Lese-Rechtschreibschwierigkeiten entwickelt.
Dies bestätigen Forschungsarbeiten aus dem angloamerikanischen Raum. So konnten Catts et al. (1999) zeigen, dass bei 70 % leseschwacher Kinder der zweiten Klasse bereits im Vorschulalter sprachliche Defizite offensichtlich waren. In der Untersuchung von Catts et al. (2002a) schnitten 53 % bzw. 48 % der im Vorschulalter als spracherwerbsgestört diagnostizierten Kinder bei Lese-Rechtschreibüberprüfungen in der zweiten bzw. vierten Klasse im unterdurchschnittlichen Bereich ab. Verglichen mit den Werten für sprachnormale Kinder liegt das Risiko spracherwerbsgestörter Kinder, Lese-Rechtschreibschwierigkeiten zu entwickeln etwa sechsmal so hoch wie bei sprachlich unauffälligen Kindern.
Negative Auswirkungen der Lese-Rechtschreibstörung
„Die Lese-Rechtschreibstörung kann sich negativ auf das Leseverständnis, die kognitive, die sprachliche sowie die sozio-emotionale Entwicklung auswirken.“
Auswirkungen auf die sprachliche Entwicklung
Der Spracherwerb ist mit Schuleintritt keineswegs abgeschlossen. Was den Wortschatz angeht, gelingt es Kindern zwischen dem sechsten und dem 15. Lebensjahr ca. 3.000 Wörter pro Jahr in ihr mentales Lexikon einzuspeichern. Es ist zu vermuten, dass ein nicht unmaßgeblicher Anteil dieses rasanten Wortschatzwachstums dem Lesen von Sachtexten und Kinderbüchern geschuldet ist. Aufgrund der semantisch und grammatisch komplexeren Gestaltung von Texten im Vergleich zur lautsprachlichen Kommunikation ist ebenso anzunehmen, dass die zunehmende Verwendung komplexer Strukturen wie Appositionen, Infinitivkonstruktionen, Gerundiv, adverbialer Konjunkte bei Kindern und Jugendlichen zu einem großen Teil aus der Auseinandersetzung mit Schriftsprache resultiert. Leseschwache Kinder, die aufgrund ihrer Schwierigkeiten mit der Lesetechnik weniger Leseerfahrungen machen, können das Lesen weder als Quelle elaborierter Spracherfahrung noch zur Bereicherung von Wort- und Weltwissen nutzen (Dannenbauer 2002).
Auswirkungen auf die soziale und personale Entwicklung
Schwierigkeiten im Bereich der schriftsprachlichen Kommunikation kombiniert mit einer eingeschränkten Weiterentwicklung sprachlicher Fähigkeiten im Bereich Wortschatz und komplexer Syntax dürften sich in vielen Fällen wiederum auf die personale und soziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen auswirken. Das Beherrschen komplexer syntaktischer Strukturen ermöglicht es, die eigenen Gedanken sprachlich zu ordnen und die eigenen Emotionen, Phantasien und Ideen sprachlich exakt wiederzugeben sowie die sprachlichen Mittel einzusetzen, die einer spezifischen Situation angemessen sind. Stehen diese nicht zur Verfügung, könnte dies die Akzeptanz in der Peer-Group reduzieren, vor allem wenn man bedenkt, dass „es zu einem Kennzeichen des Jugendalters [gehört], dass sich Freundschaften bilden, indem man ‚einfach nur redetʻ“ (Dannenbauer 2002, 11). Da im digitalen Zeitalter ein nicht unerheblicher Anteil der Kommunikation zwischen Jugendlichen in sozialen Netzwerken stattfindet, sollte auch die Gefahr sozialer Ausgrenzung aufgrund beeinträchtigter Lese- und Schreibkompetenzen nicht unterschätzt werden.
Gefährdung der kognitiven Entwicklung
Negative Auswirkungen – insbesondere eines beeinträchtigten Leseverständnisses – sind auch im Bereich der schulischen bzw. allgemein kognitiven Entwicklung anzunehmen. Schulisches Lernen ist zu einem großen Teil laut- und schriftsprachlich vermitteltes Lernen. Spätestens ab der dritten Klasse wird erwartet, dass Kinder in der Lage sind, selbstständig Informationen aus Sachtexten, Sachbüchern und dem Internet zu entnehmen. Während in den ersten beiden Schuljahren das Erlernen des Lesens im Mittelpunkt steht, wird dies durch „Lesen um zu lernen“ abgelöst. Da Kinder mit beeinträchtigtem Sprach- und Leseverständnis mündliche Erklärungen der Lehrkraft und Lesetexte nur bedingt verarbeiten können, laufen sie Gefahr, sich die schulischen Lerninhalte trotz prinzipiell vorhandener kognitiver Kompetenzen nur eingeschränkt aneignen zu können. Je komplexer die zu verarbeitenden Texte und mündlichen Erklärungen im Laufe der Schuljahre werden, desto größer ist die Gefahr, dass diese Kinder den Anschluss an ihre Klassenkameraden verlieren und sich aus einem eigentlich spezifisch (schrift-)sprachgestörten Kind ein allgemein lernschwaches Kind entwickelt.
