href="#ulink_d06b2a0d-4357-558a-9613-5ec84a8a587d">31 Harvey schließlich vertrat eine ganz unzeitgemäße epigenetische These der Befruchtung durch eine (damals noch rein hypothetische) Samenzelle. Eine solche heterosexuelle Befruchtung wurde im 18. und 19. Jahrhundert eher zur Ausnahme: Entdeckungen der Naturforscher Japetus Steenstrup, Richard Owen, Theodor von Siebold und Wilhelm Hofmeister zeigten in der Tier- und Pflanzenwelt eine ungeahnte Vielfalt: Generationswechsel von sexueller und asexueller Fortpflanzung, Parthenogenese (s. w. u.) und Hermaphroditismus wurden zu anerkannten Reproduktionsmodi,32 bis hin dazu, dass für Darwin sexuelle Fortpflanzung in keiner Spezies relevant schien.33
Weiterhin hielt sich auch nach Oskar Hertwigs Entdeckung von 1876, dass das Spermium im Befruchtungsprozess in die Eizelle gelangt, ein Nachhall galenscher Säftetheorie in den nun durch die Physiologie geprägten Theorien bis in die 1870er-Jahre, in der Annahme,34 für die Zeugung sei die Auflösung eines oder mehrerer Spermien [<< 102] in der Eizelle essentiell.35 In diesem Kontext verbreitete sich um die 1850er-Jahre die Vorstellung, der gezeugte Nachwuchs stelle den berechenbaren 36 materiellen Überschuss dar, der im Laufe des Lebens mit der Nahrungsaufnahme angesammelt würde. So finden sich in den Texten zur Fortpflanzung zwischen 1850 und 1880 etwa bei dem physiologisch ausgebildeten Zoologen Rudolf Leuckart wie auch bei Charles Darwin 37 vielfältige und metaphernreiche Bezüge zur Ökonomie wie die Begriffe Einnahmen, Ausgaben, Konsumption und Kapital. Diese Bezüge hingen offenbar von der physiologischen Theorie der Flüssigkeiten ab, denn sie wurden mit dem Übergang zu einer späteren morphologischen bzw. mechanischen Theorie der Weitergabe materieller Einheiten obsolet.38 Leuckart vertrat dabei die im Rahmen der Epigenese plausible und zeitgemäße Theorie,39 die Geschlechtsentwicklung geschehe graduell entsprechend äußerer Bedingungen. Die zwei Geschlechter seien lediglich ein Ausdruck der Entwicklung gemäß den Gesetzen der Arbeitsteilung.40
Mit zunehmender Hinwendung zur mechanistischen Theorie wurde dieses physiologische Konzept herausgefordert durch die bereits genannte und schon im 17. Jahrhundert manifest werdende Idee, die Entwicklung des Embryos von der Zeugung ab stelle eine Entfaltung bereits zuvor angelegter Strukturen dar, die durch einen mechanischen Impuls ‚in Gang gesetzt‘ würde. Dieser Theorie folgte auch die Annahme, notwendigerweise müsse diese Anlage entweder in der nun mit dem Mikroskop beobachteten weiblichen Eizelle oder im männlichen Samen zu finden sein. Hier nun entfaltet sich neben den weiterhin existierenden Epigenesistheorien der Streit zwischen Ovisten und Animaculisten, je nachdem, ob man die vollständigen (also auch geschlechtlichen) Anlagen des Menschen im weiblichen oder männlichen Samen sah.41 [<< 103]
Naturforschung im 19. und 20. Jahrhundert: Das gezeugte Geschlecht
In einer Fortführung des mechanistischen Konzepts vertraten seit den 1870er-Jahren die Embryologen bzw. Entwicklungsmechaniker Wilhelm His, Wilhelm Roux und Eduard Driesch die „Kontakt-Theorie“ 42, die auch als „physico-chemische“ Theorie firmiert.43 Der Beginn allen Wachstums läge im Ei begründet, das von einem Stimulus durch das Spermium profitierte: „Nicht die Form ist es, die sich überträgt, […] sondern die Erregung zum formerzeugenden Wachstum, nicht die Eigenschaften, sondern der Beginn eines gleichartigen Entwicklungsprozesses.