(nicht zu verwechseln mit der Spätform Satyrspiel) ernst genommen.45
Der Zusammenhang zwischen dem Gott Dionysos und der Tragödie stellt sich dann her erstens über einen Gott nicht nur des Weines, sondern auch der Verwandlung, der Wiedergeburt und der Maske, der von den Ägyptern Osiris gleichgesetzt wurde, zweitens über den Dithyrambos, das „Herrscher-Dionysos-Lied“46, das Chorlied zu Ehren des Dionysos, das zum Wechselgesang Exarchon-Chor ausgebildet wird, und drittens über die Dionysien als Feste sowie speziell die Städtischen Dionysien als kultischer Rahmen für Dithyramben-, Komödien- und Tragödien-Wettbewerbe.47
Historisch war der Dithyrambos eine Hymne an Dionysos, von einem Chor gesungen. Etwa 50 Männer oder Knaben standen im Kreis um den Altar. Der Preis bei den Dithyramben-Wettbewerben war ein Stier. Höchstwahrscheinlich stiftete der Dichter, der ihn erhielt, den Stier für ein Festessen, an dem seine Freunde teilnahmen. Gleichzeitig war dies ein Opfer für den Gott. Der Dichter fungierte als Exarchon, als Vorsänger, Anführer. Bei den Städtischen Dionysien trug der Staat alle Ausgaben für die Dithyramben-Wettbewerbe bis auf eine Ausnahme: Der Dichter musste den Flötenspieler selbst bezahlen. Dies könnte ein Hinweis sein, dass er in der Frühzeit selbst Flöte gespielt hat und den Chor anführte. Er improvisierte die Zeilen und begleitete den Refrain mit seinem Flötenspiel. Er könnte deshalb ursprünglich der Priester gewesen sein, der den Dionysos darstellte. Wenn die Tragödie im Zusammenhang mit dem Dithyrambos entstanden sein sollte, wie Aristoteles es will, erklärt das Fest durchaus das „Tänzerische“ und das „Satyrhafte“, es ergäbe sich für die Tragödie vor Aischylos etwa folgendes Modell:
Die Tänzer betreten singend den Platz, die spätere Orchestra (Parodos).
Sie stellen sich um den Altar herum auf und singen das erste Standlied (Stasimon) – aber nicht bewegungslos.
Der Dichter erscheint, der den Gott oder einen Helden darstellt.
Er führt einen Dialog mit dem Chor und tritt danach ab.
Der Chor singt das zweite Standlied. [<< 40]
Der Dichter kehrt zum Beispiel als Bote zurück. Er bringt die Nachricht vom Kampf oder vom Tode des Helden oder des Gottes.
Alle zusammen singen ein Klagelied und verlassen damit den Platz bzw. die Orchestra (Exodos).
Der gemeinsame Auftritt der Tänzer und ihr gemeinsamer Abgang gemahnen strukturell noch an pompé und kômos, die Auseinandersetzung, der Tod, das, was verhandelt wird, von fern an den agón.48 Der kultische Zusammenhang ergibt sich aus dem Wechselverhältnis von Mythos und Ritus. Mythos meint den erzählerischen kollektiven Erfahrungsschatz, der historische und vorgestellte Ereignisse verknüpft, Ritus das Ausagieren, Darstellen, samt der Ordnung sich bezüglich des Mythos wiederholender Handlungen. Wenn Kult den Erzählfundus und den Vorgang vereint, so ergibt sich folgendes Fazit: Es werden eher rituelle als mythische Elemente aus dem städtischen Dionysoskult für die Tragödie entlehnt, weil vor allem der Umzug, der Opfergang und die Rückkehr, begleitet von Gesängen, im Einzug und im Auszug des Chores ihre Entsprechung finden.
