Anke Ortlepp

Geschichte der USA


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der Hauptverkehrswege. ChicagoChicago entwickelte sich zum westlichen Knotenpunkt eines nationalen EisenbahnnetzesEisenbahnAntebellum, das bis 1860 auf über 30.000 Meilen anwuchs und damit etwa so lang war wie alle in der Welt verlegten Schienenstränge zusammen. Die Reise von BostonBoston nach St. LouisSt. Louis, Missouri, die 1830 noch gut zwei Wochen gedauert hatte, konnte man nun mit einigem Glück in drei Tagen absolvieren. Um diese Zeit war auch schon eine transkontinentale EisenbahnlinieEisenbahnAntebellum geplant, die aber erst nach Ende des Bürgerkrieges vollendet werden konnte. Kennzeichnenderweise wurden allerdings zwei Drittel aller BahnstreckenEisenbahnAntebellum im Norden gebaut und verliefen in Ost-West-Richtung. Die Tatsache, dass es 1860 nur drei Nord-Süd-Verbindungen gab, weist auf die zunehmende wirtschaftlicheWirtschaft Sonderentwicklung des Südens hin. Parallel zum Eisenbahn-BoomEisenbahnAntebellum revolutionierte der TelegraphTelegraph, mit dem Samuel MorseMorse, Samuel 1844 erste Experimente zwischen Baltimore und WashingtonWashington, D.C. unternommen hatte, das Kommunikationswesen. 1860 waren bereits 50.000 Meilen Kabel verlegt, denn man erkannte schnell, welch enorme Bedeutung diese Neuerung für Verkehr, WirtschaftWirtschaft und FinanzenFinanzwesenAntebellum – und nicht zuletzt auch für die Kriegführung – haben würde.

      Die Initiativen zur Verbesserung der Infrastruktur gingen ganz überwiegend von den Einzelstaaten und nicht von der Bundesregierung aus. In der Regel erteilten die Parlamente privaten Aktiengesellschaften (corporations) per Gesetz Charters, die als Rechtsgrundlage zum Bau von Straßen, KanälenKanäle und EisenbahnlinienEisenbahnAntebellum dienten. Häufig erwarben die Staaten dann mit Steuergeldern Aktien der von ihnen zugelassenen Gesellschaften. Dieses System des „StaatenmerkantilismusMerkantilismus“ stand im Einklang mit der restriktiven Auslegung der Bundesverfassung, wie sie die RepublicansRepublicans (Jefferson) seit JeffersonsJefferson, Thomas Präsidentschaft praktiziert hatten. Es wurde gefördert durch die Bereitschaft der Gerichte, den Einzelstaaten in wirtschaftlichen Angelegenheiten einen großen Ermessensspielraum zuzubilligen und Privatinteressen, etwa in Fragen der Landenteignung für den Bau von Verkehrswegen, hinter das Wohl der Gemeinschaft zurückzustellen. Das common lawCommon Law-Konzept des unantastbaren Eigentumsrechts wurde dabei unter Verweis auf die „soziale Nützlichkeit“ und die Souveränität des Volkes umgeformt und mit der Notwendigkeit wirtschaftlicherWirtschaft Entwicklung in Einklang gebracht. Während sich also die Bundesregierung – teils absichtlich, teils notgedrungen – passiv verhielt, griffen die Einzelstaaten durchaus aktiv lenkend und ordnend in das WirtschaftsgeschehenWirtschaft ein. Dieses Commonwealth System genannte dezentrale Entwicklungsmodell war in den 1820er Jahren schon so sehr im Bewusstsein der Menschen verankert, dass sich John Quincy AdamsAdams, John Quincy’ und Henry ClaysClay, Henry nationales American SystemAmerican System (Henry Clay) nicht mehr durchsetzen konnte.

      Aus der Präferenz für das Commonwealth SystemCommonwealth System erwuchsen nicht unwesentliche Gefahren für die Autorität und den Zusammenhalt des Bundesstaates, die der von John MarshallMarshall, John geleitete Supreme CourtSupreme CourtVerfassung abzuwehren bemüht war. Im Fall McCulloch v.MarylandMcCulloch v.Maryland (1908)Maryland bestätigte das Gericht 1819 die von Maryland angefochtene Verfassungsmäßigkeit der Zweiten NationalbankFinanzwesenAntebellum mit dem Hinweis, die Gründerväter hätten nicht beabsichtigt, die Bundesregierung von den Einzelstaaten abhängig zu machen. In Gibbons v.Ogden (1824)Gibbons v.Ogden (1824) hob MarshallMarshall, John ein vom Staat New YorkNew York verliehenes Schifffahrtsmonopol auf dem HudsonHudson River auf, weil es im Widerspruch zum Recht des Kongresses stand, den Handel zwischen den Staaten (interstate commerce) zu regulieren. Auf diese Weise wirkte der SupremeSupreme CourtWirtschaftspolitik Court der Errichtung von internen Handels- und Verkehrsschranken entgegen und unterstrich demonstrativ den Vorrang der Bundesverfassung vor einzelstaatlichen Gesetzen und Maßnahmen. Mit seiner Strategie, der Bundesregierung einen möglichst weiten Handlungsspielraum zu erhalten und gleichzeitig die Eigentumsrechte von Individuen und inkorporierten Gesellschaften gegen Eingriffe der Staaten zu schützen, geriet MarshallMarshall, John jedoch immer mehr in die Defensive. Als er 1835 starb, stand eindeutig die Doktrin der statesrights im Vordergrund, deren zentrifugale Dynamik die Unionsbande erheblich lockerte.

