Andreas Mayer

Lese-Rechtschreibstörungen (LRS)


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Gestaltungen auf produktiver Seite. Das Kind beginnt aufgrund motorischer Schwierigkeiten noch recht unvollkommene Bilder zu malen und seinen Bildern eine Bedeutung zu geben. Dieses graphische Gestalten mit der Zuweisung einer Bedeutung bereitet unmittelbar auf das spätere Schreiben vor.

      qualitative Veränderungen

      Gegen Ende dieser Phase lassen sich sowohl auf rezeptiver als auch auf produktiver Seite qualitative Veränderungen identifizieren. Im Vergleich zur Schreibprobe in Abb. 7 links, in der das Kind versucht, das Gemeinte konkret darzustellen, fallen beim Schreibprodukt auf der rechten Seite der Abbildung v. a. die lineare Anordnung und die Verwendung kleinerer buchstabenähnlicher Zeichen auf.

      Während in der rezeptiven Modalität anfänglich Bilderbücher ausschließlich betrachtet und evtl. einzelne Bildausschnitte benannt werden, beginnt das Kind gegen Ende dieser Phase mit dem „Vorlesen“ der Bücher. Dabei unterscheidet sich seine Sprechweise deutlich von seiner Alltagssprache. Die Prosodie ist deutlich ausgeprägter. Das Kind achtet auf grammatikalisch vollständige Sätze. Direkte Rede wird eingebaut und die Sprechweise ist deutlicher und langsamer.

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      Ausbildung einer impliziten phonologischen Bewusstheit

      Gegen Ende dieser Phase gelingt es Kindern nun auch sukzessive, ihre Aufmerksamkeit in spielerischer Art und Weise auf die Klanggestalt der Sprache zu lenken, was sich in einer (zunächst noch unbewussten, impliziten) Fähigkeit zeigt, Reime zu erkennen und zu produzieren sowie Wörter in Silben zu segmentieren. Es handelt sich also um Fähigkeiten, die der „phonologischen Bewusstheit im weiteren Sinn“ (Skowronek / Marx 1989, 42) bzw. der impliziten phonologische Bewusstheit für größere sprachliche Einheiten (Schnitzler 2008) zugeordnet werden (Kap. 5.3).

      Aber auch auf Phonemebene lassen sich in dieser Entwicklungsphase bei vielen Kindern bereits implizite Fähigkeiten nachweisen. So sind sie häufig bereits in der Lage, einfache Laut-zu-Wort-Aufgaben („Hörst Du ein [a] in Ameise?“) oder Aufgabenstellungen zur Anlautkategorisierung („Welche Wörter hören sich am Anfang gleich an? Ameise, Ahorn, Fuß.“) zu lösen, v. a. wenn es sich bei dem zu identifizierenden Phonem um einen silbenwertigen Vokal handelt.

      visuelle Strategie

      Der Wechsel von der präliteral-symbolischen zur logographemischen Stufe wird üblicherweise durch die Motivation zum Lesen ausgelöst. Das zentrale Charakteristikum dieser Phase ist die rein visuelle Vorgehensweise. Die Kinder bilden arbiträre Assoziationen zwischen den besonders hervorstechenden Merkmalen eines visuellen Zeichens und dessen Bedeutung. Die rein visuelle Vorgehensweise wird bspw. an der Fähigkeit ersichtlich, Embleme von Firmen oder Produkten zu erkennen, die aber nur im Kontext der charakteristischen Merkmale, aber nicht mehr im normalen Buchstabenformat identifiziert und benannt werden können (Ehri 1992).

      Der zentrale Lernfortschritt in dieser Phase besteht darin, dass die Kinder erkennen, dass die Symbole der Schrift Sprache abbilden. Während in alphabetischen Schriften aber die phonologische Struktur der Sprache abgebildet wird, bilden Kinder in dieser Phase Assoziationen zwischen der Schrift und der Bedeutung des Wortes.

      Auch auf produktiver Seite geht das Kind rein visuell vor. Bei Schreibversuchen findet keine auditive Analyse im Sinne einer Analyse des Wortes in Einzellaute mit anschließender Graphemzuordnung statt. Vielmehr werden einige wesentliche, visuell besonders hervorstechende Merkmale des Wortes aus dem Gedächtnis wiedergegeben.