“ 44 Der Präformationstheorie setzte Oskar Hertwig nach seiner Beobachtung der Fusion von Eizelle und Spermium unter dem Mikroskop 1876 eine „morphologische“ 45 Theorie entgegen. Die materielle Vereinigung der Kerne sowohl der Eizelle wie des Spermiums sei zur Zeugung und Weiterentwicklung nötig und er folgerte (entgegen der Präformationstheorie), alle Körperzellen und Embryonen enthielten die Fähigkeit, sich männlich oder weiblich zu entwickeln.46 Der Zoologe Edouard van Beneden verband diesen zellulären Hermaphroditismus mit der Idee des Energiemoments im Spermium: Er sah in der Befruchtung der Eizelle den Startpunkt eines notwendigen Verjüngungsprozesses der sich dann weiterentwickelnden Eizelle 47 und schloss ebenfalls aus seiner Beobachtung der gleichmäßigen Verteilung von Chromosomen bei der Zellteilung, dass alle Zellen und somit auch der Embryo sowohl männlich als auch weiblich seien.48 [<< 104]
Grundsätzlich bewirkten die Beobachtung der Chromosomen und die spätere Theorie der Vererbung durch sie, dass der Streit zwischen den verschiedenen Schulen des Präformismus um 1900 in der herkömmlichen Form beigelegt war, denn der materielle Beitrag beider Geschlechter in der Zeugung war nun schwer abzuweisen. Dies geschah schließlich auch auf Kosten der Theorie mehrgeschlechtlicher Entwicklungsfähigkeit von Embryonen: In der physiologischen wie ökonomischen Betrachtungsweise der Zeugung konnte der Embryo die verschiedensten Eigenschaften aus einer Anlage entwickeln, die alle Möglichkeiten barg, je nachdem ob ein bestimmtes Phänomen überwog (dies war je nach Theorie das graduelle Überwiegen eines Stoffes oder einer chemischen oder physikalischen Bedingung innerhalb oder außerhalb der Zellen). Nach der Theorie der materiegebundenen Eigenschaften dagegen entschieden konkrete Partikel über eine qualitative Differenz. Dass diese damit dann nicht mehr auf epigenetische Einflüsse der Umgebung, sondern einzig auf Abstammung zurückführbar war, scheint vor dem Hintergrund zunehmender, Kontinente überschreitender Mobilität und rassisierter Klassenkämpfe im die Naturforschung anführenden Vereinten Königreich und Preußen umso relevanter. Die Theorie der Vererbung von Eigenschaften über Chromosomen war nach ihrer Veröffentlichung 1906 relativ schnell akzeptiert. Allerdings war es gerade die Frage, ob und wie Chromosomen Geschlecht vererben, die die Durchsetzung der Theorie der chromosomalen Vererbung erschwerte, da selbst die Vertreter der Theorie Mendels daran festhielten, nicht der Moment der Zeugung entscheide über das Geschlecht, sondern später wirkende Konditionen. 49 [<< 105]
Zeugung des Lebens aus sich selbst heraus als Akt des Widerstands:
Urzeugung, Autopoiese und Parthenogenese in der Moderne
Jenseits der Fragen der Vererbung erlebte die Epigenese-Theorie immer wieder Renaissancen,50 nicht zuletzt als theoretischer Bestandteil von Konzepten der nicht-geschlechtlichen Zeugung, in den Konzepten der Urzeugung oder später Autopoiese. Theorien der Epigenese, die also die Entwicklung zu Formen, die nicht bereits in einer Anlage vorgegeben wird, voraussetzt, finden sich besonders in Reaktion auf den Mechanizismus des 18. Jahrhunderts im Wechselfeld zwischen Naturforschung und Philosophie. Sie beziehen sich auf Phänomene der Selbstorganisation und meinen die kreative und unvorhersagbar lebendige Hervorbringung von komplexen Strukturen in der Natur ebenso wie durch den Menschen. So wandte Kant beispielsweise das Prinzip der „Selbstgebärung“ 51 unseres Verstehens gegen Humes Idee der empirischen Vorprägung unserer Ideen und sprach vom natürlichen Körper als sich selbst organisierendes Wesen,52 während zur gleichen Zeit naturforschende Präformisten und Anhänger der Epigenese-Theorie um die Erklärung