimmter Feste und Wettbewerbe durch Peisistratos; abhängig vom Autor eventuell ergänzt durch den personalen Schöpfungsakt der Tragödie durch Thespis.6 Mit der Theaterform Tragödie entstehe nach einer solchen Lesart Theater, andere Formen wie Komödie oder Phlyakenposse, Atellane und Pantomimus treten hinzu. Sie alle vergehen spätestens im 5. Jahrhundert n.Chr. Das Theatervakuum setzt ein. Im 10. Jahrhundert entsteht dann Theater neu aus dem Ostertropus über die Osterfeier als geistliches Spiel. Das geschieht, bevor weltliches Schauspiel sich neu bilden kann; im deutschen Sprachraum um 1370.7 Bei einer besonders starken Betonung des Liturgie [<< 16] -bezugs des geistlichen Spiels wird für dieses der Ausdruck Theater zuweilen vermieden. Dann beginnt Theater erst mit dem weltlichen Schauspiel, mit den Fastnachtsspielen, mit dem Humanistendrama oder gar erst mit den professionellen Schauspielern der Commedia dell’arte. Das heißt, dem Theatervakuum folgt eine von mehreren Möglichkeiten der Wiederentdeckung oder Wiedergeburt von Theater im Mittelalter oder in der Renaissance. Die Streuung