Andreas Mayer

Lese-Rechtschreibstörungen (LRS)


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dar, wobei dieser Umwandlungsprozess auf Satz- und Textebene auch durch semantische und syntaktisch-morphologische Antizipationen gelenkt werden kann. Bei beeinträchtigter Worterkennung müssen Kinder nun einen Großteil der vorhandenen kognitiven Kapazitäten auf die Lesetechnik lenken, sodass kaum mehr Ressourcen für das Leseverständnis (Reading Comprehension) zur Verfügung stehen.

      Miller / Keenan (2009) ergänzen diese Annahme, indem sie betonen, dass Kinder im Fall der beeinträchtigten Worterkennung insbesondere nicht mehr in der Lage seien, ihre Aufmerksamkeit auf die textstrukturellen Hinweise zu lenken, die auf zentrale Aussagen und Ideen hinweisen, bzw. die wichtigsten Aussagen untereinander zu verbinden und von peripheren Informationen zu differenzieren.

      Bedeutung des Hörverständnisses

      Unter dem Begriff Hörverständnis (Listening Comprehension), dem zweiten Faktor in der Gleichung des Simple View of Reading, werden keine spezifisch schriftsprachlichen, sondern alle sprachlich-kognitiven Fähigkeiten verstanden, die allgemein zur korrekten und situationsangemessenen Interpretation von Sprechakten benötigt werden. Es handelt sich also primär um rezeptive semantisch-lexikalische, grammatische und pragmatische Kompetenzen. Sie werden üblicherweise durch die Wiedergabe der Inhalte eines vorgelesenen Textes, das Ausagieren mündlich präsentierter Äußerungen mit konkreten Gegenständen (Petermann et al. 2010) erfasst oder indem aus mehreren Alternativen das zu einem Satz am besten passende Bild ausgewählt werden muss (Fox 2006).

      multiplikativer Zusammenhang

      Von besonderer Bedeutung ist der in der Gleichung angenommene multiplikative Zusammenhang. Geht man davon aus, dass die beiden Faktoren und damit auch das Produkt Werte zwischen Null und Eins annehmen können, nimmt das Leseverständnis den Wert Null an, sobald einer der Faktoren dem Wert Null entspricht. Auf der anderen Seite wird durch die Gleichung ausgedrückt, dass bei perfekter Kompetenz in einem der beiden Faktoren das Leseverständnis der Qualität des zweiten Faktors entspricht. Perfekte Worterkennung vorausgesetzt, kann ein Text also genauso gut verstanden werden wie eine analoge lautsprachlich präsentierte Äußerung.

      Allerdings relativieren die Autoren die Aussage dieser Gleichung zu Recht. Die Prozesse des Leseverständnisses können auch bei perfekter Dekodierfähigkeit nicht mit den Prozessen des Sprachverständnisses gleichgesetzt werden, weil die in der mündlichen Kommunikation vorhandenen nonverbalen Informationsträger wie Mimik, Gestik, Prosodie sowie der räumliche und situative Kontext in der Schriftsprache nicht zur Verfügung stehen. Der Ansatz geht aber davon aus, dass die Unterschiede weniger stark ausgeprägt sind als die Parallelen.

      Forschungsergebnisse

      Die zentralen Annahmen des Simple View of Reading können aufgrund zahlreicher Forschungsergebnisse als bestätigt angenommen werden. Gough / Tunmer (1986) und Hoover / Gough (1990) fassen die Resultate zahlreicher Studien zusammen, die belegen, dass die beiden Faktoren jeweils unabhängige, spezifische Beiträge zur Varianzaufklärung des Leseverständnisses liefern.

