während dieser Phase der Ankündigung die Gehirnaktivität gemessen. Die Messungen ergaben, dass sich die Hirnaktivitätsmuster deutlich unterschieden. Versuchspersonen mit schwachen Vorurteilen aktivierten Denkressourcen, um jedes Gesicht individuell zu beurteilen, während die Personen mit starken Vorurteilen weniger Gehirnarbeit leisteten und relativ schnell „Nein, ich würde mit dieser Person nicht zusammenarbeiten wollen“ antworteten.
Warum sollten wir uns mit derartigen Phänomenen beschäftigen? Im Dialog verfolgen wir ja den Anspruch, uns des eigenen Denkens bewusster zu werden, das eigene Denken zu beobachten. Je öfter wir etwas tun, je öfter wir etwas denken, desto stärker wird genau dieses zu einer unreflektierten Gewohnheit. Man könnte sagen: Es entstehen neuronale Signaturen, Muster im Gehirn, die nicht mehr hinterfragt werden.
Wie binden Sie eigentlich Ihre Schnürsenkel? Versuchen Sie einmal, diese Bewegungsabläufe genau zu beschreiben, ohne es zu tun – nur in Gedanken. Vermutlich wird Ihnen das nicht leichtfallen, obwohl Sie es schon tausende Male gemacht haben.
David Bohm meint dazu (Bohm 2007, S. 14):
„I think that whenever we repeat something it gradually becomes a habit, and we get less aware of it. If you brush your teeth every morning, you probably hardly notice how you’re doing it. It just goes by itself. Our thought does the same thing, and so do our feelings. That’s a key point.“
Und weiter:
„When you are thinking something, you have the feeling that the thoughts do nothing except inform you the way things are and then you choose to do something and you do it. That’s what people generally assume. But actually, the way you think determines the way you’re going to do things. Then you don’t notice a result comes back, or you don’t see it as a result of what you’ve done, or even less do you see it as a result of how you were thinking“ (ebd., S. 16).
Wir können also von einem Fehler im Denken sprechen: Das Denken informiert uns nicht über die Probleme „da draußen“, das Denken selbst bestimmt bzw. konstruiert das, was wir Probleme nennen, und das gilt natürlich ebenso für die Gesamtwahrnehmung. Deshalb müssen wir unser Denken selbst beobachten. Wir haben immer unzureichende Informationen, wenn es darum geht, Situationen, Menschen oder uns selbst zu beurteilen. Aber wie füllt unser Denken die weißen Stellen auf? Mit welchen Vorannahmen geschieht es? Welche unserer Filter wirken in welcher Weise dabei mit? Das alles sind äußerst individuelle Prozesse, denn schließlich passiert es ja, dass der eine dort überhaupt keine Probleme wahrnimmt, wo ein anderer viele sieht. Wir sind in einer Art Zirkel gefangen, die Katze beißt sich in ihren eigenen Schwanz: Wir können mithilfe unseres selbst produzierten Denkens innerhalb unseres Denkapparates nur das zu beobachten versuchen, was eben dieser Denkapparat wiederum selbst hervorbringt.
Bereits der antike griechische Philosoph Epiktet reflektierte dieses Problem, als er meinte, dass es nicht die Dinge an sich sind, die uns ängstigen, sondern unsere Einstellung den Dingen gegenüber. Wie sonst könnte es sein, dass jemand hyperventiliert und umkippt, sobald er eine Kreuzspinne sieht, ein anderer aber dicke, fette Vogelspinnen richtiggehend gernhat und sie sich auf die Hand setzt?
Heinz von Förster sprach von einem unglaublichen Wunder, das hier stattfindet (von Förster/Pörksen 2006, S. 16):
„Alles lebt, es spielt Musik, man sieht Farben, erfährt Wärme oder Kälte, riecht Blumen oder Abgase, erlebt eine Vielzahl von Empfindungen. Aber all dies sind konstruierte Relationen, sie kommen nicht von außen, sie entstehen im Innern. Wenn man so will, ist die physikalische Ursache des Hörens von Musik, daß einige Moleküle in der Luft ein bißchen langsamer und andere ein bißchen schneller auf das Trommelfell platzen. Das nennt man dann Musik. Die Farbwahrnehmung entsteht in der Retina; einzelne Zellgruppen errechnen hier, wie ich sagen würde, die Empfindung der Farbe. Was von der Außenwelt ins Innere gelangt, sind elektromagnetische Wellen, die auf der Retina einen Reiz auslösen und im Falle von bestimmten Konfigurationen zur Farbwahrnehmung führen.“
Diese Phänomene des Erkennens sind selbstverständlich nicht nur auf physikalische Wahrnehmungen wie die eben beschriebenen beschränkt. Sie beziehen sich auf alles, was wir tun. „In diesem Sinn werden wir ständig festzustellen haben, dass man das Phänomen des Erkennens nicht so auffassen kann, als gäbe es ,Tatsachen‘ und Objekte da draußen, die man nur aufzugreifen und in den Kopf hineinzutun habe. […] Die Erfahrung von jedem Ding ,da draußen‘ wird auf eine spezifische Weise durch die menschliche Struktur konfiguriert, welche ,das Ding‘, das in der Beschreibung entsteht, erst möglich macht“ (Maturana/Varela 1987, S. 31).
