100 % gemeinsame Gene besitzen, während zweieiige Zwillinge wie andere Geschwisterkinder nur 50 % gemeinsame Gene besitzen. Tatsächlich konnten in solchen Zwillingstudien eindeutige Belege für einen genetischen Einfluss aufgedeckt werden. So sind bei eineiigen Zwillingen fast zu 70 % beide Zwillinge von einer Lese-Rechtschreibstörung betroffen, bei zweieiigen Zwillingen hingegen nur ca. 40 % (DeFries / Alarcon 1996).
genetische Einflüsse auf kognitive Grundlagen
Darüber hinaus zeigen sich spezifische Einflüsse auf kognitive Grundlagen des Lesens. Demnach sind ein Großteil der Unterschiede im orthographischen Wissen, der phonologischen Bewusstheit, im phonologischen Rekodieren und des Wortlesens genetisch determiniert (Gayan / Olsen 2001; Schulte-Körne et al. 2006). Zudem sind starke Einflüsse der Genetik auf den Abruf phonologischer Repräsentationen aus dem Langzeitgedächtnis, auf das phonologische Arbeitsgedächtnis und auf die Rechtschreibleistung nachweisbar (Samuelsson et al. 2007).
Es ist davon auszugehen, dass nicht ein einzelnes Gen für die Entstehung einer Lese-Rechtschreibstörung verantwortlich ist (Pennington / Olsen 2007). In der Forschung konnten verschiedene Gene identifiziert werden, die im Zusammenhang mit einem beeinträchtigten Schriftspracherwerb stehen (Schulte-Körne et al. 2006). Insgesamt scheint es jedoch so zu sein, dass es keine störungsspezifischen Genkonstellationen gibt, sondern Gene, die an einer Lese-Rechtschreibstörung beteiligt sind und ebenso in der unbeeinträchtigten Entwicklung des Lesens und Schreibens wirksam werden (Pennington / Olsen 2007). Die jeweilige Ausprägung dieser Genkonstellation stößt demnach die individuelle Hirnentwicklung an und lässt so im Verhalten Unterschiede in der Lese-Rechtschreibleistung entstehen.
4.2 Neurobiologische Grundlagen der Lese-Rechtschreibstörung
Die Lese-Rechtschreibstörung wird durch neurobiologisch verursachte Defizite in spezifischen kognitiven Bereichen hervorgerufen. In der Wissenschaft wurden verschiedene Theorien postuliert, die diese Defizite und ihre Auswirkungen auf die Lese-Rechtschreibentwicklung beschreiben.
4.2.1 Theorien zur Ursache der Lese-Rechtschreibstörung
phonologische Theorie
Es besteht weltweit mittlerweile große Einigkeit, dass Defizite in der Verarbeitung phonologischer Informationen zu einer Beeinträchtigung des Lese-Rechtschreiberwerbs führen können. Die phonologische Verarbeitung beinhaltet dabei das Erkennen, Bereithalten, Manipulieren, Speichern und Abrufen von sprachlichen Einheiten auf sublexikalischer und lexikalischer Ebene (Kap. 5). Solche Prozesse spielen bei der Aneignung des Lesens und Schreibens eine zentrale Rolle. Buchstaben, als graphisch dargestellte Symbole (Grapheme), müssen mit Lauten in Verbindung gebracht werden, die bereits fester Bestandteil der gesprochenen Sprache sind (Phoneme). Bei der Zuordnung dieser orthographischen Repräsentationen zu phonologischen Repräsentationen spricht man von der sogenannten Graphem-Phonem-Korrespondenz. Defizite in der phonologischen Verarbeitung können diese Zusammenführung zwischen Graphemen und Phonemen deutlich erschweren. Sind Laute beispielsweise nicht ausreichend klar repräsentiert, ist deren Abruf erschwert und eine eindeutige Zuordnung zu einem Symbol kann nicht im Langzeitgedächtnis gespeichert werden (Bradley / Bryant 1978; Snowling 1981). Die Fähigkeit phonologische Informationen zu verarbeiten, kann als eine zentrale Vorläuferfähigkeit des Lesens und Schreibens angesehen werden.
Rapid Auditory Processing Deficit Theorie
Einige Forscher gehen davon aus, dass die Schwierigkeiten in der phonologischen Verarbeitung, die bei Kindern mit Lese-Rechtschreibstörungen beobachtet werden können, durch eine grundlegende Beeinträchtigung basaler auditiver Verarbeitungsprozesse verursacht werden. Demnach gelingt es solchen Kindern nicht, kurze, schnell aufeinander folgende auditive Reize ausreichend zu differenzieren (Tallal 1980; Tallal et al. 1993). In Untersuchungen konnte wiederholt gezeigt werden, dass Kinder mit einer Lese-Rechtschreibstörung im Vergleich zu normallesenden Kindern massive Probleme hatten, ähnlich klingende Reize voneinander zu unterschieden (z. B. „ba“ und „pa“) bzw. größere Lücken zwischen zwei Tönen benötigten, um wahrzunehmen, dass tatsächlich zwei unterschiedliche Töne dargeboten wurden (Farmer / Klein 1995; McArthur / Bishop 2001). Anhänger der Rapid Auditory Processing Deficit Theory schließen aus solchen Befunden, dass es Kindern mit einer Lese-Rechtschreibstörung aufgrund ihres auditiven Defizits nicht gelingen kann, eine klare Phonemrepräsentation aufzubauen, wodurch weitreichende Beeinträchtigungen in der phonologischen Verarbeitung resultieren. Diese Defizite können allerdings nicht bei allen Kindern mit einer Lese-Rechtschreibstörung beobachtet werden, und es ist bisher ungeklärt, inwieweit ein solches Verarbeitungsdefizit auf auditive Reize beschränkt ist (Baldeweg et al. 1999; Kujala et al. 2000; Schulte-Körne et al. 2001).
