Andreas Mayer

Lese-Rechtschreibstörungen (LRS)


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      Symptomatik-Lesen

      Vergleichbar den in der Definition genannten Symptomen charakterisieren Lyon et al. (2003, 2) die Dyslexie als „difficulties with accurate and / or fluent word recognition and by poor spelling and decoding abilities.” (vgl. auch Tunmer / Greany 2010).

      In der ICD-10 wird die Symptomatik der Lese-Rechtschreibstörung folgendermaßen operationalisiert (Dilling et al. 2011, 275; vgl. auch Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie 2007):

      „In den frühen Stadien des Erlernens einer alphabetischen Schrift kann es Schwierigkeiten geben, […], die Buchstaben korrekt zu benennen, einfache Wortreime zu bilden und bei der Analyse oder der Kategorisierung von Lauten […]. Später können dann Fehler beim Vorlesen auftreten, die sich zeigen als

      

Auslassen, Ersetzen, Verdrehen oder Hinzufügen von Worten oder Wortteilen.

      

Niedrige Lesegeschwindigkeit.

      

Startschwierigkeiten beim Vorlesen, langes Zögern oder Verlieren der Zeile im Text und ungenaues Phrasieren.

      

Vertauschen von Wörtern im Satz oder von Buchstaben in Wörtern.

      Ebenso zeigen sich Defizite im Leseverständnis z. B.

      

in der Unfähigkeit, Gelesenes wiederzugeben.

      

in der Unfähigkeit, aus Gelesenem Schlüsse zu ziehen oder Zusammenhänge zu sehen.

      

im Gebrauch allgemeinen Wissens als Hintergrundinformationen anstelle von Informationen aus einer Geschichte beim Beantworten von Fragen über die gelesene Geschichte.“

      Symptomatik Schreiben

      Im Bereich der Rechtschreibung fallen betroffene Kinder im Anfangsunterricht v. a. durch Schwierigkeiten mit dem Erwerb des phonologischen Prinzips als Grundstrategie des Schreibens auf, während im Laufe der Grundschulzeit lautgetreue Schreibweisen, die aber von der korrekten Orthographie abweichen, zu den zentralen Charakteristika gehören. Von der ICD-10 wird hervorgehoben, dass die Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung in der späteren Kindheit üblicherweise größer sind als die beim Lesen: „Mit Lesestörungen gehen häufig Rechtschreibstörungen einher. Diese persistieren oft bis in die Adoleszenz, auch wenn im Lesen einige Fortschritte gemacht werden“ (Dilling et al. 2011, 274).

      Zwischen der ICD-10 und der dieser Arbeit zugrunde gelegten Definition fallen zwei wesentliche Unterschiede auf. Die ICD-10 zählt Schwierigkeiten mit dem Leseverständnis zu den Symptomen der Lese-Rechtschreibstörung, während diese im vorliegenden Buch als Konsequenz der Lese-Rechtschreibstörung interpretiert werden. Diese Annahme resultiert aus den empirisch belegten Hypothesen des Simple View of Reading (Kap. 2.3), welcher das Leseverständnis als Produkt aus Worterkennung und Hörverständnis betrachtet. Demnach sind Schwierigkeiten im Leseverständnis entweder das Resultat spezifisch schriftsprachlicher Defizite im Bereich der Worterkennung und / oder der Beeinträchtigungen in der semantischen bzw. grammatischen Verarbeitung von Sprache; es handelt sich aber nicht um ein originäres Symptom der Dyslexie.

