Michael Benesch

Der Dialog in Beratung und Coaching


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      Diesen beiden Ansätzen nähert sich das Buch in drei Schritten: Zunächst werden in Kapitel 1, 2 und 3 die Grundlagen ausgeführt. Dabei geht es einerseits um ausgesuchte Aspekte der Psychologie, darum zu verstehen, was unser Verhalten und unsere Wahrnehmung sowohl als Individuum als auch als soziales Wesen in der Gruppe ausmacht. Zum anderen werden die wesentlichen Begriffe des Dialogs nach David Bohm sowie das DI•ARS-Modell vorgestellt, das dabei unterstützen soll, dialogische Prinzipien in der Beratungspraxis zu implementieren. Während der Dialog in der Tradition von David Bohm auf Gruppenprozesse fokussiert, bietet sich das DI•ARS-Modell in erster Linie für individuelle Beratungs- bzw. Coachingsituationen an.

      In einem zweiten Schritt werden in den Kapiteln 4, 5 und 6 Wege bzw. Bausteine erläutert, welche die dialogische Beratung unterstützen und intensivieren können. Die vorgestellten „Erleichterer“ aus unterschiedlichen beraterischen Zugängen, die dialogischen Rahmenbedingungen sowie die dialogischen Kompetenzen des Beraters beziehen sich dabei besonders auf die individuelle Beratung (Kapitel 4 und 6) und auf Gruppensituationen (Kapitel 5).

      Kapitel 7 und 8 widmen sich schließlich der praktischen Umsetzung. Fallbeispiele zeigen, wie der Gruppendialog im betrieblichen Managementkontext und das DI•ARS-Modell in der Einzelberatung umgesetzt werden können. Eine Vielzahl von Übungen liefert Anregungen für dialogische Beratung in der professionellen Beratungspraxis, aber durchaus auch für den privaten Bereich.

      Im Buch werden immer wieder die Begriffe „Energie“, „Selbst“ und „Unbewusstes“ verwendet. Ich benutze diese Worte in einem alltagssprachlichen Sinn. Über „Energie“ als psychologischen Begriff kann man lange diskutieren, obgleich es im normalen Wortgebrauch überhaupt nicht problematisch ist zu sagen: „Energie fließt von einem psychischen System in ein anderes“ – man weiß, was damit gemeint ist.

      Das „Unbewusste“ war für Freud1 eher ein Ort („psychischer Ort“: auch das ein gewaltiger Begriff, der schnell einmal so dahingesagt ist) verdrängter, dunkler Inhalte. Im vorliegenden Buch ist mit dem Unbewussten ein solcher gerade nicht gemeint, sondern etwas sehr Positives, „Weises“, ein weit verzweigtes und großteils zumindest im Moment nicht bewusstes Netzwerk von Erfahrungen, Ideen, Phantasien, intelligenten Intuitionen und Lösungswegen, Gefühlen und vielem mehr, auf das wir im Grunde zugreifen können. Das „Selbst“ als Konstrukt ist in diesem Unbewussten angesiedelt, aber weder das Selbst noch das Unbewusste sollten verdinglicht werden. Es handelt sich schlicht um Hilfskonstruktionen, damit Begriffe zur Verfügung stehen, über die man sich austauschen kann. Es gibt keine Orte, an denen sich „Dinge“ wie das Unbewusste oder das Selbst aufhalten. Deshalb plädiere ich dafür, mit diesen Begriffen locker und nicht zu streng umzugehen, denn solch eine Lockerheit bereitet auf einer alltagssprachlichen Ebene üblicherweise keine Probleme. Die Begriffe stehen einfach für psychische Funktionen, man benutzt sie, um Konstruktionen zu beschreiben. Und wir sind daran gewöhnt: Alltagssprachlich hat wohl kaum jemand ein Problem mit Begriffen wie Liebe, Freundschaft, Feindseligkeit oder Glück. Wir können uns wunderbar darüber unterhalten, so wie wir sagen: „Ich stehe auf der Mariahilfer Straße“, obwohl wir unser Auto meinen. Die Wissenschaft verkompliziert Benennungen notwendigerweise und aus guten Gründen, aber im Rahmen des vorliegenden Buches ist meiner Meinung nach der alltagssprachliche Zugang zu solch schwierigen Begriffen vollkommen ausreichend.