visuelle Theorie
Neben phonologischen und allgemein auditiven Verarbeitungsdefiziten werden bei Menschen mit einer Lese-Rechtschreibstörung häufig auch Probleme in der visuellen Wahrnehmung beobachtet. So werden Buchstaben beispielsweise als verschwommen wahrgenommen oder miteinander verwechselt (z. B. „q“ und „p“ oder „d“ und „p“; vgl. Terepocki et al. 2002). Von einigen Forschern werden daher Probleme im Lesen und Schreiben auf basale visuelle Defizite zurückgeführt, da das Erkennen von Worten und Buchstaben im Vergleich zu normallesenden Personen deutlich beeinträchtigt sei (Livingstone et al. 1991; Stein / Walsh 1997). Verfechter der visuellen Theorie vermuten eine Fehlfunktion des magnozellulären Pfads des visuellen Systems, das unter anderem für Bewegungs-, Orts- und Geschwindigkeitswahrnehmung verantwortlich ist, woraus Probleme in der binokularen Kontrolle und der visuell-räumlichen Aufmerksamkeit entstehen würden (Hari / Renvall 2001; Stein / Walsh 1997). Empirische Unterstützung findet diese Annahme durch psychophysische Studien, die eine geringere Sensitivität für visuelle Muster niedriger räumlicher und hoher zeitlicher Frequenz (Variation der Helligkeitswerte und Veränderungen der Reizkonstellationen im Zeitverlauf) bei Menschen mit Lese-Rechtschreibstörung aufdecken konnten (Cornelissen et al. 1993; Lovegrove et al. 1980).
Aufmerksamkeitsdefizithypothese
Neben visuellen Wahrnehmungs- bzw. Verarbeitungsschwierigkeiten wird von einigen Forschern auch ein visuelles Aufmerksamkeitsdefizit als zentrale Ursache der Lese-Rechtschreibstörung diskutiert (Facoetti et al. 2003). Bei diesen Überlegungen steht die Beobachtung im Mittelpunkt, dass Personen mit einer Lese-Rechtschreibstörung bei seriellen Suchaufgaben, die Aufmerksamkeit erfordern, beeinträchtigt sind, nicht aber bei automatisch ablaufenden parallelen Suchaufgaben (Marendaz et al. 1996). Studien zur visuellen Aufmerksamkeit konnten zudem zeigen, dass Menschen mit einer Lese-Rechtschreibstörung eine asymmetrische Verteilung der Aufmerksamkeit im visuellen Feld aufwiesen, da sie im linken Gesichtsfeld dargebotene Zielreize schlechter erkennen konnten als Reize, die im rechten Gesichtsfeld präsentierte wurden. Dieses Phänomen wurde von den beteiligten Forschern als sogenannter linksseitiger Mini-Neglect bezeichnet (Facoetti et al. 2001). Aufmerksamkeitsdefizite dieser Art könnten die Enkodierung von Buchstabenabfolgen beim Lesen stören, wodurch visuell ähnliche Buchstaben und Wörter verwechselt werden können. Interessanterweise konnte empirisch gezeigt werden, dass phonologische Verarbeitungsdefizite und visuelle Aufmerksamkeitsstörungen bei Personen mit einer Lese-Rechtschreibstörung statistisch nicht bedeutsam zusammenhängen, beide jedoch unabhängig zur Vorhersage der Leseleistung beitragen (Valdois et al. 2003). Ein Aufmerksamkeitsdefizit scheint also zumindest bei einer Teilgruppe verantwortlich für die Ausbildung einer Lese-Rechtschreibstörung zu sein.
zerebelläre Defizithypothese
Möglicherweise steht eine gestörte Lese-Rechtschreibentwicklung auch im Zusammenhang mit einer Beeinträchtigung des Kleinhirns (Cerebellum), wodurch unterschiedliche kognitive Defizite entstehen könnten (Nicolson et al. 2001). Das Cerebellum ist verantwortlich für die Steuerung motorischer Prozesse und damit auch an artikulatorischen und somit sprachlichen Fähigkeiten beteiligt. Eine gestörte Artikulation würde den Aufbau korrekter phonologischer Repräsentationen beeinträchtigen und dadurch langfristig Probleme in der Verarbeitung von Schriftsprache verursachen. Darüber hinaus ist das Cerebellum bei der Automatisierung von Prozessen, beziehungsweise Aufgaben mit sich wiederholenden Mustern, beteiligt (z. B. Bewegungen im Sport), was sich ebenfalls auf das Erlernen von Graphem-Phonem-Zuordnungen auswirken könnte. Empirische Befunde über schlechtere Leistungen