      LandwirtschaftLandwirtschaft und frühe IndustrialisierungIndustrialisierung

      Das wirtschaftlicheWirtschaft Wachstum nahm seinen Ausgang von der Erweiterung der Anbaufläche und der Kommerzialisierung der LandwirtschaftLandwirtschaftKommerzialisierung (1. Hälfte 19.Jh.). Dieser Vorgang erfasste die gesamte Union, trug jedoch regionalspezifische Züge und hatte unterschiedliche Konsequenzen. Enorme agrarische Steigerungsraten erzielte der NordwestenNordwesten, wo die neu entstehenden Familienfarmen Getreide, vor allem Mais, anbauten sowie Fleisch und Milchprodukte erzeugten. Technische Neuerungen wie die von John DeereDeere, John verbesserten Pflugscharen und Mäh- und Dreschmaschinen, die sich schon in den 1840er Jahren durchsetzten, trugen wesentlich zu diesem Boom bei. Die Farmer mussten über den Eigenbedarf hinaus für den Markt produzieren, weil sie nur so die Schuldverpflichtungen erfüllen konnten, die sie für den Aufbau ihrer Existenz notgedrungen eingegangen waren. Dadurch wurden sie allerdings auch von dem oft schwer durchschaubaren Marktgeschehen abhängig, insbesondere von der Zinsentwicklung und den schwankenden Getreidepreisen, die in den Krisen von 1819–1823 und 1839–1843 viele Familien zur Aufgabe und zum Abwandern in die Städte zwangen. Hier suchten sie Arbeit in den Industrien, die inzwischen im Zusammenhang mit der LandwirtschaftLandwirtschaftKommerzialisierung (1. Hälfte 19.Jh.) entstanden waren: in den Schlachthöfen und bei der Fleischverpackung; beim Landmaschinenbau, in der Holzverarbeitung und in Brauereien. Während St. LouisSt. Louis, Missouri weiterhin das „Tor zum WestenWesten“ bildete, stieg ChicagoChicago zum wirtschaftlichenWirtschaft Kraftzentrum des Mittleren WestensMittlerer Westen auf. Hier vollzog sich am anschaulichsten der Übergang vom konkreten geographischen Ort „Markt“, auf dem die Farmer ihre Erzeugnisse verkauften, zum komplexen und abstrakten ökonomischenWirtschaft System „Markt“, das Vieh, Getreide und andere Produkte in standardisierte, industrialisierte Waren verwandelte und in Geldwerte umsetzte.

      Entscheidende Bedeutung für die gesamte Region erlangte jedoch der Austausch mit den Ostküstenstaaten, der durch die neuen Verkehrswege ermöglicht wurde. Nachdem man gelernt hatte, Eis zur Kühlung von Eisenbahnwaggons zu nutzen, lieferte der Mittlere WestenWesten nahezu jahreszeitunabhängig Lebensmittel an die Küste. Auf diese Weise wurden die Voraussetzungen für das Entstehen einer MassenkonsumgesellschaftGesellschaftAntebellum geschaffen. Der NordostenNordosten konnte sich nun zunehmend auf Handel, Bankwesen und Industrie spezialisieren, wobei die großen Städte BostonBoston, New YorkNew York City und PhiladelphiaPhiladelphia als Motoren des Wachstums fungierten. Die LandwirtschaftLandwirtschaftKommerzialisierung (1. Hälfte 19.Jh.) hatte in den Neuenglandstaaten stets mit ungünstigen Voraussetzungen zu kämpfen gehabt und kam nun gegen die billige Konkurrenz aus dem Westen nicht mehr an. Da auch der Nordatlantikhandel wegen des starken britischenGroßbritannien Wettbewerbs an Lukrativität einbüßte, erkundeten die Kaufleute neue Möglichkeiten in LateinamerikaLateinamerika, im pazifischen Raum und in AfrikaAfrika. In immer stärkerem Maße floss Handels- und Bankkapital nun aber in Manufakturen und Industriebetriebe. Hierfür wählten die Händler-Unternehmer seltener die Form der inkorporierten Aktiengesellschaft als Partnerschaften oder die alleinige Firmenführung, um möglichst frei von staatlicher Regulierung zu bleiben. Ausgehend von NeuenglandNeuengland (s.a. Nordosten, Regionen), wurde das traditionelle Handwerkswesen – oft über die „protoindustrielle“ Zwischenstufe der Verlags- oder Heimarbeit – allmählich durch das neue System der FabrikarbeitArbeiter ersetzt. Arbeitsteilung und Mechanisierung zur Senkung der Kosten und zur Steigerung der Produktion ließen in den 1820er Jahren eine Textilindustrie, im Jahrzehnt darauf auch eine Schuhindustrie entstehen. Die ersten Fabrikbelegschaften rekrutierten sich aus FarmerstöchternFrauenArbeitArbeiterFrauen, die in den großen Textilbetrieben von LowellLowell und WalthamWaltham in MassachusettsMassachusetts zu Tausenden unter strenger Disziplin nahezu kaserniert lebten. Viele dieser mill girls empfanden die bescheiden entlohnte Tätigkeit (die sie in der Regel nur bis zur Heirat ausübten) dennoch als Befreiung aus der völligen Abhängigkeit von ihren Familien. Ab 1840 bildeten dann die europäischen EinwandererEinwanderungJahrhundertmitte (19.Jh.) ein größeres und billigeres Reservoir an industriellen ArbeitskräftenArbeiter.

      Zwischen 1840 und 1860 nahm die unternehmerische