Anke Ortlepp

Geschichte der USA


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wirkten der Ausbildung von Klassenbewusstsein entgegen. Die Amerikaner fühlten sich jedoch hin- und hergerissen zwischen der Hoffnung auf Befreiung, Verbesserung und „Zivilisierung“ des Individuums und dem Verlangen nach sozialer Ordnung, Stabilität und Disziplin. Auf der einen Seite nahm das traditionelle, von Vorstellungen der Erbsünde beeinflusste Menschenbild im Zuge der religiösen Erweckungsbewegungen und durch die Vermittlung europäischen Gedankenguts positivere Züge an: Die Natur des Menschen galt nun im Prinzip als gut, und der GesellschaftGesellschaftAntebellum wurde die Aufgabe gestellt, dem Einzelnen die freie Entfaltung seiner Anlagen und Fähigkeiten zu ermöglichen. Die Erwartung des Millenniums ging allmählich über in die Hoffnung, die Menschen ließen sich schon im Diesseits „perfektionieren“. Andererseits empfanden gerade wohlsituierte Angehörige der Mittelschicht die Entstehung eines ungebildeten, „unmoralischen“ Proletariats aus IndustriearbeiternArbeiter und Neueinwanderern als beängstigend. Dem Bemühen, diese Widersprüche zu lösen, entsprangen die vielfältigen Reformbestrebungen, die zu den auffallendsten kulturellen Erscheinungen der Epoche zählen. Den religiösen Hintergrund des Reformeifers erkannte schon Alexis de TocquevilleTocqueville, Alexis de, der die USA Anfang der 1830er Jahre bereiste und in seinem Buch De la Démocratie en AmériqueDe la Démocratie en Amérique (1835) schrieb, in der Neuen Welt gehe der Geist der Religiosität mit dem Geist der Freiheit Hand in Hand, und das gesellschaftlicheGesellschaftAntebellum Gefüge der Vereinigten Staaten ruhe auf den moralischen Grundsätzen der christlichen ReligionReligion.

      Die ReformbewegungReformbewegungen1. Hälfte 19.Jh. hatte ihren Ursprung in dem so genannten burned-over district im westlichen New YorkNew York um die Stadt RochesterRochester, New York, wo der presbyterianischePresbyterianer Prediger Charles G. FinneyFinney, Charles G. zur Zeit des Kanalbaufiebers in den 1820er Jahren ein revival auslöste, das bald alle protestantischen Bekenntnisse erfasste. Die Wirkungen reichten weit über die religiöse Sphäre und über den Staat New York hinaus. Von Anfang an kennzeichnend war die starke Beteiligung von FrauenReformbewegungen1. Hälfte 19.Jh.FrauenReformbewegungen aus der Mittelschicht. Sie ergriffen die Gelegenheit, der Passivität und Isolierung zu entrinnen, die durch die strikte Rollenverteilung in der bürgerlichen Familie gefördert wurden. Der Strom der religiös-reformerischen Aktivitäten teilte sich im Wesentlichen in zwei Richtungen auf: Einerseits war ein Hang zum Separatismus und zum Entwurf utopischer Gegenwelten zu beobachten, andererseits eine weltoffene Verbindung von Religiosität, IndividualismusIndividualismus und sozialem Engagement. Zur ersten Kategorie gehörten die ShakerShaker, deren Name von einem rituellen Tanz herrührt und die in den 1840er Jahren im NordostenNordosten und NordwestenNordwesten ca. 20 Gemeinden mit 6000 Mitgliedern bildeten. Sie führten ein eheloses, zölibatäres Leben, bekannten sich zur Gleichheit der Geschlechter und betrauten häufig FrauenFrauenReformbewegungen mit Führungsaufgaben. Stärker weltliche, teilweise schon frühsozialistischeSozialismus Züge trugen die Gemeinschaftsexperimente von New HarmonyNew Harmony, Indiana in IndianaIndiana, von Brook FarmBrook Farm, Massachusetts in MassachusettsMassachusetts und von OneidaOneida, New York im westlichen New York. New HarmonyNew Harmony, Indiana wurde 1825 von dem schottischen Industriellen und Philanthropen Robert OwenOwen, Robert als Village of Cooperation gegründet, in dem alle Mitglieder völlig gleichberechtigtReformbewegungen1. Hälfte 19.Jh. zusammenleben und -arbeiten sollten. Obwohl das Projekt keine lange Lebensdauer hatte, entstanden immer wieder neue Gemeinden von OwenitesOwenites. In Brook FarmBrook Farm, Massachusetts suchte ab 1841 eine Gruppe Bostoner Bürger, darunter die Schriftsteller Ralph Waldo EmersonEmerson, Ralph Waldo und Nathaniel HawthorneHawthorne, Nathaniel, die ideale GesellschaftGesellschaftAntebellum und die Synthese von Geist und Natur zu verwirklichen. Die Oneida Perfectionists lehnten jede Form von Privatbesitz ab, stellten eigene Regeln für die sexuellen Beziehungen untereinander auf und erzogen ihre Kinder gemeinsam. Während die meisten dieser utopischen Gemeinschaften nach relativ kurzer Zeit an wirtschaftlichen oder psychologischen Schwierigkeiten scheiterten, hielt sich Oneida mit ca. 300 Personen bis in die 1880er Jahre, sorgte allerdings auch durch den Versuch, ideale Menschen zu „züchten“, für negatives Aufsehen.

