Reader, New York 2000, S. 712 – 720.
73 Vgl. A. Badiou, Saint Paul. The Foundation of Universalism, Palo Alto 2003 und z. B. die einflussreiche Konzeptualisierung der Spiegelneuronen durch den Kognitionswissenschaftler Vittorio Gallese, die über die Spiegelmetapher hinaus (trotz gegenläufiger Akzente auf gelingender Intersubjektivität statt Verkennungsphantasma) verblüffende Ähnlichkeiten mit Lacans universalisierendem Modell aufweist: V. Gallese, Empathy, Embodied Simulation, and the Brain. Commentary on Aragno and Zepf / Hartmann, in: Journal of the American Psychoanalytic Association 56 (2008), S. 769 – 781.
74 So z. B. J. Butler, Precarious Life. The Power of Mourning and Violence, London, New York 2004.
75 Vgl. z. B J. Puar, Queer Times, Queer Assemblages, in: Social Text 23.3/4 (2005), S. 121 – 139; S. Ahmed, Queer Phenomenology. Orientations, Objects, Others, Durham 2006.
76 J. Puar, „I would rather be a cyborg than a goddess“. Becoming-Intersectional in Assemblage Theory, in: philoSOPHIA 2.1 (2012), S. 49 – 66.
77 Vgl. z. B. D. Spade, Resisting Medicine, Re / modeling Gender, in: Berkeley Women’s Law Journal 15 (2003), S. 15 – 37.
Körper
Irmela Marei Krüger-Fürhoff
Einleitung
Der Begriff ‚Körper‘, der vom lateinischen corpus abgeleitet ist, bezeichnet einen wahrnehmbaren Gegenstand oder die begrenzte Menge eines bestimmten Stoffes (Physik), eine Körperschaft (Rechtswissenschaft, Politologie), meist jedoch Gestalt und materielle Erscheinung eines Lebewesens (Biologie, Anthropologie). Im Kontext dieses Beitrags bezieht sich ‚Körper‘ auf die physische und psychosexuelle Konstruktion des Menschen in seiner geschlechtlichen Markierung, eine Konstruktion, die außerhalb diskursiver und sozialer Kontexte weder existiert noch wahrgenommen werden kann. Obwohl der männliche und vor allem der weibliche Körper schon seit den 1960er-Jahren zu den zentralen Gegenständen von Feminismus und Geschlechterforschung gehören, zeichnet sich seit Mitte der 1980er-Jahre ein regelrechter ‚Körperboom‘ bzw. – vergleichbar mit dem früheren linguistic turn – ein body turn in den von unterschiedlichen politischen Zielsetzungen und wissenschaftlichen Theorieansätzen geprägten Gender Studies ab. Dabei gehört es zu den bleibenden Herausforderungen, die Vielfalt ‚des‘ Körpers (z. B. als junger, behinderter, einer bestimmten Hautfarbe oder Ethnie zugeordneter Körper) ebenso zu reflektieren wie seine Zugehörigkeit zum (historisch, sprachlich und visuell konstruierten) Symbolischen sowie seine Abhängigkeit von physiologischen Phänomenen wie Lust, Schmerz und Sterblichkeit.
