Michael Benesch

Der Dialog in Beratung und Coaching


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Massachusetts Institute of Technology in Boston, führte einmal ein amüsantes Experiment durch, das zeigt, welch kuriose Einflussfaktoren unsere Einschätzungen beeinflussen können (Ariely 2008, S. 49). Den Versuchspersonen wurden verschiedene Produkte gezeigt (u. a. ein schnurloser Trackball, eine schnurlose Tastatur mit Maus, ein Designbuch und eine Schachtel mit belgischen Pralinen). Anschließend mussten sie auf einem Blatt Papier, auf dem alle diese Produkte aufgelistet waren, angeben, wie viel sie maximal für diese Produkte zu zahlen bereit waren. Der entscheidende Punkt bestand allerdings darin, dass die Personen vorher ersucht wurden, auf das Blatt Papier die letzten beiden Zahlen ihrer Sozialversicherungsnummer zu schreiben (die amerikanischen Sozialversicherungsnummern enden nicht so wie die österreichischen mit dem Geburtsjahr).

      Erstaunlicherweise gaben die Personen mit den höchsten Endziffern im Mittel die höchsten Gebote ab, jene mit den niedrigsten waren im Schnitt auch am wenigsten zu zahlen bereit. „Am Ende stellten wir fest, dass die Gebote […] mit Endziffern im Bereich der oberen 20 Prozent um 216 bis 346 Prozent höher lagen als die Gebote derjenigen, deren Endziffern im Bereich der unteren 20 Prozent lagen“ (ebd., S. 51). Dieser unbewusste Automatismus ist doch sehr erstaunlich und zeigt, wie stark wir von unbemerkten Einflüssen gelenkt werden können.

      Bei diesem Beispiel handelt es sich nicht um eine Heuristik, sondern um das schlichte Setzen eines Ankerreizes. Solche Anker, unsere auf Heuristiken basierenden Urteile, all unsere kognitiven Schnellschüsse und Automatismen sind wesentliche Faktoren, die unsere Denkmuster, Verhaltensweisen und Beurteilungen mitbestimmen und denen wir uns in aller Regel kaum bis gar nicht entziehen können. Dies alles sollten wir bedenken, wenn wir es mit anderen Menschen zu tun haben – und natürlich auch, wenn wir es mit uns selbst zu tun haben.

      Meiner Meinung nach liegt eines der größten Versäumnisse in der Persönlichkeitspsychologie darin, die Einflüsse der Umwelt nicht in ausreichendem Maß zu beachten. Die typische Vorgehensweise, um ein Persönlichkeitsprofil eines Menschen zu erstellen, ist jene, die Person einen „wissenschaftlich fundierten“ Persönlichkeitsfragebogen ausfüllen zu lassen und dann, im Vergleich mit einer Normgruppe, bestimmte Variablen wie Extraversion, Offenheit, Ehrlichkeit, Neurotizismus usw. hinsichtlich der Stärke ihrer Ausprägung zu beurteilen. Natürlich finden sich in diesen Verfahren auch regelmäßig Items, die eine Selbsteinschätzung abhängig von Situationen verlangen, wie: „Wenn ich einen Raum betrete, in dem sich mir fremde Menschen aufhalten, suche ich das Gespräch.“ Man darf getrost davon ausgehen, dass derartige Selbstbeurteilungen nicht gerade valide sind. Ähnliches gilt auch für die Diagnostik von Leistungsparametern, wie Intelligenzdimensionen oder Aufmerksamkeit und Konzentration. In der Umwelt, der Realsituation, gelten andere Maßstäbe.

      Zwar sind die enormen Einflüsse der Situation schon lange bekannt und gut untersucht, aber welche Bedeutung hat die Kenntnis von Phänomenen, wenn sie nicht wirklich beachtet werden? Klassisch sind die Experimente von Solomon Asch,11 die in besonders eindrucksvoller Weise belegen, welchen Einfluss abweichende Gruppenmeinungen auf das Individuum haben können. Versuchspersonen, die glaubten, an einem Experiment zur visuellen Wahrnehmung teilzunehmen, wurden mehrere Linien gezeigt, die sich in ihrer Länge sehr deutlich unterschieden (Abb. 2).

      Abb. 2: Die Experimente von Asch zum Gruppendruck (eigene Darstellung)

      Im klassischen Asch-Design war nur ein Teilnehmer „naiv“, das heißt, bei allen anderen handelte es sich um eingeweihte Personen. Diese sollten einhellig die gleiche Meinung vertreten, nämlich dass eine deutlich kürzere Linie gleich lang sei wie die Standardlinie. Obwohl in den unterschiedlichen Experimenten stets sehr viele Personen ihre Meinung, die Vergleichslinie sei kürzer, gegen die anderen behaupteten, gab es zumeist einen nicht geringen Anteil von rund 30 % der Teilnehmer, der sich der – offensichtlich falschen – Gruppenmeinung beugte.

