href="#ulink_8de2afd0-b57b-5042-bb72-bbe6aa84b8ca">28 Bei Pindar heißt es später im 5. Jahrhundert v. Chr.: „Aber Homer hat ihm [Aias] ja die Ehre bei den Menschen wiedergegeben, der seine ganze Tüchtigkeit aufgerichtet und verkündet hat nach dem Stabe göttlicher Worte, sodass sie die Kommenden besingen können. Denn dies schreitet unsterblich klingend dahin, wenn jemand etwas schön sagt.“29 Der Rhapsode schreitet durch den Mythos wie durch eine ferne, wechselvolle, den gegenwärtig Zuhörenden nur teilweise bekannte und deshalb zu erklärende Gegend. Den Stab nutzt er als Wanderstab und als Symbol dichterischer Autorität; er ist das Erkennungsmerkmal des Trägers göttlicher Worte. Der Stab gilt – wie im Mittelalter – als ein Zeichen von Herrschaft. Neben dem Rhapsoden halten ihn der König oder der Richter, auch der Redner in der Volksversammlung, jeweils also derjenige, dem alle zuhören müssen. Vom Baum des Apollon geschnitten erhebt er auch den Sänger zu göttlicher Würde; so erscheint er als Sprecher einer ganzen Gemeinschaft.
Der Rhapsode zeigt paradigmatisch, wie szenische Vorgänge, die Theater genannt werden können, aus dem Lebensprozess erwachsen. Denn das Erzählen vor anderen im Kreis der Familie ist kulturelles Allgemeingut. Es erfährt beim Rhapsoden eine Steigerung durch besonderes Talent, eine außergewöhnliche Gedächtnisleistung, Übung, Charisma sowie durch rhetorische und spielerische Fähigkeiten. Während ein literarisch geprägter Theaterbegriff des 19. Jahrhunderts einen Thespis benötigte, der Theater erfunden haben soll, so genügt es innerhalb eines Konzeptes mit synchron existierenden Theaterformen, auf Beispiele wie den Rhapsoden zu verweisen, die zeigen, wie sich Theater seit einigen tausend Jahren aus Alltagsvorgängen herausgebildet hat.
1.2 Zur Frühgeschichte der griechischen Tragödie
Man muss sehr genau benennen, was vom Beispiel Griechenland zu erwarten ist, wenn es prononciert in den Mittelpunkt gestellt wird. Aufgrund einer besonders guten Materiallage scheint neben der Geschichte des Theaterbaus die Institutionalisierung einiger Theaterformen jener Aspekt von Theaterhistoriografie zu sein, der zur traditionellen Überrepräsentanz griechischen Theaters im Diskurs geführt hat.
In der Literatur findet sich eine Vielzahl von philologischen und kulturhistoriografischen Theorien zur Tragödie, die einander widersprechen oder ergänzen. Bis heute [<< 33] besteht die Gefahr, modellhafte, plausible Erklärungsansätze zu verallgemeinern und einzelne Sachverhalte als die entscheidenden überhaupt auszugeben. Aber über die Elemente, die in der Tragödie zur Geltung kommen, besteht weitgehend Einigkeit. Dies sind alltägliche szenische Vorgänge (Machtdemonstrationen, Vereinzelung des Sprechers), personifizierbare schöpferische Aktivitäten (Rhapsoden, Thespis), religiös-rituelle Zusammenhänge der Festkultur, darunter Dionysosverehrung, Heroenkult, Totenklage und Mysterienpraxis.30
Bestimmte szenische Vorgänge des Alltags werden zu allen Zeiten recht direkt in solche überführt, die Theater genannt werden können. Machtdemonstrationen auf der Handlungsebene von Tragödien stellen zum Beispiel Aktualitätsbezüge her, die Vereinzelung des Sprechers geschieht auch in der Heeres- oder der Volksversammlung. Was hier vor allem übertragen wird, ist der Gestus, das Wie des Handelns. Rhapsoden sind Allround-Schauspieler, Sänger und Sprecher, die auch mit Instrumenten umzugehen pflegen. Ihre Aktivitäten decken sich weitgehend mit denen, die man Thespis aus Ikaria nachsagt. Ein möglicher anteiliger Schöpfungsakt Thespis’ für die Tragödie wäre insofern begründbar, dass sie zwei Visionen vermittelt, zum einen den Blick des Helden auf sich selbst und zum andern den Blick des Chores auf ihn. Drei Nachrichten verweisen auf Thespis: Erstens eine Notiz in der parischen Marmorchronik, dem Marmor Parium, einer aus Paros stammenden hellenistischen Chronik, die in Fragmenten die Zeit von 1582 bis 298 beleuchtet, abgefasst etwa 263 v. Chr. Danach habe Thespis um das Jahr 534 in Athen das erste Mal ein Drama zur Aufführung gebracht.31
Zweitens lässt Aristophanes in seinen Wespen den Sklaven Xanthias sagen:
„Dionysos, nein, ist das ein Wirrwarr jetzt,
Als hätt ein Dämon uns das Haus verdreht!