Zusammenfassung
Die Lese-Rechtschreibstörung ist eine Lernproblematik, die sich durch eine beeinträchtigte Worterkennung, Lesegeschwindigkeit und Rechtschreibung charakterisieren lässt. Diese spezifische schriftsprachliche Problematik kombiniert mit sprachlichen Beeinträchtigungen auf semantisch-lexikalischer und grammatischer Ebene führt dazu, dass betroffene Schülerinnen und Schüler auch Schwierigkeiten mit dem Leseverständnis entwickeln. Aufgrund der Bedeutung schriftsprachlicher Kommunikation in Schule, Freizeit und Berufsleben kann es zu negativen Auswirkungen auf die Gesamtentwicklung kommen.
4 Ursachen der Lese-Rechtschreibstörung
Von Sven Lindberg
Lernziele
verschiedene Theorien zur Verursachung der Lese-Rechtschreibstörung kennen lernen und hinsichtlich ihrer Plausibilität einschätzen können (Kap. 4.2.1)
die für die Leseleistung zentralen Gehirnregionen kennen (Kap. 4.2.2)
keine spezifischen Gene und Hirnregionen
In Bezug auf die Geschichte der Menschheit ist die Verwendung von Schriftsprache noch ein recht junges Phänomen und hat ihre Ursprünge ca. 3400 Jahre v. Ch. (Lawler 2001; Kap. 1.1). Lange Zeit war das Lesen und Schreiben nur einem geringen Teil der Weltbevölkerung vorbehalten, und auch im Jahr 2010 waren nach Schätzungen der UNESCO (2010) etwa 16 % der Menschen weltweit mit diesen Kulturtechniken noch nicht vertraut. Für das Lesen und Schreiben kann es demnach keine spezifischen Gene oder Hirnregionen geben. Vielmehr geht man davon aus, dass im Laufe der Entwicklung vorhandene Strukturen für die Umsetzung des Lese- und Schreibvorgangs genutzt wurden. Am Lese- und Schreibvorgang sind viele basale kognitive Fertigkeiten beteiligt, wobei die auditive und visuelle Wahrnehmung sowie Lern- und Gedächtnisprozesse eine zentrale Rolle spielen (Dehaene / Cohen 2007). Die Forschung ist sich weitgehend einig, dass Störungen im Bereich der kognitiven Informationsverarbeitung mit neurobiologischen Ursachen zu einer Beeinträchtigung des Schriftspracherwerbs führen. In diesem Kapitel werden die zentralen genetischen und neurobiologischen Grundlagen der Lese-Rechtschreibstörung beschrieben und verschiedene Theorien zu kognitiven Ursachen diskutiert.
4.1 Zur Genetik der Lese-Rechtschreibstörung
familiäres Risiko
Schon früh konnten Studien zeigen, dass für die Entwicklung einer Lese-Rechtschreibstörung ein familiäres Risiko vorliegt (Pennington / Smith 1988). Es ist davon auszugehen, dass eine genetische Beeinflussung auf sprachbasierten kognitiven Grundlagen besteht, die im Laufe der Evolution entstanden ist. Durch den Zusammenhang zwischen Sprache und den Kulturtechniken Lesen und Schreiben wirken sich genetisch bedingte Unterschiede bzw. Auffälligkeiten auf die Entwicklung der Schriftsprache aus und können mitverantwortlich für die Entstehung einer Lese-Rechtschreibstörung sein (Pennington / Olsen 2007). Mittels großangelegter Entwicklungsstudien konnte gezeigt werden, dass Kinder mit einer diagnostizierten Lese-Rechtschreibstörung häufig aus Familien stammten, in denen bei den Eltern und Geschwistern ebenfalls Lese-Rechtschreibprobleme festgestellt wurden, während in Familien normallesender Kinder solche Probleme deutlich seltener auftraten (Pennington / Olsen 2007). Diese Beobachtungen lassen einen genetischen Zusammenhang vermuten, allerdings könnten die Unterschiede ebenso durch spezifische Umweltfaktoren vermittelt sein.
Zwillingsstudien
Um zwischen genetischen und umweltbezogenen Einflüssen trennen zu können, werden in der Forschung daher Zwillingsstudien mit eineiigen und zweieiigen Zwillingen durchgeführt. Durch solche Untersuchungen kann sichergestellt