      Wir befinden uns hier in einem heiklen Spannungsfeld, in einer Art „Dualität von Zurückhaltung und Aufgeschlossenheit“, wie Zimbardo es nennt (Zimbardo 2008, S. 414): Auf der einen Seite haben die Menschen das Bedürfnis nach Abgrenzung und Individualität, auf der anderen Seite empfinden wir ein Bedürfnis nach Nähe und Verbundenheit. Das macht uns wiederum anfällig für Konformität und Überredung. Wir können die Vorteile des einen nicht ohne die Gefahren des anderen kaufen.

      Sozialer Druck kann selbstverständlich auch in dialogischen Settings eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Es können in einem Unternehmen etwa unausgesprochene Regeln oder nicht hinterfragbare Annahmen gelten, die zwar akzeptiert, nicht aber gutgeheißen werden. Diese direkt anzusprechen, gar in Frage zu stellen, wird jedoch ob etwaiger zu erwartender Sanktionen als gefährlich betrachtet. Es bedarf einigen Mutes, als Erster dieses Thema zur Sprache zu bringen, weil man als „erfahrener“ Mitarbeiter um den Druck seitens der Kollegen weiß, dieses heikle Thema lieber unter den Tisch zu kehren.

      Aus gutem Grund sprechen Martina und Johannes Hartkemeyer von einem Container12, der notwendig ist, eine fest verankerte Basis des Vertrauens im Dialog zu schaffen, um beispielsweise gefährliche Systemarchetypen an die Oberfläche zu bringen. Sie zitieren William Isaacs mit den Worten: „No container, no dialogue“. Damit ist ein auf Wertschätzung und Vertrauen basierender Gruppenzusammenhalt gemeint, der widersprüchliche Ansichten, Gegensätze, Außenseiterrollen und Höhen wie Tiefen des Gruppengeschehens aushält. Die Teilnehmer haben geschützt durch einen solchen Container die Gewissheit, dass normalerweise Unaussprechliches ausgesprochen werden darf, ohne dass der gemeinschaftliche Zusammenhalt grundsätzlich darunter leidet.

       „Die Schaffung eines gemeinsamen Containers, basierend auf gegenseitigem Vertrauen in der Gruppe, ist daher notwendig, um den sicheren Raum zu schaffen für Vielfalt und um Spannungen nicht nur zu ertragen, sondern im Sinne eines möglichen Lernfeldes zu begrüßen“ (Hartkemeyer et al. 2001, S. 45).

      Gerade ein funktionierender Dialog ermöglicht die Schaffung eines solchen Containers, es handelt sich um einen zirkulären Prozess: Der Dialog unterstützt das Entstehen eines Containers, der Container ist eine Voraussetzung für einen wirklichen Dialog. Alleine daraus wird ersichtlich, dass der Dialog Zeit braucht.

      Der Konstruktivismus mit all seinen unterschiedlichen Schulen und Denkrichtungen (von „dem“ Konstruktivismus kann man nicht sprechen) wird oft als eine Art Modephilosophie bezeichnet, was jedoch seinen Wert nicht schmälert. Ein wunderbares Bild für das, was den Konstruktivismus im Grunde kennzeichnet, liefert der Film „Matrix“ mit Keanu Reeves in der Hauptrolle. Die Menschen werden von Maschinen und Computerprogrammen in ihrem Denken, in ihren Illusionen gefangen gehalten und haben praktisch keine Chance zu erkennen, dass ihr gesamtes Leben auf ihrer eigenen gedanklichen Konstruktion beruht.

      Der Mensch schafft (konstruiert) sich seine Welt, hat keine Möglichkeit, die Gültigkeit seiner Erkenntnisse zu überprüfen, und kann über die Passung zwischen seiner, der subjektiven Wirklichkeit und einer möglichen „objektiven“ Realität nichts Sicheres aussagen. Im Film glauben die Menschen an eine „Wirklichkeit“, die ausschließlich in ihren Köpfen vorhanden ist und ihnen von Computerprogrammen vorgespielt wird. Zwischen Wirklichkeit und Realität kann nicht unterschieden werden. Die Frage, die sich uns nun stellt, wenn wir uns mit dem Begriff „Konstruktivismus“ beschäftigen, betrifft genau dieses Verhältnis von Wirklichkeit und Realität: Nehmen wir die Welt so wahr, wie sie „ist“, im Sinne einer Abbildfunktion, oder schafft unser Gehirn eigene Wirklichkeiten?

      Derartige Gedanken sind alles andere als neu, man denke an das Höhlengleichnis von Platon, die Schriften des Idealisten George Berkeley oder an jene von Immanuel Kant. Dennoch liefern uns konstruktivistische Zugänge äußerst wertvolle Einsichten, und nicht nur das: Sie versorgen uns mit hilfreichen Begriffen, die wir auch im Dialog sinnvoll nutzen können, zumal unzählige neurobiologische Erkenntnisse auf Basis moderner bildgebender