Andreas Mayer

Lese-Rechtschreibstörungen (LRS)


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den Assoziationen zwischen einer orthographischen Einheit und der entsprechenden Phonologie handele es sich demzufolge nicht um eine statische Regelhaftigkeit, sondern um Verknüpfungen, die in einer korrelativen Beziehung zueinander stehen. Manche Verknüpfungen sind wahrscheinlicher als andere. In der deutschen Orthographie wird das Graphem <v> in den meisten Fällen als [f] und nur in einigen wenigen Wörtern als [v] realisiert. Die Korrespondenz zwischen <v> und [f] wird also als wahrscheinlicher angenommen, ist assoziativ enger verknüpft als die Verbindung zwischen <v> und [v].

      interaktive Netzwerke

      Das Modell postuliert, dass das Wissen über Schriftsprache in Form eines interaktiven Netzwerks gespeichert ist, in dessen untereinander verknüpften Einheiten verschiedene Informationen zur Orthographie, Phonologie und Bedeutung repräsentiert sind, die sich wechselseitig Rückmeldungen geben können (Abb. 5).

      Der zentrale Lernschritt im Laufe des Schriftspracherwerbs besteht nun darin, Assoziationen zwischen dem orthographischen und dem phonologischen System auszubilden, wobei das Netzwerk insbesondere in der Lage ist, die gebildeten Verknüpfungen unterschiedlich stark zu gewichten, also manche Verbindungen als wahrscheinlicher anzunehmen als andere.

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      Entwicklung der Worterkennung

      Die Entwicklung und sukzessive Automatisierung der Worterkennung erklärt das Netzwerkmodell folgendermaßen: Die Begegnung mit unterschiedlichem Wortmaterial während des Leselernprozesses führt dazu, dass das orthographische System sukzessive mit visuellen Einträgen gefüllt wird. Da die orthographischen Einheiten üblicherweise gemeinsam mit der entsprechenden Aussprache präsentiert, wahrgenommen und verarbeitet werden, werden die in diesem System gespeicherten Repräsentationen mit entsprechenden Einheiten im phonologischen System ein erstes Mal assoziativ verknüpft (z. B. <iege> – [i:gǝ]).

      Durch die wiederholte Konfrontation mit einer Vielzahl orthographischer Muster und der gemeinsamen Aktivierung orthographischer und phonologischer Repräsentationen werden diese in der Folge positiver Rückmeldung (korrekte Aussprache, sinnentnehmendes Lesen) verstärkt, durch Fehlermeldungen (fehlerhafte Aussprache, kein Auffinden eines entsprechenden Eintrags im mentalen Lexikon) oder Verbesserung der Aussprache (durch die Lehrkraft oder einen anderen kompetenten Leser) geschwächt bzw. modifiziert. Je häufiger die gemeinsame Aktivierung einer orthographischen und phonologischen Einheit zu einer positiven Rückmeldung führt, desto stärker wird diese Verknüpfung gewichtet, desto schneller und automatisierter wird aufgrund des orthographischen Inputs auf diese phonologische Repräsentation zugegriffen (z.B <chs> = [ks] wie in Fuchs). Seltener auftretende Konnexionen zwischen orthographischem Input und phonologischem Output (z. B. <chs> = [χ s] in <Buchseite>) gehen dagegen nur lose Verbindungen ein.

      keine festen Zuordnungen

      Damit gibt es dem konnektionistischen Modell zufolge keine festen Zuordnungen zwischen orthographischen und phonologischen Einheiten, die über explizite Regeln gelernt werden, sondern Verknüpfungen, die infolge umfassender Leseerfahrungen in Schule und Freizeit als wahrscheinlicher als andere angenommen werden.

      Das konnektionistische Netzwerkmodell fokussiert die Verknüpfungen zwischen den orthographischen und den phonologischen Einheiten und grenzt sich dadurch vom Dual Route Modell ab, das für die lexikalische Lesestrategie eine unmittelbare Verbindung zwischen der Orthographie und der Semantik annimmt.

