Andreas Mayer

Lese-Rechtschreibstörungen (LRS)


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et al. 1996) und in Schätzaufgaben mit zeitlichen Intervallen (Nicolson et al. 1995) unterstützen diese Annahme.

      Die zerebelläre Defizithypothese ist zum Teil massiver Kritik ausgesetzt, und sowohl ihre empirische Basis (Raberger / Wimmer 2003) als auch das postulierte Automatisierungsdefizit wurden wiederholt angezweifelt. Zudem scheinen zerebelläre Beeinträchtigungen nur bei einer Teilgruppe von Personen zu einer Lese-Rechtschreibstörung zu führen.

      magnozelluläre Theorie

      Die Begründer der magnozellulären Theorie versuchen, die verschiedenen Defizite, die bei Menschen mit einer Lese-Rechtschreibstörung beobachtet wurden, in einem übergreifenden Erklärungsansatz zusammenzuführen (Stein / Walsh 1997). Dabei gehen sie davon aus, dass die Fehlfunktionen im magnozellulären System nicht nur das visuelle System, sondern alle Modalitäten (visuelle, auditive und taktile) betreffen. Funktionsdefizite des Cerebellums sind demnach fehlerhaften Informationen aus verschiedenen magnozellulären Systemen geschuldet (Stein et al. 2001). Die Annahmen werden mit Ergebnissen untermauert, die belegen konnten, dass Menschen mit einer Lese-Rechtschreibstörung auch Schwierigkeiten in taktilen Aufgaben zeigen (Grant et al. 1999; Stoodley et al. 2000) und dass bei einer Teilgruppe visuelle und auditive Probleme gleichzeitig beobachtet werden konnten (Cestnick 2001; Van Ingelghem et al. 2001; Witton et al. 1998).

      kritische Betrachtung der Theorien

      In der internationalen Forschung hat sich die phonologische Theorie als der am besten erforschte und anerkannteste Erklärungsansatz für die Entstehung einer Lese-Rechtschreibstörung etabliert. Mittlerweile wird vermehrt darüber diskutiert, inwieweit bei Personen mit einer Lese-Rechtschreibstörung tatsächlich ein Defizit in der Repräsentation phonlogischer Informationen vorliegt. Möglicherweise sind die Repräsentationen an sich nicht beeinträchtigt, sondern der Zugriff auf diese Informationen im mentalen Lexikon ist gestört (Ramus / Szenkovits 2008). Daher gilt es zu klären, inwieweit es sich bei einer defizitären phonologischen Verarbeitung um ein Speicherproblem (Informationen werden fehlerhaft eingespeichert) oder ein Abrufproblem (Informationen werden fehlerhaft bzw. unvollständig abgerufen) handelt. Darüber hinaus bleibt im Rahmen der phonologischen Theorie ungeklärt, warum bei Personen mit einer Lese-Rechtschreibstörung häufig auch sensorische und motorische Defizite beobachtet werden können. Bisher werden nicht sprachliche Faktoren als zusätzliche Marker beschrieben und berücksichtigt, aber nicht als signifikanter Einflussfaktor gewertet (z. B. Snowling 2000). Interessanterweise wird in einigen Studien auch von massiven Lese-Rechtschreibschwierigkeiten berichtet, ohne dass eine Beeinträchtigung der phonologischen Verarbeitung ermittelt werden konnte (Castles / Coltheart 1996; Valdois et al. 2003).

      Die zerebelläre Defizithypothese legt ihren Fokus einseitig auf motorische Beeinträchtigungen und hat dadurch keine Erklärungsansätze für potenzielle sensorische Defizite, die bei Personen mit einer Lese-Rechtschreibstörung beobachtet werden können. Kritisiert wird zudem der direkte kausale Bezug zwischen Artikulation und phonologischer Verarbeitung bzw. der allgemeinen Sprachentwicklung. In vielen Studien wurden darüber hinaus nur geringe oder gar keine motorischen Defizite bei Personen mit einer Lese-Rechtschreibstörung gefunden. Daher wird vermutet, dass Probleme dieser Art möglicherweise nur bei Personen mit einer komorbid auftretenden Aufmerksamkeitsstörung ermittelt werden können (Denckla et al. 1985; Wimmer et al. 1999).