      Zweifel an der Existenz der logographemischen Strategie

      Wimmer / Hummer (1990) gehen davon aus, dass die in den meisten Entwicklungsmodellen postulierte logographemische Strategie weniger eine natürliche Entwicklungsstufe, sondern vielmehr den Anfangsunterricht im angloamerikanischen Raum widerspiegelt. Aufgrund der Unregelmäßigkeit der GPK war es in englischsprachigen Ländern lange Zeit Usus, Kindern zu Beginn des Erstleseunterrichts, das Erkennen wichtiger Wörter anhand zentraler visueller Charakteristika zu vermitteln, eine Vorgehensweise, die Parallelen zu der Ganzwortmethode im deutschsprachigen Raum in den 1960er Jahren aufweist. Aktuell werden Kinder hierzulande dagegen von Anfang an mit den GPK und dem Prinzip der Synthese und Analyse konfrontiert. Entsprechend konnten Wimmer / Hummer bei Deutsch sprechenden Erstklässlern keine Zeichen der logographemischen Strategie erkennen. Vielmehr waren die meisten Kinder bereits wenige Monate nach Schuleintritt in der Lage, Pseudowörter korrekt zu lesen, eine Fähigkeit, die sich nur durch die Anwendung der alphabetischen Strategie erklär lässt. Die logographemische Strategie dürfte sich ausschließlich auf das Vorschulalter beschränken, wenn bekannte Firmenlogos und Produktnamen benannt und auf der produktiven Seite mit dem eigenen und dem Namen der engsten Bezugspersonen experimentiert wird. Auch Klicpera et al. (2013) sprechen von einer möglichen, aber nicht zwingend auftretenden kurzen rudimentären Phase logographemischen Lesens in der Vorschulzeit.

      Kern des Erwerbs der alphabetischen Strategie ist der schrittweise Erwerb und das Verstehen des Prinzips der GPK-R sowie das Erlernen der indirekten Lese- (Coltheart 1978, 2005, Kap. 2.1) und der segmentalen Schreibstrategie. Von zentraler Bedeutung ist die Ausbildung eines impliziten Verständnisses dafür, dass die visuellen Symbole der Schriftsprache die phonologische Struktur der Lautsprache abbilden.

      Der vollständige Erwerb und die Perfektionierung der alphabetischen Strategie nehmen auch bei Kindern ohne Schriftspracherwerbsprobleme üblicherweise einen längeren Zeitraum in Anspruch. Da sich innerhalb dieser Phase auch qualitativ unterschiedliche Strategien identifizieren lassen, wurde sie von einigen Autoren in Zwischenstadien gegliedert.

      Zwischenstadien

      Kirschhock (2004) beschreibt die Entwicklung des Lesens innerhalb der alphabetischen Strategie folgendermaßen: Ausgehend von einer beginnenden alphabetischen Strategie, mit Hilfe derer einzelne Buchstabennamen und Laute benannt werden und Wörter aufgrund des Kontextes in Zusammenhang mit dem Anfangsbuchstaben erraten werden, gelingt es mit der teilweise entfalteten alphabetischen Strategie einzelne Laute und der sich anschließenden weitgehend entfalteten alphabetischen Strategie ein Wort vollständig zu synthetisieren. Die voll entfaltete alphabetische Strategie mit der sicheren Anwendung der Synthese bildet den Abschluss dieser Phase. Auch hier kommt es noch vereinzelt zu einer verzögerten Sinnentnahme, wenn die Kinder nach der Generierung einer phonologischen Rohform im mentalen Lexikon nach dem Eintrag mit der größtmöglichen Übereinstimmung suchten und das Wort dann in natürlicher Aussprache artikulieren. Eine analoge Entwicklungsabfolge nimmt Kirschhock (2004) für das Schreiben an. Auch hier differenziert sie eine beginnende alphabetische Strategie, mit der die Kinder den Anfangslaut oder einen besonders prägnanten Laut eines Wortes wiedergeben, eine teilweise entfaltete alphabetische Strategie, bei der die Schreibweisen über Skelettschreibweisen in der Folge immer genauer werden und eine voll entfaltete alphabetische Strategie, bei der auch die durch Vorsprechen und Abhören eines Wortes vorkommenden Zwischenlaute und dialektale Besonderheiten wiedergegeben werden.

      Auch Klicpera et al. (2013) unterscheiden in dieser Phase Schreibweisen, bei denen zunächst jede Silbe durch einen Buchstaben abgebildet wird, während später phonetische Merkmale verschriftet werden, die von Erwachsenen gar nicht mehr wahrgenommen werden (z. B. Auslautverhärtung).

      Am Ende der alphabetischen Phase lassen sich beim Schreiben bereits manchmal orthographische Besonderheiten identifizieren, die aber inkonstant und unsystematisch verwendet werden. Vereinzelt kommt es dabei auch zu Übergeneralisierungen, die aber nicht als Entwicklungsrückschritt interpretiert werden dürfen. Bspw. werden die zu einem früheren Zeitpunkt bereits richtig geschriebenen Wörter <Sofa>, <Opa> und <Oma> später als <Sofer>, <Oper>, und <Omer> verschriftet, wenn das Kind die orthographische Besonderheit des Deutschen, dass ein [ɐ] am Wortende mit der Buchstabenfolge <er> wiedergegeben wird, verinnerlicht hat.

      Zusammenhang