Der eben zitierte Humberto Maturana spricht von autopoietischen Systemen, d. h. von Systemen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie sich andauernd selbst erzeugen. Das lebende System steht also in direkter Wechselwirkung nur mit sich selbst, mit seinen inneren Zuständen, und nicht mit den Objekten der Außenwelt: Es handelt sich um ein sogenanntes selbstreferenzielles System. Diese Überlegungen führen natürlich weg von Abbildtheorien. „Unsere Wirklichkeit ist kein objektives Abbild der Realität, sondern ein Produkt unseres Erkenntnisapparates und damit unsere Konstruktion“ (von Ameln 2004, S. 65).
Aber wie kommen wir dann in der Welt zurecht? Wie kommt es, dass wir als Menschen offensichtlich zumindest ähnliche Empfindungen und Wahrnehmungen haben? Selbstverständlich sind die Systeme nicht vollständig geschlossen. Dies anzunehmen wäre eine Fehlinterpretation der radikal-konstruktivistischen Annahmen. „Es gibt gar keine geschlossenen Systeme. Geschlossenheit existiert nicht.“15 Das System muss offen sein für die Interaktion mit seiner Umwelt. Daraus kann aber nicht der Schluss gezogen werden, dass wir die Welt so erkennen können, wie sie „ist“.
Wir finden uns in der Welt zurecht wie ein blinder Waldläufer, der durch Versuch und Irrtum seinen Weg findet – einen möglichen Weg aus einer Reihe von vielen:16
„Ein blinder Wanderer, der den Fluß jenseits eines nicht allzu dichten Waldes erreichen möchte, kann zwischen den Bäumen viele Wege finden, die ihn an sein Ziel bringen. Selbst wenn er tausendmal liefe und alle die gewählten Wege in seinem Gedächtnis aufzeichnete, hätte er nicht ein Bild des Waldes, sondern ein Netz von Wegen, die zum gewünschten Ziel führen, eben weil sie die Bäume des Waldes erfolgreich vermeiden. Aus der Perspektive des Wanderers betrachtet, dessen einzige Erfahrung im Gehen und zeitweise Anstoßen besteht, wäre dieses Netz nicht mehr und nicht weniger als eine Darstellung der verwirklichten Möglichkeiten, an den Fluß zu gelangen [...]. In diesem Sinne ,paßt‘ das Netz in den ,wirklichen‘ Wald, doch die Umwelt, die der blinde Wanderer erlebt, enthält weder Wald noch Bäume, wie ein außenstehender Beobachter sie sehen könnte.“
In diesem Sinn gibt es also keine Realität, die wir erkennen könnten, sondern ein Passungsverhältnis: Mit Viabilität bezeichnet Ernst von Glasersfeld diese Passung von Wirklichkeit und Realität. Das relevante Kriterium ist die Nützlichkeit des Wissens, an dem sich natürlich auch die Positionen, die sich aus dem Radikalen Konstruktivismus ergeben, messen müssen. Die konstruktivistischen Sichtweisen sind nicht wahr, sondern bestenfalls brauchbar. „Daraus folgt, dass die Lösung eines Problems nie als die einzig mögliche betrachtet werden darf; es mag die einzige sein, die wir zur Zeit kennen, aber das rechtfertigt niemals den Glauben, unsere Lösung gewähre uns Einsicht in die Struktur einer von uns unabhängig existierenden Welt“ (ebd., S. 95).
Betrachten Sie die folgende Abbildung 5: In der oberen Reihe sind zehn Kieselsteine angeordnet. Egal, ob wir sie von links nach rechts oder von rechts nach links abzählen, es bleiben zehn.17 Wenn Sie diese zehn Kiesel nehmen und in Kreisform anordnen: Es bleiben zehn.
Abb. 5: Die Kommutativität: Entdeckung oder Erfindung? Oder beides? (Eigene Darstellung)
Der Schweizer Biologe und Entwicklungspsychologe Jean Piaget schildert dieses Beispiel, um zu zeigen, dass Erkenntnis „nicht nur von Objekten, sondern auch von Handlungen, von der Koordination von Handlungen abstrahiert