noch viel später, ab dem 17. Jahrhundert, bevor sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Wandel hin zu den audiovisuellen Medien Bahn bricht, der Theater mehr oder weniger marginalisiert.
Abb 1 Das Muster des gegenwärtigen Theaterverständnisses. (Quelle) [<< 17]
Eine solche Sicht auf Theater postuliert, dass erstens im ‚Abendland‘ vor der griechischen Tragödie und Komödie kein Theater existierte und dass man zweitens zwischen dem 5. und 10. Jahrhundert vergessen hatte, was Theater ist. Drittens suggeriert sie bei sehr oberflächlicher Betrachtung medialer Omnipräsenz, dass Theater nach seiner Wiederentdeckung in der Neuzeit und seiner Entwicklung vom Niederen zum Höheren sukzessiv durch audiovisuelle Medien ersetzt werde.8 Eine solche Ausgangssituation im Mainstream fordert eine Problematisierung der Theatergeschichte heraus.
Hauptfragen, Einschränkungen und Ziele
Worin werden die Ursprünge von Theater gesehen? Gab es ein Theatervakuum zwischen 530 und 930 und damit verbunden eine Wiederentdeckung von Theater im späten Mittelalter und in der Renaissance? Und wie verhalten sich Theater und Medien zueinander? Das sind jene drei Fragen, die den stärksten Einfluss auf das jeweilige Konzept und damit auf die Anlage eines neueren theaterhistoriografischen Werkes ausüben, gleichgültig, ob sie explizit gestellt werden oder unterschwellig eindringen. Mit ihnen berührt der historiografische Diskurs den Eigensinn der Theatergeschichte. Sie legen ein exemplarisches Vorgehen nahe, das weniger die Großtaten der Theatergeschichte aneinanderreiht, als ihre offenen Fragen versammelt: einen Überblick der befragenden Art. Eine solche einbändige Theatergeschichte bedarf vieler Einschränkungen. Sie kann nur fragmentarisch zeigen, wie Theaterformen synchron und diachron ineinander übergehen. Sie offeriert Wandel statt Entwicklung. Perioden können nicht komplett beschrieben werden, ganz im Sinne des Historikers Lord Acton: „Study problems, not periods.“9 Ebenso wenig angestrebt wird eine auch nur annähernd gleichwertige Repräsentation der Regionen Europas. Der europäische Blick mit Wurzeln in der deutschsprachigen Forschung muss nicht verleugnet werden. Denn neben substanziellen Arbeiten zum postkolonialen und interkulturellen Theater gibt es in der französischen und englischsprachigen Forschung inzwischen längst Theatergeschichten, die im ebenfalls entsprechend reduktionistischen Überblick die [<< 18] französische, englische, amerikanische oder globale Perspektive bevorzugen.10 Auch wird dem törichten Unterfangen entsagt, die Beispiele für szenische Vorgänge ‚repräsentativ‘ auswählen zu wollen, denn dies implizierte, es gäbe tatsächlich eine klare Hierarchie der Wertigkeiten. Jedes Vollständigkeitsgebot für den Bereich Theatergeschichte würde bedeuten, die konkreten Ereignisse auf weniger als den Umfang eines Wörterbucheintrags einzuschrumpfen, was ihnen ihre historische Dynamik nähme. Besser soll den zwangsläufig wenigen exemplarischen Beispielen wenigstens so viel Raum zugebilligt werden, dass sie ihre Widersprüche offenbaren können. Theatergeschichte als Ereigniskette endet gestern. Sie wird befragt durch Theaterhistoriografie, die Lesarten der Probleme sowie Anstöße zu überfälliger Forschung bietet.
Die Periodisierung
Wenn man bedenkt, dass die neuere Theatergeschichtsschreibung mindestens 22 verschiedene Periodisierungskriterien verwendet11, so wird die enorme Schwierigkeit für Studienanfänger deutlich, sich in den Überblickswerken zurechtzufinden. Die Ausrichtung von Büchern beispielsweise nach ökonomischen Merkmalen, nach der Abfolge von Monarchien, Sprachen, literarischen Bewegungen, nach architektonischen Räumen, Dramen oder Schauspielstilen sagen zweifellos etwas aus über die Autorinnen und Autoren, nämlich über den von ihnen bevorzugten Diskursrahmen und ihre Erkenntnisziele. Auf der Ebene der Theatergeschichte selbst können dabei stets dieselben Ereignisse behandelt werden, so zum Beispiel das Wirken eines Pedro Calderón de la Barca im 17. Jahrhundert.
