Andreas Kotte

Theatergeschichte


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beiden Ebenen unterscheiden sich. Die Theatergeschichte besteht aus Prozessen, die die Theatergeschichtsschreibung erläutert. Es sind spezifische Beziehungen zwischen leibhaftig anwesenden Agierenden und Schauenden, welche in flüchtigen Ereignissen als eine kulturelle Praxis erfahrbar sind, die erst im Nachhinein partiell beschrieben werden kann. Die Schilderung kann sich aber wegen ihres unzulänglichen Mittels Sprache nur bis zu einem gewissen Grade den Geschehnissen oder Aufführungen annähern und erfolgt unter bestimmten Voraussetzungen zu bestimmten Zwecken, ist also subjektiv geprägt. Sie macht aus ihrer notwendigen Unvollkommenheit – Sprache [<< 13] erfasst nur schlecht Geschehen – die Tugend sinngebender Auswahl. Der Diskurs ist traditionsstiftend und insofern eine zweite kulturelle Praxis. Sie ist durch und durch paradox. Denn viel zu viel ist geschehen, ohne dass wir Kunde davon hätten. Trotzdem haben wir immer noch von viel zu viel Geschehen Kunde, als dass es aufschreibbar wäre. Und dann nennt sich auch noch ein Buch, das sich theaterhistoriografisch mit Theatergeschichte als Prozess beschäftigt, Theatergeschichte.

      Perspektivwechsel notwendig

      Die Forschungslage in der Theaterwissenschaft hat sich in den letzten 100 Jahren grundsätzlich verändert. Viele hochrangige Publikationen zu einzelnen Forschungsfeldern, zeitlich oder örtlich beschränkt, sind erschienen, gleichzeitig wichen die erbitterten Kämpfe der frühen wissenschaftlichen Schulen einem frag(en)losen Mainstream. Durch Zusammenfassungen aller Art wurden bestimmte Positionen zementiert. Zahlreiche Überblicksdarstellungen wurden in das Internet transponiert, sodass es nicht mehr an einer bestimmten Art von faktischer Übersicht mangelt, sie ist einfacher zu beschaffen denn je. Der Datenmangel ist einem Datenüberfluss gewichen, die monumentalen Werke sowie das Internet bieten ausreichend einzelne Fakten. Eine Einführung, die diesen Status quo reproduzierte, fände keine Legitimation.

      Laufende grundlegende Umgestaltungen des Studiensystems tragen im Übrigen dazu bei, dass den Studierenden vornehmlich Fakten in wohltemperierten und abgewogenen Dosen verabreicht werden, statt sie durch Problematisierungen zu belasten. Je mächtiger sich ein common sense über das, was Theatergeschichte sei, Bahn bricht, desto schwieriger wird es jedoch für Lernende, überhaupt noch Forschungsfragen zu stellen. Noch vor 100 Jahren versuchte jede wissenschaftliche Schule mit ihrem eigenen Ursprungskonzept über einen möglichst geschlossenen Zusammenhang von Bühnen- und Schauspielentwicklung den Nachweis zu führen, dass es Theaterwissenschaft auf der Basis von Theatergeschichtsschreibung brauche: Die Aufführungen in der Geschichte beleuchten die in der Gegenwart.

      Heute hat sich diese Situation völlig verkehrt. Die Theaterwissenschaft, als eine der drei Kunstwissenschaften, gehört zu den erfolgreichsten kleinen Fächern im universitären Angebot. Doch durch den Drang zur Homogenität und zur Harmonisierung, durch Globalisierung ausgelöst, schwinden Differenzierungsbemühungen und Problembewusstsein. Vom Mainstream abweichende Positionen ruhen in vergessenen [<< 15] Dissertationen, weggespült durch die Macht der Standardwerke, oder in entlegenen Artikeln, die nie das Netz der Welt erblicken werden. Insofern wandeln sich die Aufgaben in Forschung und Lehre. Den Überblick können sie den schnell erreichbaren Texten überlassen. Die Reibung zwischen Realprozess und Reflexion und der produktive Widerspruch zwischen beiden, samt Lücken und Tücken, wären darzustellen. Da Lesende auf den ersten Seiten eines Buches nach einer Antwort auf die Frage suchen, ob sich ein Weiterlesen lohnt, sei eine Entscheidungshilfe vorgeschlagen: Wessen bisheriges Verständnis von Theatergeschichte jenem entspricht, das im nun folgenden Abschnitt verknappt referiert wird, der liest das Buch vermutlich mit Gewinn.

      Der Mainstream