Andreas Kotte

Theatergeschichte


Скачать книгу

href="#ulink_8de2afd0-b57b-5042-bb72-bbe6aa84b8ca">28 Bei Pindar heißt es später im 5. Jahrhundert v. Chr.: „Aber Homer hat ihm [Aias] ja die Ehre bei den Menschen wiedergegeben, der seine ganze Tüchtigkeit aufgerichtet und verkündet hat nach dem Stabe göttlicher Worte, sodass sie die Kommenden besingen können. Denn dies schreitet unsterblich klingend dahin, wenn jemand etwas schön sagt.“29 Der Rhapsode schreitet durch den Mythos wie durch eine ferne, wechselvolle, den gegenwärtig Zuhörenden nur teilweise bekannte und deshalb zu erklärende Gegend. Den Stab nutzt er als Wanderstab und als Symbol dichterischer Autorität; er ist das Erkennungsmerkmal des Trägers göttlicher Worte. Der Stab gilt – wie im Mittel­alter – als ein Zeichen von Herrschaft. Neben dem Rhapsoden halten ihn der König oder der Richter, auch der Redner in der Volksversammlung, jeweils also derjenige, dem alle zuhören müssen. Vom Baum des Apollon geschnitten erhebt er auch den Sänger zu göttlicher Würde; so erscheint er als Sprecher einer ganzen Gemeinschaft.

      Der Rhapsode zeigt paradigmatisch, wie szenische Vorgänge, die Theater genannt werden können, aus dem Lebensprozess erwachsen. Denn das Erzählen vor anderen im Kreis der Familie ist kulturelles Allgemeingut. Es erfährt beim Rhapsoden eine Steigerung durch besonderes Talent, eine außergewöhnliche Gedächtnisleistung, Übung, Charisma sowie durch rhetorische und spielerische Fähigkeiten. Während ein literarisch geprägter Theaterbegriff des 19. Jahrhunderts einen Thespis benötigte, der Theater erfunden haben soll, so genügt es innerhalb eines Konzeptes mit synchron existierenden Theaterformen, auf Beispiele wie den Rhapsoden zu verweisen, die zeigen, wie sich Theater seit einigen tausend Jahren aus Alltagsvorgängen herausgebildet hat.

      1.2 Zur Frühgeschichte der griechischen Tragödie

      Man muss sehr genau benennen, was vom Beispiel Griechenland zu erwarten ist, wenn es prononciert in den Mittelpunkt gestellt wird. Aufgrund einer besonders guten Material­lage scheint neben der Geschichte des Theaterbaus die Institutionalisierung einiger Theaterformen jener Aspekt von Theaterhistoriografie zu sein, der zur traditionellen Überrepräsentanz griechischen Theaters im Diskurs geführt hat.

      Zweitens lässt Aristophanes in seinen Wespen den Sklaven Xanthias sagen:

      „Dionysos, nein, ist das ein Wirrwarr jetzt,

      Als hätt ein Dämon uns das Haus verdreht!

      Der Alte soff den ganzen Abend, ließ

      Sich Flöte blasen, und vor lauter Lust

      Und Jubel hört er gar nicht auf zu tanzen

      Die alten Tänz, in denen Thespis glänzte:

      Die heut’gen Tragiker, sagt er, seien Gimpel,

      1.2.1 Tragödie ohne Dionysos?