      Wenn Sie Abbildung 1 betrachten, werden Sie – wie über 90 Prozent aller Erwachsenen – ein Liebespaar erkennen.2

      Bei genauerem Hinsehen werden Ihnen aber ebenso Delphine auffallen, das Bild vermittelt Doppelbotschaften. Wir haben die Darstellung auch Kindern im Alter von ca. vier bis acht Jahren vorgelegt, mit dem Ergebnis, dass über 80 Prozent tatsächlich zuallererst die Tiere sahen und nicht zwei Liebende. Die Art der Wahrnehmung von Informationen, deren Verarbeitung und schließlich auch die Konstruktion von Normen und Wertmaßstäben ist ein Resultat primär sozialer Interaktionsprozesse. Die Rolle der Sozialisation für unsere (sinnliche) Wahrnehmung und Heranbildung von Verhaltensweisen und Wertvorstellungen kann kaum überschätzt werden.

      Abb. 1: Eine mehrdeutige Botschaft: Delphine oder Liebespaar? (© Sandro Del-Prete)

      Wenn wir zunächst einmal vom Einfluss der Sozialisation auf unsere Werte und Normen absehen und einigermaßen banale Wahrnehmungstatsachen betrachten, so stoßen wir gleich auf sehr interessante und bezeichnende Phänomene. In replizierten Experimenten wurde nachgewiesen, dass Kinder aus der sogenannten Unterschicht Geldmünzen anders, nämlich größer, einschätzen als Kinder aus wohlhabenden Gesellschaftsschichten. Der Grad der Valenz eines Objektes, hier also der Münzen, beeinflusst tatsächlich die subjektive Größenschätzung (Zimbardo 1992, S. 185).

      Der US-amerikanische Philosoph und Psychologe George Herbert Mead3 stellte bereits vor über 100 Jahren in seiner Theorie des symbolisch vermittelten Interaktionismus die Abhängigkeit der Entwicklung des individuellen Denkens von der Gesellschaft, ihren Normen und Werten fest und kam zu dem Schluss, dass der Mensch notwendigerweise eine ethnozentrische Weltauffassung haben müsse. Die Werte der Gesellschaft werden also aufgenommen, adaptiert, ausprobiert und damit aber auch gefestigt. „Der Heranwachsende [adaptiert] letztendlich auch deren [gemeint ist die Bezugsgruppe] Weltanschauung und damit den (vor-)theoretischen Hintergrund und die Vernunftsgrundsätze, mit denen er sich ,die Welt‘ erklärt“ (Stavemann 2007, S. 56). Als Menschen sind wir nahezu ständig auf der Suche nach Erklärungen für die Welt. Wir hätten gerne Antworten auf die Warum-Fragen unseres Lebens: Warum bevorzugt diese Frau einen anderen? Aus welchem Grund bin nicht ich Abteilungsleiter geworden? Warum kommt die Person, mit der ich einen Termin habe, zu spät?

      Der Mensch sucht nach kausalen Faktoren für Verhaltensweisen, Ereignisse und Ergebnisse. Der österreichische Gestaltpsychologe Fritz Heider formulierte in den 1960er-Jahren mit der Attributionstheorie eine der bekanntesten psychologischen Theorien im Zusammenhang mit sozialen Kognitionen und Beziehungen. Zur Attributionstheorie gibt es mittlerweile Tausende von Studien, ihre Aussagen gelten empirisch als sehr gut gesichert.

      Die Attributionstheorie ist „ein allgemeiner Ansatz zur Beschreibung der Art und Weise, in der ein sozial Wahrnehmender Informationen nutzt, um kausale Erklärungen zu generieren“ (Gerrig/Zimbardo 2008, S. 637). Heider zufolge stellen wir primär zwei Fragen:

      a) Liegen die Ursachen in der Person (internale oder dispositionale Kausalität) oder in der Situation (externale oder situationale Kausalität)?

      b) Wer ist für das Ergebnis verantwortlich?

      Harold Kelley erweiterte die Attributionstheorie und stellte fest, dass die Menschen vor allem in Situationen der Unsicherheit Kausalattributionen4 vornehmen. Wir kämpfen mit diesen Unsicherheiten, aber haben fast nie ausreichende Informationen zur Erklärung von Ereignissen oder Verhaltensweisen, weswegen wir – nach Kelley – das Kovariationsprinzip anwenden: Der Mensch schreibt zur Erklärung die von ihm beobachteten Verhaltensweisen und Ereignisse einem Kausalfaktor zu, „wenn dieser Faktor immer dann gegeben war, wenn das Verhalten aufgetreten ist, aber nicht gegeben war, wenn das Verhalten nicht aufgetreten ist“ (ebd., S. 638).

      Ein