      Dabei lassen sich in Abhängigkeit vom Alter der Kinder unterschiedliche Zusammenhänge nachweisen. Vermutlich aufgrund der geringen sprachlichen Komplexität des Lesematerials, das auch von Kindern mit gering ausgeprägtem Sprachverständnis verarbeitet werden kann, ist der Einfluss der Worterkennung auf das Leseverständnis in den ersten Schuljahren größer als derjenige des Sprachverständnisses. Mit zunehmender Automatisierung der Worterkennung und paralleler Zunahme der sprachlichen Komplexität der Lesetexte, übernehmen lexikalische und grammatische Fähigkeiten in der rezeptiven Modalität (Sprachverständnis) sukzessive die dominante Rolle bei der Erklärung von Unterschieden im Leseverständnis, wenn auch die Worterkennung nach wie vor einen signifikanten Einfluss ausübt. Die Prämissen des Simple View of Reading konnten für den deutschsprachigen Raum von Marx / Jungmann (2000) bestätigt werden:

      „Demnach scheinen Schwierigkeiten im Worterkennen bei Leseanfängern der Hauptgrund für Schwierigkeiten beim Leseverstehen zu sein. Mit zunehmend besseren Fertigkeiten zum Worterkennen bildet das Fertigkeitsniveau des Hörverstehens die obere Leistungsgrenze im Leseverstehen“ (Marx / Jungmann 2000, 83).

      praktische Implikationen

      Der Annahme, dass Schwierigkeiten mit dem Leseverständnis einerseits aus einer Beeinträchtigung im Bereich der Worterkennung resultieren, andererseits die Konsequenz aus Defiziten in der Verarbeitung lautsprachlicher Strukturen darstellen können, hat unmittelbare Implikationen für die diagnostische und therapeutische Praxis. Um die grundlegenden Defizite von Kindern mit Verstehensschwierigkeiten identifizieren zu können, sollten diagnostisch sowohl die Fähigkeiten im Bereich der Worterkennung, z. B. mithilfe des SLRT II (Moll / Landerl 2010; Kap. 7.1), als auch das Sprachverständnis, z. B. mithilfe des TROG-D (Fox 2006) oder einzelner Subtests des SET 5–10 (Petermann et al. 2010), erfasst werden.

      2.4 Entwicklungsmodelle

      Im Folgenden wird eine Synopse der Aussagen verschiedener Autoren zur Entwicklung schriftsprachlicher Kompetenzen vorgestellt, die verdeutlichen soll, in welchen Schritten und mithilfe welcher Strategien es Kindern gelingt, die in Kapitel 2.1 und 2.2 modellhaft dargestellte Verarbeitung einzelner Wörter beim Lesen und Schreiben sukzessive zu automatisieren, sodass das Niveau eines kompetenten Lesers und Schreibers erreicht wird.

      Lesen und Schreiben als Entwicklungsprozess

      Frith (1986) betonte bereits vor 30 Jahren, dass der Schriftspracherwerb kein linearer Vorgang ist, bei dem das Kind von Anfang an dasselbe Verständnis von Schriftsprache hat wie Erwachsene und dieselbe Tätigkeit perfektioniert (wie z. B. beim Fahrradfahren), sondern dass das (meta)sprachlich-kognitive System im Laufe der Entwicklung qualitativen Umstrukturierungen unterworfen ist, die sich als unterschiedliche Phasen mit jeweils dominanten Strategien kennzeichnen lassen.

      keine eindeutige Entwicklungsabfolge

      Dabei dürfen die angenommenen Stufen nicht als eindeutig voneinander abgrenzbare Phasen interpretiert werden. Die Strategien, die für die einzelnen Stufen charakteristisch sind, entwickeln sich zum Teil parallel und überlappen sich. Klicpera et al. (2013, 26) betonen bspw., dass ihr „Kompetenzentwicklungsmodell“ weniger als eindeutige Abfolge bestimmter Entwicklungsphasen zu interpretieren ist, sondern sich an den wesentlichen Lesekompetenzen orientiert, die im Laufe der Entwicklung zu erwerben sind. Auch Costard (2011) geht davon aus, dass sich die unterschiedlichen Lese- und Schreibstrategien von Beginn an gleichzeitig entwickeln und sich gegenseitig positiv beeinflussen. „Entsprechend findet man bei ein und demselben Kind zu ein und demselben Zeitpunkt Wörter in verschiedenen Lese- bzw. Schreibweisen nebeneinander“ (Costard 2011, 42).

      2.4.1 Präliteral-symbolische Phase

      Bedeutung der Bilderbuchbetrachtung

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