      Eine Mittelposition zwischen Weltflucht und WeltverbesserungReformbewegungen1. Hälfte 19.Jh. nahmen die MormonenMormonen ein, die mit großen Anfangsschwierigkeiten kämpfen mussten, dafür aber umso erstaunlichere langfristige Erfolge erzielten. Joseph SmithSmith, Joseph hatte die Religionsgemeinschaft nach Bekehrungserlebnissen während der 1820er Jahre im westlichen New YorkNew York ins Leben gerufen, um die „Heiligen der letzten Tage“ zu sammeln und das „neue Jerusalem“ zu bauen. 1830 fasste er seine Offenbarungen in dem Book of MormonBook of Mormon zusammen, dessen Botschaft hauptsächlich bei einfachen Leuten Gehör fand, die wenig Anteil am Wirtschaftsboom entlang des Erie-Kanals hatten. Durch eine strikte soziale Organisation, die den Kirchenältesten uneingeschränkte Macht gab, weckten die Mormonen viel Misstrauen. Mit seiner rasch auf 30.000 Menschen wachsenden Anhängerschar zog Smith Anfang der 1840er Jahre über MissouriMissouri (Staat) und OhioOhio bis IllinoisIllinois, wo er die Stadt Nauvoo gründete. Interner Streit über die Praxis der Polygamie, die Smith nach einer neuen Erleuchtung befürwortete, und Anfeindungen von außen endeten 1844 mit der Verhaftung und Ermordung des Religionsstifters und seines Bruders. Aus diesem Ereignis zogen die Führer der Pro-Polygamie-Fraktion den Schluss, dass sie ihre religiöse Freiheit nur jenseits der Grenzen der USA wahren konnten. Smiths Nachfolger Brigham YoungYoung, Brigham führte daraufhin fast 12.000 Gläubige mehrere tausend Kilometer durch die Prärie und über Gebirgspässe nach WestenWesten. Auf spanischem Territorium, am Great Salt LakeGreat Salt Lake, ließen sie sich nieder und begannen unter einer theokratischenTheokratie Regierungsform mit dem Bau von Bewässerungssystemen und der planvollen Anlage agrarischer Gemeinden. Als in den 1850er Jahren nicht-mormonische Siedler in das von MexikoMexiko abgetretene Gebiet vordrangen und die Bundesregierung ihre Aufmerksamkeit dem neuen UtahUtah-Territorium zuwandte, leisteten die Mormonen Widerstand, der sogar gewaltsame Formen annahm. Auch nach dem Bürgerkrieg wehrten sie sich noch lange gegen die Forderung Washingtons, die Vielehe abzuschaffen. Als die transkontinentale EisenbahnEisenbahn2. Hälfte 19.Jh.EisenbahnAntebellum gebaut war und die USA wirtschaftlich immer enger zusammenwuchsen, kam aber eine radikal-separatistische Politik nicht mehr in Frage. 1896 beugte sich Utah dem Druck von Kongress und Supreme CourtSupreme Court, erklärte die Polygamie für illegal und wurde als Staat in die Union aufgenommen.

      Die organisierten ReformbewegungenGesellschaftAntebellumReformbewegungen1. Hälfte 19.Jh. ähnelten einander darin, dass sie gesellschaftlicheGesellschaftAntebellum Missstände auf moralische Verfehlungen zurückführten, die sich durch kollektive Buße und Umkehr überwinden ließen. Sie schöpften ihre Kraft aus dem evangelikalen ProtestantismusProtestantismus und dem Selbstbewusstsein des Bürgertums, und ihre wichtigsten Instrumente waren die Reform SocietiesReform Societies, private Vereinigungen von Gleichgesinnten, deren Allgegenwart TocquevilleTocqueville, Alexis de beeindruckte: Seiner Meinung nach fand das „Prinzip des bürgerlichen Zusammenschlusses“ nirgends so erfolgreich für die unterschiedlichsten Zwecke Verwendung wie in den USA, wo man davon ausgehe, dass sich jede Aufgabe mittels einer gemeinsamen Willensanstrengung lösen lasse. Das Bemühen der Reformer galt hauptsächlich denen, die unter den sozialen Veränderungen litten, die benachteiligt waren oder ganz von der GesellschaftGesellschaftAntebellum ausgegrenzt wurden. Ihre Aktivitäten blieben weitgehend unkoordiniert, wenngleich sie im Laufe der Zeit durchaus lernten, Einfluss auf Parlamente und Regierungen auszuüben, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Erst im Nachhinein hat man die gesamte Bewegung wegen des kompromisslosen Strebens nach moralischer Reinheit und des Vertrauens auf private Wohltätigkeit unter dem Begriff Benevolent EmpireBenevolent Empire zusammengefasst.

      Im starken Alkoholkonsum glaubten viele Reformer die Quelle zu erkennen, aus der die schlimmsten Übel wie Verbrechen, Armut, Misshandlung von Frauen und Prostitution flossen. Die Initiative ergriff der presbyterianischePresbyterianer Pfarrer Lyman BeecherBeecher, Lyman aus BostonBoston, der seit Mitte der 1820er Jahre in NeuenglandNeuengland (s.a. Nordosten, Regionen) die totale Abstinenz predigte. In der Folgezeit traten mehr als eine Million Menschen, die meisten von ihnen ArbeiterArbeiter, lokalen oder regionalen TemperanceTemperenzbewegung Societies bei und legten das Gelübde ab, keinen Alkohol oder zumindest keinen „hard liquor“ mehr zu trinken. Der Kampf für Prohibitionsgesetze führte aber nur in wenigen Staaten zum Erfolg, weil sich irischeEinwanderungEthnienIren und deutscheEinwanderungEthnienDeutsche