      Einfluss der Semantik

      Dennoch räumt auch das Netzwerkmodell einer Verknüpfung von orthographischen und semantischen Informationen einen gewissen Stellenwert ein (Abb. 5, s. S. 34); Seidenberg / McClelland (1989) der sich Seidenberg /McClelland zu Folge folgendermaßen darstellen lässt: Beim Lesenlernen würden dem Modell zufolge zunächst Assoziationen zwischen der Orthographie eines Wortes und der Phonologie ausgebildet. Da die Phonologie bedeutungstragender sprachlicher Einheiten (Morpheme und Wörter) im mentalen Lexikon immer auch mit der semantisch-konzeptionellen Ebene verknüpft sei, bildeten sich sukzessive auch Verbindun- gen zwischen der Orthographie und der Wortbedeutung aus. Nach Abschluss dieser Lernprozesse würde die Worterkennung durch beide Ebenen des mentalen Lexikons (Phonologie und Semantik) gelenkt. Während das Dual-Route Modell aber eine direkte Verknüpfung zwischen Buchstabenfolge und Wortbedeutung ohne Beteiligung des phonologischen Systems annimmt, wird der semantisch-konzeptionellen Ebene im konnektionistischen Modell lediglich eine unterstützende Funktion bei der Generierung des phonologischen Outputs zugesprochen. Diese Unterstützung sei insbesondere notwendig, um die Aussprache homographer Wörter (orthographisch identische Wörter mit unterschiedlicher Phonologie) zu verifizieren (Der Dachs wandert über die Schindeln des Dachs.)

      Daraus wird ersichtlich, dass auch im konnektionistischen Modell zwei mögliche Routen der Wortverarbeitung angenommen werden. „Ours is a dual-route model“ (Seidenberg / McClelland 1989, 559). Aber die Autoren betonen auch den zentralen Unterschied zum Dual-Route Modell von Coltheart (1978, 2005): Während dieses davon ausginge, dass ein Wort entweder phonologisch rekodierend oder mittels lexikalischer Strategie verarbeitet würde, nimmt das konnektionistische Modell ein System für die Worterkennung an, das sowohl von der Phonologie als auch von der Semantik gelenkt wird.

      Das Dual-Route Model (Coltheart 1978, 2005) und das konnektionistische Netzwerkmodell (Seidenberg / McClelland 1989; Seidenberg 2005, 2007) fokussieren die Worterkennung. Beide versuchen deutlich zu machen, welche sprachlich-kognitiven Prozesse bei der Verarbeitung gedruckter Wörter ablaufen und wie sich Fähigkeiten in diesem Bereich sukzessive automatisieren. Auch wenn beide Modelle den Zugriff auf die Bedeutung im Blick haben, haben sie das Leseverständnis allenfalls auf Wortebene im Blick.

      Der Ansatz des Simple View of Reading (Gough / Tunmer 1986; Hoover / Gough 1990, für den deutschsprachigen Raum vgl. Marx / Jungmann 2000) berücksichtigt neben der Worterkennung nicht nur den Zugriff auf die Wortbedeutung, sondern auch das Leseverständnis auf Satz- und Textebene. Da das Modell kaum Aussagen über die bei der Worterkennung ablaufenden kognitiven Prozesse und deren Entwicklung macht, handelt es sich nicht um eine Alternative, sondern vielmehr um eine Ergänzung der beiden bislang skizzierten Ansätze.

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      Das Modell des Simple View of Reading stellt eine einfache Gleichung auf, die Abb. 6 zu entnehmen ist.

      Teilkomponenten des Leseverständnisses

      Dabei ist den Autoren dieses Ansatzes sehr wohl bewusst, dass sich hinter den beiden Faktoren dieses Produkts jeweils sehr komplexe Fähigkeiten verbergen. Dennoch trifft das Modell keine Aussagen darüber, aus welchen Teilkomponenten sich die beiden Variablen Worterkennung (Decoding) und Hörverständnis (Comprehension) zusammensetzen, welche grundlegenden (meta-)sprachlichen und kognitiven Komponenten notwendig sind, damit sich diese Fähigkeiten ungestört entwickeln können oder welche Ursachen für Beeinträchtigungen angenommen werden können. Er geht lediglich davon aus, dass sich das Leseverständnis trotz aller Komplexität auf diese beiden Faktoren reduzieren lässt.

      Bedeutung der Worterkennung

      Mit dem Begriff der Worterkennung nehmen die Autoren Bezug zum Dual-Route Modell und subsummieren darunter sowohl die indirekte als auch die direkte Lesestrategie. Es handelt sich hier also um die spezifische schriftsprachliche Fähigkeit, die Kinder in den ersten Schuljahren möglichst schnell und sicher erlernen und automatisieren müssen.

      Auch wenn die Worterkennung für das Leseverständnis nicht ausreichend ist, die Umwandlung der Zeichenfolge in Lautsprache mittels der indirekten Lesestrategie vielmehr auch ohne Zugriff auf die Wortbedeutung möglich ist, stellt