rel="nofollow" href="#u87246865-14e6-4f8f-8d6f-9eff55d0af69">Kap. 1.3, Seite 44). In Rom gewinnen solche Formen sogar die Oberhand gegenüber Komödie und Tragödie, die sich innerhalb eines breiten Spektrums Römischer Spiele zu behaupten versuchen (Kap. 1.4, Seite 51). Schwerpunktsverlagerungen bei der Entfaltung spezifischer Formen geschehen aber nie ohne Widerstand. Während Theater bis in seine griechische Institutionalisierungsphase des 6. bis 4. Jahrhunderts v. Chr. unbefragt zum allgemeinen Lebensprozess gehörte, gerät es nun allmählich in den Verdacht, parallele kulturelle Anstrengungen, nämlich die Konzeptbildungen der Philosophie, der Historiografie und der Religion sowie die jeweiligen Herrschaftsstrategien durch seine ästhetische Eigenart, mehrere Wahrheiten gleichzeitig gelten zu lassen, zu unterminieren (Kap. 1.5, Seite 56). Philosophen halten Theater für unehrlich, weil es nur nachahme. Historiker halten es für unwahr, weil es Zeiten, Orte und Figuren vermenge. Rhetoriker werten es gegenüber ihrer eigenen Kunst ab. Christliche Kirchenlehrer verwerfen es als zu heidnisch und zu körperlich. Ohne auf das Sprichwort „Viel Feind‘, viel Ehr‘“ auszuweichen, ist zuzugestehen: Es muss schon etwas ganz Besonderes sein, dieses Theater, wenn es auf solch massive Ablehnung und erdrückende Gegenmittel wie die Zensur stößt. Historisch ist die Theaterfeindschaft ein Glücksfall, denn oft sind die Verbote die einzigen erhaltenen schriftlichen Quellen zum Theaterleben. Andere Zeugen der Theatergeschichte haben die Zeit besser überstanden, vor allem einige Spielstätten (Kap. 1.6, Seite 65). Sie erhellen die Aufführungspraxis und den Stand der Theatertechnik sowie einige Verknüpfungen zwischen Theaterformen und Lebensprozess. [<< 25]
1.1 Frühe Theaterformen
Entstand Theater in Griechenland? – Es ist unbekannt, ob und wie die Menschen vor 40.000 Jahren die Jagd benannt haben, aber sie haben sie ausgeübt; analog verhielt es sich mit Theater. Sie benannten das Phänomen sicher nicht nach griechisch théa, die Schau, oder théatron, der Ort, von wo man schaut, sondern anders. Oder sie benutzten kein spezielles Wort für diesen Vorgang des Alltagslebens, diesen Teil des Überlebenskampfes zur Befriedigung sinnlich-vitaler Bedürfnisse nach Nahrung und Kleidung sowie produktiver Bedürfnisse nach Umweltkontrolle. Kommunikation geschah zum Zwecke der Koordination, szenische Vorgänge fungierten als Lernhilfen und Lustspender. Mit dem Zusammenprall von Homo sapiens und Neandertaler auf dem europäischen Festland geht die Phase zu Ende, in der der heutige Mensch seine Bedürfnisstruktur und seine kulturellen Fähigkeiten und Fertigkeiten ausprägte. Er spielt Instrumente, wie die bei Blaubeuren in Süddeutschland gefundene Knochenflöte zeigt, das mit 36.000 Jahren älteste Musikinstrument Europas.16 Aber für diese Zeit nehmen auch die Funde kleiner Terrakottafiguren zu. Eine Reliefplastik aus Amphibolitschiefer mit einem Alter von rund 32.000 Jahren stellt eine Frau, eventuell eine Schamanin, in bewegter Haltung nach oben weisend, dar. Sie wird die „Tanzende Venus vom Galgenberg“ genannt.17 Vor allem mehren sich die Felszeichnungen. Kreative Künstler, die das Löwenpanneau in der Höhle Chauvet im Süden Frankreichs zeichnen, haben vielfältige Bedürfnisse entwickelt, ihre Umwelt zu reflektieren, um sie zu kontrollieren.18 Sie vergewissern sich ihrer Andersartigkeit gegenüber den Tieren, sie kommunizieren über solche und mittels solcher Zeichnungen und Wandgemälde. Sie entwickeln damit produktive Bedürfnisse, um ihre Lage im Lebensumfeld zu verbessern. Musikinstrumente und Zeichnungen, auch Terrakottafiguren oder Abbildungen von Tänzerinnen und Schamanen beweisen nie zweifelsfrei, dass szenische Vorgänge stattgefunden haben. Aber die Ansicht, dass Menschen, die so hervorragend malen konnten und sogar Flöte spielten, daneben auch tanzten, sangen und mimisch darstellten, erscheint wesentlich plausibler als ihr Gegenteil. Die Kunst-, Musik-, Theater- und Tanzwissenschaft finden ihre Gegenstände spätestens in der Zeit vor etwa 40.000 Jahren. Da man nun annehmen muss, dass Schamanen [<< 26] oder Zauberer nicht stets nur allein für sich agierten, gibt es keinen Grund, die dann durch eine Verhaltensdifferenz zwischen Agierenden und Schauenden entstehenden szenischen Vorgänge nicht Theater zu nennen. Diese Menschen nehmen eine tätige Reflexion ihres eigenen und des gemeinschaftlichen Lebens vor und experimentieren mit ihrer Phantasie zu sozialen Zwecken.