Der Alte soff den ganzen Abend, ließ
Sich Flöte blasen, und vor lauter Lust
Und Jubel hört er gar nicht auf zu tanzen
Die alten Tänz, in denen Thespis glänzte:
Die heut’gen Tragiker, sagt er, seien Gimpel,
Er wolle gleich sie all zuschanden tanzen!“32[<< 34]
Drittens heißt es bei Themistios (317 – 388), Bezug nehmend auf Aristoteles, dass Thespis der Erfinder des Prologs und der Schauspielerrede gewesen sei.33
Es ist nachvollziehbar, dass literaturhistorische Untersuchungen nach einem logischen Erklärungszusammenhang forschen und zu der Behauptung tendieren, Thespis habe den Einzelschauspieler dem Chor gegenübergestellt sowie Prolog und Rhesis erfunden. Im Prolog hätte der Dichter, wahrscheinlich in Analogie zu den Homer-Rhapsoden, dem Publikum in Kürze die Thematik seines Vortrages unterbreitet. Vielleicht wären die einleitenden Worte von der Bitte um eine möglichst wohlwollende Aufnahme seiner Darbietung durch das Publikum begleitet gewesen. Joachim Latacz rundet seine Zusammenstellung der Thespis-Indizien mit dem Satz ab: „Sowenig wir infolgedessen auch von Thespis wissen: es genügt für die Vermutung, dass er tatsächlich der eigentliche Initiator der europäischen Tragödie gewesen ist“.34 Die Theaterhistoriografie kann vielleicht ein Stück weit der Argumentation folgen, zumindest eine historische Person Thespis annehmen, die als Schauspieler agiert hat, aber die überkommenen Nachrichten erlauben keine sichere Antwort auf die Frage nach dem Auftreten eines sogenannten ersten Schauspielers. Dafür sind sie sämtlich zu jung. 422 v. Chr. erscheint der Name Thespis lediglich als Tänzer im Umfeld der Tragödie, im 3. Jahrhundert v. Chr. kommt die ungefähre Datierung 534 hinzu und erst im 4. Jahrhundert n.Chr. wird plötzlich die Erfindung des Prologs und der Schauspielerrede durch Thespis behauptet. Außerdem berichtet die parische Marmorchronik bereits für die Zeit von 581 – 561 v. Chr. von ersten dramatischen Aufführungen in Athen, sie seien komödiantischer Art gewesen. Dies verweist auf das Dionysos-Fest im Heiligtum des Lenaion. Dass man sie nur wegen einer stärkeren rituellen Bindung nicht Theater nennen dürfte, ist eine willkürliche Entscheidung.35 Wird also überhaupt ein logischer Zusammenhang zwischen den drei Nachrichten aus neun Jahrhunderten hergestellt, so könnte dieser ein Modell bezeichnen und wäre als solches wertvoll. Ein Modell abstrahiert vom konkreten Geschichtsverlauf zugunsten eines besonders leicht fasslichen und anschaulichen Konstrukts im Sinne von Erfindung, Schöpfung, Initiator, das in ein Entwicklungskonzept passt; es ist aber dem historischen Geschehen inkongruent. [<< 35]
1.2.1 Tragödie ohne Dionysos?
Die religiös-rituellen Zusammenhänge der Festkultur, die auf die Tragödie einwirkten, werden in den meisten Werken zur griechischen Tragödie, auch bei Joachim Latacz, gründlich dargestellt. Es geschieht dabei eine kulturhistorische Einbettung der Tragödie in Dionysosverehrung, Heroenkult, Totenklage und Mysterienpraxis. Völlig anders nähert sich Gerald F. Else dem Gegenstand. Er beschränkt das Phänomen Tragödie auf die Personen Thespis und Aischylos. Der Inhalt der ersten Tragödien sei der Handlungswelt des homerisch-epischen Sagenkreises entnommen. Es gebe keinen dionysischen Zusammenhang, außer dass die Tragödien anlässlich der städtischen Dionysien aufgeführt worden sind.36 Ein kurzer Weg führt von Homer über die Rhapsoden, die dessen Werke nicht nur rezitieren, sondern seine Figuren auch spielen, zu Thespis und Aischylos. Nicht Götter oder Dämonen, Dionysos oder