Michael Benesch

Der Dialog in Beratung und Coaching


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was da los ist?

      Nach Kelley sind es vor allem drei Dimensionen, die wir heranziehen, um Verhalten zu erklären:

      a) Distinktheit: Ist das Verhalten spezifisch für eine bestimmte Situation – ist er in der Regel pünktlich oder unpünktlich?

      b) Konsistenz: Tritt dieses Verhalten wiederholt als Reaktion auf diese Situation auf – ist er in der Vergangenheit pünktlich gekommen?

      c) Konsens: Zeigen andere Menschen auch dieses Verhalten in einer vergleichbaren Situation – kommen die anderen normalerweise pünktlich oder unpünktlich?

      Welches der beiden Erklärungsmodelle würden Sie eher wählen:

      • Er hat gerade erfahren, dass sein Auto gestohlen wurde.

      • Er soll sich zusammennehmen und zu einer so wichtigen Besprechung pünktlich kommen.

      Im Durchschnitt wählen die meisten Menschen eher die zweite Erklärung, die sich auf eine Disposition bezieht: Die Ursache liegt im Menschen und nicht in der Situation. Da diese Tendenz sehr stark ist, hat der Sozialpsychologe Lee Ross sie als den fundamentalen Attributionsfehler bezeichnet. Wir neigen dazu, menschliche Faktoren über- und Situationsfaktoren unterzubewerten, mit anderen Worten: Der Mensch ist eher verantwortlich als die Umwelt.

      Weitere Beispiele solcher Verzerrungen sind der Self-Serving Bias und die Self-Fulfilling Prophecies. Self-Serving Bias bedeutet: Menschen neigen dazu, die Verantwortung für Misserfolge anderweitig zu suchen, etwa bei anderen Menschen oder der Situation an sich. Das Konzept der selbsterfüllenden Prophezeiungen sagt aus, dass wir unser Verhalten oft so anpassen, dass unsere Erwartungen eben dadurch eintreten.

      Ein Beispiel: Wird jemand zu einer „kreativen Besprechung“ eingeladen, wo er für ihn ungewohnt im Kreis sitzen und mit einem Redesymbol hantieren soll, und empfindet diese Person solche Umstände als „irgendwie blöd“, kann es passieren, dass er durch sein Verhalten die Besprechung aktiv in eine Richtung lenkt, die seine ablehnenden Vorerwartungen voll bestätigt.

      Warum sind psychologische Theorien wie die Attributionstheorie und ihre Verfeinerungen, beispielsweise das Kovariationsprinzip, als Modell für den Dialog wichtig? Sie sind es vor allem deshalb, weil wir sehr anfällig sind für Verzerrungen in unserer Wahrnehmung und unserem Denken, die uns aber zumeist eben nicht bewusst sind! Darin liegen gewisse Gefahren und der Dialog gibt uns viele Möglichkeiten, durch das gemeinsame Denken und die dadurch angeregte Innenschau diese Biasquellen5 zielgerichtet zu reflektieren und sie bis zu einem gewissen Maß zu überwinden. Prinzipien wie das „Inder-Schwebe-Halten von Annahmen“ (siehe S. 151) oder die „Leiter der Schlussfolgerungen“ (siehe S. 58) sind dabei hilfreich.

      Unter Theory of Mind versteht man die Fähigkeit, sich in andere Personen hineinzuversetzen, um deren Gefühle, Wünsche, Absichten usw. zu verstehen. Wir entwickeln normalerweise so etwas wie eine Theorie über das, was in anderen vorgeht – eine Theory of Mind. Dass wir dazu in der Lage sind, „ist die Grundlage sozialen, ,sittlichen‘ Verhaltens. Ohne Interesse am anderen, ohne Gefühl für dessen Bedürfnisse und ohne differenziertes Verständnis seiner Perspektiven entwickeln sich weder Mitgefühl noch Rücksicht oder Respekt“ (Förstl 2007, S. 4). Verwandte Konzepte zur Theory of Mind sind beispielsweise:6

      Empathie: Das Verhalten anderer löst Resonanz, Einfühlung aus, bis hin zu teilweiser Identifikation. Man übernimmt also – unter Wahrung einer beobachtenden Distanz – die Innenperspektive einer anderen Person. Dem liegt wohl das Bestreben zugrunde, Informationen über Menschen, mit denen wir zu tun haben, einzuholen und zu beurteilen. Wir versetzen uns also in einen anderen hinein, auch um sein Verhalten zu verstehen. Ursprünglich bezog sich der Begriff auf das Verstehen von Kunstwerken.

      Mimesis: Man versucht, durch Nachahmung eine Annäherung an die Innenperspektive zu erreichen.

