kein Überblick über konstruktivistische Entwicklungen und Denkrichtungen gegeben werden. Vielmehr ist es meine Motivation, zu weiterer Beschäftigung mit diesen Denkzugängen im Kontext des Dialogs anzuregen. Falko von Ameln (von Ameln 2004, S. 3) fasst die erkenntnistheoretische Grundüberzeugung konstruktivistischer Ansätze folgendermaßen zusammen:
„1) Das, was wir als unsere Wirklichkeit erleben, ist nicht ein passives Abbild der Realität, sondern Ergebnis einer aktiven Erkenntnisleistung.
2) Da wir über kein außerhalb unserer Erkenntnismöglichkeiten stehendes Instrument verfügen, um die Gültigkeit unserer Erkenntnis zu überprüfen, können wir über die Übereinstimmung zwischen subjektiver Wirklichkeit und objektiver Realität keine gesicherten Aussagen treffen.“
Tatsache ist, dass unsere Nervenzellen unspezifisch feuern, das heißt: Die Impulse, die von ihnen ausgehen, sind nicht qualitativ, sondern nur quantitativ unterscheidbar. Die Neuronen selbst können natürlich für etwas stehen: Auf die Augen treffendes Licht erzeugt auf der Netzhaut Impulse, Schallwellen erzeugen im Innenohr Impulse usw. Diese Impulse werden dann über sogenannte Synapsen, die sich durch Gebrauch verstärken und durch Nichtgebrauch verkleinern, weitergeleitet. Die Zahl der Neuronen im Gehirn beträgt etwa 1010 und da jedes Neuron mit bis zu 10 000 anderen Neuronen Verbindungen besitzt, ergibt sich eine unglaubliche Menge von ca. 1014 Verknüpfungen.13 Verglichen mit der Zahl der Eingänge und Ausgänge (also jenen Fasern, die Informationen von der Außenwelt ins Gehirn transportieren), ist diese Anzahl an internen Verbindungen im Gehirn unglaublich groß, etwa „10 Millionen mal so groß wie die Zahl der Eingänge und Ausgänge zusammen“ (ebd., S. 52). Mit anderen Worten: Das Gehirn ist primär mit sich selbst beschäftigt.
Die Neuronen selbst kennen nur Aktivierung oder Hemmung durch Impulse. Unser Gehirn konstruiert daraus unsere Wahrnehmung. Anders ausgedrückt heißt das: Die Farbe Grün ist keine Eigenschaft der Welt, sie ist eine Konstruktion unseres Gehirns.
Humberto Maturana und Francisco Varela (Maturana/Varela 1987) geben als Beispiel dafür, wie unser „Geist“ die Welt um uns herum konstruiert und wie sehr unsere Erfahrung mit der neuronalen Struktur verbunden ist, gerne das Experiment mit dem blinden Fleck an: Betrachten Sie Abbildung 3. Halten Sie das Buch in einem Abstand von ca. 40 cm vor ihren Augen, fixieren Sie mit dem rechten Auge das Kreuz und machen Sie Ihr linkes Auge zu. Bewegen Sie dann das Buch leicht vor- und rückwärts – irgendwann verschwindet der Punkt.
Abb. 3: Der blinde Fleck: ein Experiment (eigene Darstellung)
Wenn genau das passiert, wird der Punkt an jene Stelle der Netzhaut projiziert, an welcher der Sehnerv austritt. An dieser Stelle sind wir blind. Eigentlich müssten wir uns dieses visuellen Lochs ständig bewusst sein, nur: Wir nehmen es nicht wahr, weil unser Gehirn Wahrnehmung darüberkonstruiert, und das ununterbrochen. Wir sehen nicht, dass wir an dieser Stelle nichts sehen.
Dieses kleine Experiment ist nur als anschauliches Beispiel dafür gedacht, was sich in unserem Geist praktisch ständig abspielt. Wir ersetzen lückenhafte Informationen durch neue Konstruktionen, ohne uns dessen bewusst zu sein, zumindest aber ohne uns dessen vollständig bewusst zu sein. Abbildung 4 zeigt ein ähnliches Beispiel: Ist hier tatsächlich ein Dreieck abgebildet? Nein, aber unser Gehirn ergänzt das fehlende Material zu dieser bekannten Figur.
Abb. 4: Die Ergänzung nicht vorhandener Informationen: ein Dreieck, wo keines ist
Wir berühren hier einen ganz wesentlichen Bereich des Dialogs, nämlich die sogenannten mentalen Modelle. Damit sind Konstruktionen gemeint, die zu Schlussfolgerungen im Sinn von Vorurteilen führen – ein Vorgang, der blitzschnell geschieht. Unser Denken ist bestrebt, fehlende Informationen zu ersetzen, und wird dabei auf einer im Wesentlichen unbemerkten Ebene von Filterprozessen gesteuert – beispielsweise von biografischen, sozialen oder auch kulturellen Filtern. Wenn wir unser Denken verstehen wollen, dürfen wir den Jetzt-Zustand keinesfalls als eine statische Momentaufnahme betrachten, sondern als gerade aktuelles Ergebnis eines systemisch-chaotischen Prozesses, als gerade gültiges und vorläufiges Resultat unüberblickbarer Einflussfaktoren. Dieses Resultat wird beeinflusst von persönlichen Erfahrungen, kulturellen Normen, momentanen Stimmungen und vielem mehr.