Die tatsächliche Varietät der Gegenstände der Studien ist weit geringer, als es den Anschein hat. Eine Einführung kann nun entweder explizit einem Kriterium folgen, etwa der politischen Geschichte, oder den Versuch unternehmen, besonders zahlreiche Aspekte einzubeziehen. In beiden Fällen kann sie dem erwähnten Ziel, die Probleme der Theatergeschichte in den Mittelpunkt zu stellen, nicht gerecht werden. Im ersten Fall, weil ein einheitlicher Fokus die inneren Bewegungsmomente von Theater nicht zu erfassen vermag, zu viele davon ausblendet. Im zweiten Fall führt Eklektizismus zu Beliebigkeit. Außerdem zwingt die Darstellung als Text zu einem Nacheinander, wo eigentlich Parallelität durch Gleichzeitigkeit ausgedrückt werden müsste. Der reisende Arzt Thomas Platter etwa berichtet 1598 aus Avignon und 1599 aus Paris, ihm sind jedoch [<< 19] die Theaterverhältnisse auch in anderen Ländern wie Spanien, England und den Niederlanden bekannt.12
Durch eine Darstellung nach Regionen oder Staaten würden wiederum Zusammenhänge negiert, die vielleicht gerade die nicht involvierte Zeugenschaft betreffen. Jede Periodisierung drückt also einen Kompromiss aus. Sie kann aber stärker oder weniger stark regelnd ausgelegt werden. Das 16. Jahrhundert nur unter dem Gesichtspunkt der vieltägigen französischen Mysterienspiele oder des Shakespeare-Theaters zu betrachten, würde einengen, weil der Beginn des Jesuitentheaters oder die Anfänge der Commedia dell’arte oder das Zurücktreten des Humanistentheaters unterschlagen würden. Jenseits von Vollständigkeitsüberlegungen schält sich bei solcher Argumentation heraus, dass bei einem Primat der Erörterung von Theaterformen erstens die Periodisierung weder zu eng- noch zu weitmaschig gewählt werden darf und sie zweitens möglichst wenige Vorentscheidungen enthalten sollte, damit tatsächlich Theatergeschichte den Gegenstand der Untersuchung bildet. Die zurückhaltendste Periodisierung ist jene nach Jahrhunderten; sie wahrt den chronologischen Überblick, ohne territorial einzuengen. Ihr Schematismus deklariert offen, dass sie einen neutralen Hintergrund bildet, ohne jeden Anspruch, selbst zur Lösung theaterhistorischer Probleme beitragen zu können. Aus Material- und Platzgründen sowie Leserinteressen heraus können dann bestimmte Jahrhunderte zu Komplexen zusammengezogen werden.
Einteilung der Kapitel
Die Kapitelstruktur darf also weder nur einem Kriterium folgen (Monokausalität), noch darf sie zu viele Aspekte einbeziehen (Eklektizismus). Wenn sie sich aber periodisierend ganz auf die Nennung von Jahrhunderten zurückzieht, fehlt den Lesenden eine Wiedererkennungs-, Vergleichs- und Erinnerungsebene. Das schnelle Auffinden thematischer Komplexe wird erschwert. Deshalb sollten die Titel einen Orientierungscharakter besitzen. Taucht der Begriff „Nationaltheater“ auf, so wird ein ganzer Komplex von Ereignissen, Materialien und Literatur darüber angesprochen. Man hat davon gehört, vermag mit anderen Publikationen zu vergleichen und findet schnell den Abschnitt, in welchem darüber gehandelt wird. Es wird mittels solcher Signalwirkung die Auswahl von Beispielen offen gelegt, aber nicht behauptet, dass diese nun als die Leitthemen des Jahrhunderts gelten müssen.
Eine weitere Strukturierung nach einer übersichtlichen Anzahl von Kriterien erfolgt innerhalb der Kapitel, indem deren Abschnitte vorsichtig nach den Bereichen des [<< 20] inzwischen für die ältere Theatergeschichte erprobten Theatralitätskonzepts von Rudolf Münz ausgerichtet werden.13 Münz hatte Ende der 1980er-Jahre vorgeschlagen, die Theatralität einer Epoche zu ermitteln, indem Darstellungsweisen im außerkünstlerischen Bereich („Theater“), zum Beispiel Fürsteneinzüge oder öffentliche Hinrichtungen, zu den Spielweisen des Kunsttheaters (Theater) in Beziehung gesetzt würden; Gegenströmungen (‚Theater‘), die den Kunstbetrieb oder das alltägliche „Theater“ in seinen Macht stabilisierenden Zielen bloßstellen, wie etwa Formen der Giulleria oder der Commedia all’improvviso, müssten dabei ebenso berücksichtigt werden wie zu Theater eingenommene Haltungen, darunter Theaterablehnung (Nicht-Theater). Das Ganze sei ein sich veränderndes Gefüge: „Theatralität in diesem Sinne drückt ein Verhältnis aus, kein Verhalten, und ist zunächst wertfrei zu sehen; sie bezeichnet die historisch veränderliche, dynamische Relation von Theater