      Alltagspsychologie: Darunter versteht man die Neigung, etwa Personen oder Zustände mit „psychologisierenden“ Begriffen zu beschreiben. So könnte beispielsweise das Verhalten einer Person, in einer Gruppe zu schweigen, als Ausdruck von „Minderwertigkeitskomplexen“ erklärt werden.

      Zweifellos haben wir das Bedürfnis, eine gewisse Sicherheit oder Stabilität zu erfahren. Wir möchten relevante Ereignisse in der Umwelt vorhersagen. Sieht mich eine andere Person auf eine Weise an, die ich als aggressiv deute, gehe ich von einer erhöhten Gefahr aus – vielleicht schlägt diese Person zu. Es liegt ein „Vorteil in der Berechnung fremder Absichten […] und sogar im eigenen Verhalten gegenüber anderen Lebewesen [...], als hätten diese ein ähnliches Innenleben mit vergleichbaren Denk- und Handlungsprinzipien wie wir selbst“.7

      Es geht also sehr darum, möglichst viele Informationen über die Umwelt und die Menschen darin zu sammeln. Wem diese Fähigkeit fehlt, etwa den sogenannten „Savants“, kann sich in der Umwelt mit ihren komplexen sozialen Beziehungsmustern nicht zurechtfinden: Menschen mit dem Savant-Syndrom können in sehr eingeschränkten Bereichen überdurchschnittliche Leistungen erbringen (etwa ganze Gebäude nach kurzer Betrachtungszeit detailgetreu zeichnen), aber sind in der Regel mehr oder weniger unfähig für ein „normales“ Beziehungsleben. Dies wurde schon als Beleg dafür herangezogen, dass die Theory-of-Mind-Leistungen einen sehr großen Teil unserer kognitiven Ressourcen einnehmen.

      Bereits in den 1950er-Jahren konnte nachgewiesen werden, „dass das Betrachten von Filmsequenzen zu ähnlichen elektroenzephalografischen Änderungen führte wie selbstinitiierte Handlungen“.8 Der Mensch ist normalerweise gut in der Lage nachzuempfinden, was in einem anderen vorgeht oder vorgehen könnte, und erstaunlicherweise kann die bloße Vorstellung alleine schon körperlich messbare Wirkungen entfalten. Diese messbaren Wirkungen sind von denen, die auftreten, wenn sie selbst durchgeführt werden, kaum bis gar nicht unterscheidbar. Das führt uns zu einem kurzen Ausflug in die Welt der Spiegelneurone.

      Es ist eine gar nicht neue Entdeckung, dass Menschen, die irgendwie miteinander in Kontakt stehen, sehr oft Handlungen zeigen, die nahezu parallel ablaufen. Das Gähnen ist ein viel zitiertes Beispiel: Es ist ansteckend. Oder beobachten Sie einmal einen Erwachsenen, der mit einem Kleinkind kommuniziert: Seine Stimme wird höher, ähnlicher der eines Kindes, und er beugt sich nach unten, um sich auch größenmäßig dem Kind anzugleichen. Ja selbst wenn wir ein Kind mit dem Löffel füttern, öffnen wir selbst den Mund, wenn wir Blickkontakt haben.

      Giacomo Rizzolatti von der Universität Parma hat in den 1990er-Jahren anhand von Experimenten mit Affen Entdeckungen gemacht, die vor allem in den letzten zwanzig Jahren eine unglaubliche Resonanz auslösten. Er beobachtete, dass bestimmte Nervenzellen im Gehirn, die für die Ausführung einer Handlung zuständig sind, auch dann aktiv werden, wenn der Affe diese Handlung bei einem anderen Affen nur beobachtete! „Die Beobachtung einer durch einen anderen vollzogenen Handlung aktivierte im Beobachter […] genau das Programm, das die beobachtete Handlung bei ihm selbst zur Ausführung bringen könnte“ (Bauer 2006, S. 22). Derartige Zellen, die ein Programm auch dann aktivieren können, wenn man die Handlung nur beobachtet, bezeichnet man als Spiegelneurone.

      Aber das noch Erstaunlichere: „Beim Menschen genügt es zu hören, wie von einer Handlung gesprochen wird, um die Spiegelneurone in Resonanz treten zu lassen“ (ebd., S. 24), und es wurde sogar nachgewiesen, dass es genügen kann, sich eine betreffende Handlung nur vorzustellen (allerdings sind die Effekte dann geringer). Die Spiegelneurone entfalten ihre Wirkung auch bei Gefühlen. Bereits Charles Darwin hat darüber geschrieben, dass sich die meisten emotionalen Reaktionen im Lauf der Evolution aufgrund ihres Nutzens herausgebildet haben und „dass es daher nicht überraschend ist, dass sie von Art zu Art und innerhalb der menschlichen Art von einer Kultur zur anderen eine bemerkenswerte Ähnlichkeit aufweisen“ (Rizzolatti/Sinigaglia 2008, S. 175).

      Ein Beispiel: Ekel ist