Paul Watzlawick (Watzlawick et al. 2003, S. 28) zitiert ein Beispiel, das von Gregory Bateson stammt und den Erkenntnisgewinn reflektiert, den man aus der momentanen Stellung aller Schachfiguren während einer Partie ziehen kann. Dieser Erkenntnisgewinn ist nicht sehr umfassend. Trotz der vollständigen Information zum gegebenen Zeitpunkt liegen die aufschlussreichen Informationen im Spielverlauf, also auf der Ebene der Beziehungen. „Jedes Kind lernt in der Schule, dass Bewegung etwas Relatives ist und nur in Relation auf einen Bezugspunkt wahrgenommen werden kann. Was man dagegen leicht übersieht, ist, dass dasselbe Prinzip für alle Wahrnehmungen gilt und daher letzthin unser Erleben der äußeren Wirklichkeit bestimmt.“ Und weiter: So überrascht es nicht, „dass auch die Selbsterfahrung des Menschen im wesentlichen auf der Erfahrung von […] Beziehungen [beruht], in die er einbezogen ist“ (ebd., S. 29).
Auch das Ergebnis eines scheinbar einfachen Denkprodukts ist als die Synthese vielfacher, komplexer und sehr persönlicher Beziehungserfahrungen und -konstruktionen aufzufassen, die großteils auf Ebenen unterhalb unserer bewussten Wahrnehmung ablaufen.
Und selbstverständlich dürfen wir dabei den Kontext, im Rahmen dessen wir unbewusst an unseren Konstruktionen arbeiten, nicht außer Acht lassen. Beängstigend sind die Umstände des Falls Uzal Ent, die während des Zweiten Weltkriegs zu einem Flugzeugunfall führten und einen Menschen in den Rollstuhl zwangen. Dem berühmten und geachteten Luftwaffengeneral war im Oktober 1944 ein Ersatzpilot zugeteilt worden. „Während des Starts begann Ent in seinem Kopf eine Melodie zu singen und dazu von Zeit zu Zeit mit dem Kopf zu nicken. Der neue Kopilot deutete diese Geste als Zeichen, die Räder einzuziehen. Obwohl sie zum Abheben noch viel zu langsam waren, zog er das Fahrwerk ein, was dazu führte, dass das Flugzeug unsanft zu Boden ging. Dabei löste sich ein Propeller und verletzte Ent so schwer im Rücken, dass er von da an beidseitig gelähmt war“ (Cialdini 2001, S. 30).
Natürlich war das Verhalten des Kopiloten dumm. Aber es wäre zu einfach, dies als einzige Erklärung anzuführen. Der Kontext, die zugestandene Autorität des Generals, beeinflusste mit Sicherheit das Verhalten und die Wahrnehmung des Ersatzpiloten, und zwar auf einer unbewussten Ebene, denn sonst hätte der Mann nicht so unverständlich reagieren können. Wahrgenommene Autorität erzeugt in vielen Menschen ein mentales Modell der Art: „Die Ansicht einer Autoritätsperson wird hoch bewertet, die Gültigkeit der eigenen Meinung schrumpft.“ Selbstverständlich bieten sich gerade bei diesem Beispiel noch weitere Erklärungsmodelle an, wie beispielsweise das Phänomen der Autoritätshörigkeit an sich.14 Aber das Uzal-Ent-Muster zeigt doch eindrucksvoll, wohin uns unbewusste mentale Modelle sogar auf einer konkreten Handlungsebene führen können. Sie vermögen Denkweisen und Handlungen in uns aufkommen zu lassen, die sich in einem anderen Kontext niemals zeigen würden.
Kontextuale Effekte wie der eben beschriebene sind wohlbekannt und untersucht. Sehen wir uns noch ein dialogtypischeres Beispiel aus dem Bereich der Sozialpsychologie an, welches zeigt, wie mächtig unsere unbewussten Konstruktionen sind, symbolisch gesprochen: jene Auffüllungen der weißen Flächen zwischen den drei schwarzen Kreisen, die uns ein Dreieck vorgaukeln (siehe Abb. 4):
Personen wurden aufgrund der Ergebnisse aus einer Selbstbeurteilungsskala in zwei Gruppen eingeteilt (Gerrig/Zimbardo 2008, S. 654):
a) höchstens schwache Vorurteile gegenüber Afroamerikanern,
b) starke Vorurteile gegenüber Afroamerikanern.
Danach wurden ihnen Fotografien vorgelegt, die Schwarze oder Weiße mit einem entweder glücklichen oder wütenden Gesichtsausdruck zeigten, und die Versuchspersonen