1.2.4 Vom Diachronen zum Synchronen
Die umfassendste neuere theaterhistorische Untersuchung aller Annäherungsweisen an das Problem der Tragödie unternahm Theo Girshausen. Wertvoll wird seine Darstellung durch die konsequente Berücksichtigung der Vorannahmen und Ziele, die sowohl das Hinterlassen von Dokumenten in der Antike betreffen als auch die Einbettung der jeweiligen späteren Schulen in den wissenschaftlichen Diskurs. Die griechische (Regional)Geschichtsschreibung war patriotisch geprägt und besaß starke Affinitäten zu Darstellungsmustern des Mythos, denn dieser ist der Bericht vom Anfang. Ist in der Lokalgeschichte gesagt, „wo ein bestimmtes Geschehen begonnen und insbesondere, wer es initiiert, wer es ‚begründet‘ hat, ist die Arbeit getan. In der Angabe des Anfangsgrundes (aition) einer Entwicklung besteht das Erklärungsprinzip der Historiker – der Anfang begründet nämlich ihr Wesen und Prinzip (arche).“49 Das teleologische Konzept der aristotelischen Tragödientheorie strebt ebenfalls auf ein Letztes, Begründendes, auf Ursprünge, obwohl sich Aristoteles von den Lokalhistorikern unterscheidet. Er hält sich gerade nicht an das Diktat, genaue Umstände und [<< 41] den Namen des Begründers zu nennen. Er verzichtet in der Poetik auf eine ‚Erfindung‘ und dennoch sucht er den Ursprung. Nur tritt an die Stelle fehlender Quellen bei ihm „ausdrücklich das Hörensagen (akoe)“, das, was seit jeher anonym über „die Urzeit der Tragödie“ berichtet wurde. Er interpretiert Anfangsgründe, aus denen philologische und kulturwissenschaftliche Theorien elaboriert werden, die Girshausen einzeln befragt, bevor er zu folgendem Schluss kommt: Wenn auch eine attische Entstehung der Tragödie unglaubhaft erscheint, jene vom Satyr-Dithyrambos der Peloponnes mehr Anhänger besitzt, so sind doch beide vom „lokalpatriotischen Interesse“ geprägt. Vor allem von Aristoteles kann kaum etwas aufrechterhalten werden. Wie kommt die Tragödie vom Peloponnes (Korinth) nach Athen? Reicht Thespis als Stützpfeiler der Legende? Das „Problem dieses missing link zwischen Entstehungs- und Vollendungsort“ bleibt bestehen. Wenn nun Historiker die eine oder andere These zu beweisen versuchen, laufen sie Gefahr, „das antike Geschäft der Historisierung des Mythos einfach fortzusetzen“. Alle „Renaissancen der antiken Kultur hatten stets ein zeitspezifisches Motiv“. Philologen und Anthropologen hofften „am paradigmatischen Fall der Antike Erklärungen zu bieten für das Entstehen der Kultur“ und „über ihre Zukunft“.50 Die methodischen Defizite der Ansätze sind ein Ausdruck des Scheiterns ihrer grundlegenden Erkenntnisintention. Philologie und Anthropologie geraten an ihre Grenzen, weil vom Überlieferten auf immer Älteres, Ältestes geschlossen wird, um die Wirkursachen zu finden. So kamen die Kernaussagen zustande: „Arion in Korinth, Thespis aus Ikaria, Natur-, Seelen-, Toten- und Heroenfeiern, Vegetationsritus – mit all diesen Formeln sollte die Frage nach der Urform der Tragödie beantwortet werden.“ Es sind dies positivistische Anschauungen des 19. Jahrhunderts. Das Ziel war immer eine gesetzmäßige Entwicklung in Phasen, eine stringente Beweisführung. Von dieser Argumentationsfigur aus fällt nun die methodische Grenze der Hypothesen auf: Sie können keine bruchlosen Kontinuitäten zwischen Vorformen und reifen Formen von Theater aufzeigen. Überall fehlt stets „das Verbindungsglied“. Jede Theorie reicht bis „an die Stelle, wo sich der Spalt auftut“ zwischen „den Formen des Theaters und den ihnen vorausliegenden ‚Vorformen‘“.51 Wie Kultur zustande kommt, bleibt ungeklärt.
Deshalb rückt Girshausen vom entwicklungsgeschichtlichen Ansatz ab, will lieber antike Kultur als eine innere Einheit, ein System begreifen, das aus sich heraus als solches zu verstehen ist. Im Wechsel vom Diachronen zum Synchronen geht es dann nur um das Resultat als kohärenter Zustand. Auch synchron kann über jeweils frühe [<< 42] und früheste Formen von Theater gesprochen werden. Aber Girshausen schränkt auf die institutionalisierten Formen von Theater ein, ebenso auf die Annahme, Theater überhaupt etabliere sich erst mit der Tragödie. Lässt man dies beiseite, kann man Girshausens Argumentation, man müsse die Tragödie mit soziologischem Blick als „absolute soziale Tatsache“ apostrophieren, folgen. Die Theaterform Tragödie „setzt sich als eigener soziokultureller Zusammenhang allen anderen gerade entgegen“.52 Die Differenz ist formbildend. Der Autor untersucht in seinem synchronen Ansatz, jeweils sui generis, die Institutionen Kult, Polis und Theater, die sich in ihrem Zusammenhang gegenseitig erhellen.
Ob nun die Heroenlegenden der Epen des Homer in den Vordergrund rücken oder das von Aristoteles aufgeworfene Problem des Satyrhaften, Satyrischen samt den Mythen über die Leiden des Dionysos, keine Entwicklungstheorie ist schlüssig. Weder die Vermutung, der erste Schauspieler sei der ehemalige Homer-Rhapsode,