Es macht daher Sinn, in einem kleinen Exkurs zwischen Theater und szenischen Vorgängen zu unterscheiden. Die szenischen Vorgänge stellen das Faktische dar, während Theater ein Begriff oder ein Name ist, den Zuschauende vergeben – oder auch nicht.19 Die einen halten eine Taufe für Theater, die anderen würden das nie tun, weil sie vom Statuswechsel des Kindes überzeugt sind. Beide Gruppen können an der Taufe teilnehmen und sie als ein hervorgehobenes und konsequenzvermindertes Geschehen, einen szenischen Vorgang, akzeptieren. Sie denken über die Konsequenzen des Geschehens graduell unterschiedlich, doch das stört ihr Einvernehmen nicht. Unter den an der Taufe Beteiligten entsteht ein Beziehungsgeflecht, die Situation. In dieser sind durch Handlungsdifferenzen Hervorhebungen möglich. Die Situation ist die kleinste und kompakteste verstehbare Einheit menschlicher Handlungszusammenhänge, eine Beziehung zwischen Menschen zu gleicher Zeit am gleichen Ort. Durch Bewegung geht sie in den Vorgang über.20 Handlungen können in Vorgängen des alltäglichen Lebensprozesses gegenüber anderen Menschen örtlich (z. B. Bühne), gestisch (z. B. Handstand), akustisch (z. B. Marktschreier) oder durch dingliche Attribute (z. B. Prunkgewänder) hervorgehoben sein. So wird graduell eine Verhaltensdifferenz gegenüber Zuschauenden hergestellt, wofür schon eines der Merkmale ausreicht. Handlungen können zugleich auch spielerisch erscheinen, das heißt graduell in ihrer Konsequenz vermindert sein, wie etwa ein Turnier gegenüber einer Schlacht. Sobald man in Vorgängen nun Hervorhebung und Konsequenz untersucht, sind vier verschiedene Varianten zu unterscheiden:
1. weder hervorgehoben noch konsequenzvermindert (z. B. Schlacht)
2. hervorgehoben, aber nicht konsequenzvermindert (z. B. öffentliche Hinrichtung)
3. nicht hervorgehoben, aber konsequenzvermindert (z. B. Kartenspiel)
4. hervorgehoben und konsequenzvermindert (z. B. Kriegstanz) [<< 27]
Nur die eine Kombination von hervorgehoben und konsequenzvermindert generiert szenische Vorgänge. Dies bewahrt das Konzept vor rein metaphorischem Wortgebrauch. In der Hervorhebung verbindet sich sinnliche Körperbewegung mit Sinnfälligmachung, das heißt eine Handlung kann in der Hervorhebung über sich selbst hinausweisen. Die Aufmerksamkeit der Zuschauenden wechselt dabei von den Körperbewegungen der Agierenden zur Wahrnehmung des Spielerischen im Hervorheben selbst. Sie wechselt vom „Was geschieht hier?“ zum „Wie geschieht es?“. Ein physischer Handlungsablauf und eine Kette von Handlungsmodi werden zugleich wahrgenommen. Daraus entsteht Wirkung. Der Lebensprozess bringt unaufhörlich szenische Vorgänge hervor. Sie existieren als ein kontinuierlich gespeistes, unerschöpfliches Potenzial, das soziale Phantasie freisetzt. Sie heißen szenisch, weil darin Inszenierung anklingt, mise en scène. Denn wie Hervorhebungsmerkmale benutzt werden, ist Teil von Inszenierung im Alltag, wie stark die Konsequenzen ausfallen, ebenso, beides unabhängig von jeder Diskussion über Theater (bottom-up). Irgendwann entscheiden sich dann diese oder jene Zuschauenden, diese oder jene szenischen Vorgänge Theater zu nennen oder nicht. Einige Zuschauende können die Hervorhebung eines Marktschreiers als gering erachten und ihn als Verkäufer bewerten, während andere ihm die Bezeichnung Straßentheater zuerkennen. Der Ausdruck „theatrale Vorgänge“ hingegen betont, dass Vorgänge bereits aus der Sicht eines Theater- oder Theatralitätsbegriffes betrachtet werden (top-down). Von szenischen Vorgängen im Alltag bis zu hochartifiziellen und komplexen Vorgängen wie etwa einer Opernaufführung reicht das synchrone Spektrum, dem sich die Theatergeschichtsschreibung zusätzlich asynchron veranschaulichend zu nähern versucht.
Die archäologischen Belege und Funde für szenische Vorgänge nehmen in der Jungsteinzeit drastisch zu. Yosef Garfinkel sammelte 400 Abbildungen von Tanzszenen