Entwicklungsgeschichte des Begriffs
Im Rahmen der Gender Studies erweist es sich als sinnvoll, den Körper in seiner individuell-persönlichen und seiner kollektiven Dimension zu untersuchen, denn auf beiden Ebenen materialisieren sich Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit. Kulturanthropologie und Geschichtswissenschaft haben gezeigt, dass eine Wechselwirkung zwischen der Wahrnehmung von Individual- und Gesellschaftskörper [<< 77] besteht.1 Die historisch sich wandelnden Körperkonzeptionen prägen die (geschlechtsspezifische) Selbstwahrnehmung, beeinflussen religiöse, sexuelle und politische Weltbilder und dienen der Herausbildung kollektiver (z. B. nationaler) Identitäten.2 Dabei wird gerade der weibliche Körper bevorzugt für (allegorische oder symbolische) Darstellungen des Gemeinschaftskörpers eingesetzt, weil er in der (abendländischen) Tradition als ‚natürlich‘ imaginiert wird und deshalb als privilegierte Matrix kultureller Zu- und Einschreibungen fungieren kann.3
Die Assoziation von Weiblichkeit und Natur bedeutet jedoch auch, dass beide zum Objekt der Unterwerfung und Austragungsort (wissenschaftlicher) Macht werden. Zwar richtet sich seit Descartes’ Gegenüberstellung von res extensa und res cogitans die Abwertung des Materiell-Animalischen nicht allein gegen den weiblichen, sondern auch gegen den männlichen Körper, doch kann Letzterer in der philosophischen Tradition leichter von der Aufwertung des Geistes profitieren. Vor dem Hintergrund der Auffassung, dass der männliche Körper die Norm darstelle und der weibliche Körper dessen Abweichung, bildet sich im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts eine ‚weibliche Sonderanthropologie‘ heraus. So wird das sogenannte ‚Ein-Geschlecht-Modell‘, demzufolge der weibliche Körper genauso ausgestattet ist wie der männliche, wenngleich mit nach innen gekehrten Geschlechtsteilen, allmählich vom ‚Zwei-Geschlecht-Modell‘ abgelöst, das männliche und weibliche Sexualorgane als grundsätzlich unterschiedlich auffasst und in ein hierarchisches Verhältnis zueinander setzt.4 Auch die philosophisch-moralische Begründung für den Ausschluss von Frauen aus der öffentlichen Wissensproduktion zugunsten ihrer Reduzierung auf Reproduktions- und Familienarbeit wird zunehmend mit biologisch-anatomischen Argumenten geführt, so dass die Vorstellung von je spezifischen „Geschlechtscharakteren“ 5 in eine naturwissenschaftlich fundierte „Ordnung der Geschlechter“ 6 mündet. Mit Blick auf die Konstruktion des weiblichen Körpers bedeutet dies – um auf [<< 78] ein Begriffspaar zurückzugreifen, auf das im nächsten Abschnitt noch eingegangen wird –, dass gender zu sex gemacht wird.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kursieren unterschiedliche Körperkonzeptionen in den Gender Studies: Neben der Auffassung, der Körper sei ein quasi-natürlicher Garant für Identität oder Differenz steht die Überzeugung, der Körper müsse nicht nur als Objekt kultureller Überformungen und Einschreibungen verstanden werden, sondern werde überhaupt erst diskursiv hervorgebracht.7 Die wissenschaftshistorischen und politischen Hintergründe dieser divergierenden Konzepte werden im Folgenden dargestellt.
Einordnung in die Wissenschaftsgeschichte
Die Frauenbewegung der 1970er-Jahre wendet sich in Selbsterfahrungsgruppen, politischen Arbeitskreisen und wissenschaftlichen Diskussionszusammenhängen vor allem dem weiblichen Körper zu. Sie fordert Selbstbestimmung und Verfügungsgewalt über den eigenen Körper (u. a. in der Debatte um die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs und Alice Schwarzers PorNO-Kampagne), argumentiert gegen die Medikalisierung weiblicher Sexualität (Menstruation, Schwangerschaft, Geburt und Menopause)8 und widmet sich der Rekonstruktion und Aufwertung weiblicher Körpererfahrungen und Wissensbestände 9 sowie der Suche nach neuen Ausdrucksformen weiblicher Lust jenseits von patriarchalen und heterosexuellen Zuschreibungen.
Vor allem in Frankreich verbinden sich dabei linguistische, philosophische und psychoanalytische Perspektiven, die sich kritisch mit abendländischen Denktraditionen bzw. den Weiblichkeitskonzepten von Sigmund Freud und Jacques Lacan auseinandersetzen.10 So entlarvt Luce Irigaray in parodistischen Relektüren die logozentrische und spekuläre Logik von westlicher Philosophie und freudscher Psychoanalyse und plädiert für eine Feier weiblicher Autoerotik und des mütterlichen Körpers sowie für die Entwicklung eines spezifisch weiblichen Sprechens bzw. Schreibens, das der rhythmisch-klanglichen [<< 79] Seite der Sprache besonderen