      Durch ihre übergreifende Ausrichtung bietet die magnozelluläre Theorie einen integrativen Erklärungsansatz der Lese-Rechtschreibstörung, der sowohl kognitive, sensorische als auch motorische Defizite berücksichtigt. Insgesamt werden allerdings umfassende Einschränkungen und Schwächen der Theorie diskutiert (Ramus 2001). Befunde weisen beispielsweise darauf hin, dass nur bei einem Teil der Menschen mit einer Lese-Rechtschreibstörung auditive und visuelle Probleme feststellbar sind. Darüber hinaus können visuelle Probleme bei verschiedenen visuellen Anforderungen beobachtet werden und scheinen daher nicht spezifisch für rein magnozelluläre Aufgaben zu sein (Skottun 2000). Insgesamt ist die empirische Befundlage für die Bestätigung eines magnozellulären Verarbeitungsdefizits bei Personen mit einer Lese-Rechtschreibstörung als eher schwach anzusehen. Des Weiteren gibt es Kritik an den Methoden, mit denen die Funktion des magnozellulären Systems untersucht wurden, und mehrere Studien konnten keine Unterschiede in magnozellulären Funktionen zwischen normalen und lese-rechtschreibgestörten Lesern finden (Skottun 2000). In einigen Untersuchungen mit Personen, bei denen Defizite in magnozellulären Funktionen ermittelt werden konnten, traten zudem keine Beeinträchtigungen in der Leseleistung auf (Lehmkuhle et al. 1993).

       Zusammenfassung

      4.2.2 Neurokognitive Korrelate der Lese-Rechtschreibstörung

      neuronale Korrelate der Leseentwicklung

      Die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) als bildgebendes Verfahren ermöglicht es, Aktivierungen in verschiedenen Hirnarealen darzustellen.

      Bei der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) handelt es sich um ein bildgebendes Verfahren, mit dem die in einer aktuellen Situation (z. B. Beurteilung des Reims zweier Wörter, Lesen von Einzelwörtern) aktivierten Hirnareale sichtbar gemacht werden können.

      Studien mit dieser forschungsgeschichtlich gesehen noch jungen Technologie haben linkshemisphärisch drei neuronale Systeme identifizieren können, die grundlegend an Prozessen des Lesens beteiligt sind (Schlaggar / McCandliss 2007). In Übereinstimmung mit den Dual-Route Modellen des Lesens (Coltheart 1978, 2005; Kap. 2.1) können diese wiederum in ein ventrales (ventral: unten liegend) orthographisches und ein dorsales (dorsal: oben liegend) phonologisches System unterteilt werden, die im Zusammenhang mit der indirekten beziehungsweise direkten lexikalischen Strategie stehen (Kap. 2).

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      orthographisches System

      Das orthographische System liegt im hinteren Bereich der linken Hirnhälfte (posterior) in der sogenannten okzipito-temporalen Region an der Schnittstelle zwischen Gehirnwindungen, die als Gyrus lingualis und Gyrus fusiformis bezeichnet werden (Abb. 8).

      Wissenschaftler gehen davon aus, dass dieses System mittels der Spezialisierung bestimmter Neuronenverbände auf die Erkennung sublexikalischer orthographischer Einheiten das flüssige und automatische Erfassen von Wörtern ermöglicht (sog. Visual-Word-Form Area Cohen et al. 2000; Dehaene et al. 2002; McCandliss et al. 2003). Darüber hinaus wird berichtet, dass vergleichbare Aktivierungen in dieser Region ebenfalls bei der Verarbeitung visuell dargebotener Objekte auftreten und dass das okzipito-temporale System möglicherweise für die stabile Repräsentation visueller Stimuli (wie Formen und Farben) verantwortlich ist. Durch die aktive Verknüpfung mit anderen Arealen kann dann die Kopplung an nicht visuelle Eigenschaften der Stimuli wie Semantik und Phonologie hergestellt werden (Devlin et al. 2006; Price / Devlin 2003).

      phonologisches System

      Das phonologische System wird in zwei Bereiche mit unterschiedlichen Funktionen unterteilt. Der eine Bereich liegt posterior (hinten) temporo-parietal in der sogenannten perisylvischen Region, welche den