      Kernproblematik: automatisierte Worterkennung

      Ferner wird in der vorliegenden Definition explizit auf Schwierigkeiten mit der automatisierten Worterkennung Bezug genommen, ein Aspekt der in den Aussagen der ICD-10 so nicht zu finden ist, auch wenn die Formulierung „niedrige Lesegeschwindigkeit“ als Hinweis auf diese Problematik zu interpretieren ist. Die explizite Betonung von Problemen mit der Automatisierung schriftsprachlicher Kompetenzen resultiert aus Forschungsergebnissen der 1990er und 2000er Jahre, die deutlich machen konnten, dass sich lese-rechtschreibschwache Kinder, die eine relativ transparente Schriftsprache erlernen, zwar zu Beginn ihrer Schullaufbahn durch Schwierigkeiten beim Erlernen der indirekten Lesestrategie charakterisieren lassen, diese Unsicherheiten aber relativ schnell überwinden können, sodass sie spätestens ab der dritten Klasse eine ähnlich hohe Lesegenauigkeit aufweisen wie durchschnittlich lesende Kinder. Das zentrale, häufig bis ins Jugendalter persistierende Problem sind Defizite im Bereich der Automatisierung des Leseprozesses, die neben einer verringerten Lesegeschwindigkeit auch durch eine mangelnde Prosodie beim lauten Lesen offensichtlich wird (Wimmer 1993a; Holopainen et al. 2001; Serrano / Defior 2008). Da in diesem Fall ein Großteil der Aufmerksamkeit auf die Lesetechnik gelenkt werden muss, führt dies zu den eben beschriebenen negativen Konsequenzen im Bereich des Leseverständnisses. Hinzu kommt, dass bei einer beeinträchtigten Lesegeschwindigkeit auch schnell die Gedächtniskapazitäten überlastet werden.

      Die Frage, ab wann man von „Problemen“, „Defiziten“ oder einer „therapiebedürftigen Lernstörung“ sprechen kann, beantwortet die ICD-10 (Dilling et al. 2011) damit, dass die Lese-Rechtschreibleistung in einem normierten Test mindestens zwei Standardabweichungen unter dem Niveau liegen müsse, das aufgrund des chronologischen Alters und der allgemeinen Intelligenz zu erwarten wäre. Im Gegensatz dazu wird an dieser Stelle davon ausgegangen, dass eine Leistung von mehr als einer Standardabweichung unter dem Mittelwert in einem normierten, validen Test ein ausreichendes Kriterium für das Vorliegen einer Lese-Rechtschreibstörung ist.

      Spezifische Spracherwerbsstörungen

      „... geht oft mit Spracherwerbsstörungen einher.“

      Komorbidität mit Spracherwerbsstörungen

      Sowohl in der vorliegenden Definition als auch bei Lyon et al. (2003), der ICD-10 und der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (2007) wird die häufig anzutreffende Komorbidität mit lautsprachlichen Defiziten betont.

      Von Komorbidität spricht man, wenn zusätzlich zu einem Krankheits- oder Störungsbild weitere Krankheiten oder Störungen auftreten, die als Folge einer Grunderkrankung oder als diagnostisch abgrenzbares Symptom der Grunderkrankung interpretiert werden können. In Verbindung mit Lese-Rechtschreibstörungen bezieht sich die Aussage auf das gehäufte gemeinsame Auftreten lautsprachlicher und schriftsprachlicher Beeinträchtigungen.

      Die im Zusammenhang mit Schriftspracherwerbsstörungen am intensivsten erforschte sprachliche Beeinträchtigung ist die Spezifische Spracherwerbsstörung (SSES).

      Bei der spezifischen Spracherwerbsstörung (SSES) handelt es sich um eine komplexe Beeinträchtigung der Sprachverarbeitung und des Spracherwerbs, für die keine offensichtlichen Primärbeeinträchtigungen verantwortlich gemacht werden können (Kannengieser 2014).

      Kinder mit SSES als Risikogruppe

      Aufgrund der Schwierigkeiten betroffener Kinder mit der phonologischen Informationsverarbeitung (Kap. 5), daraus resultierenden phonologischen Repräsentationen geringer Qualität und häufig anzutreffenden Defiziten in der phonologischen Bewusstheit, entwickeln viele spracherwerbsgestörte Kinder Probleme beim Erlernen einer angemessenen Lesefertigkeit. Da ihre Schwierigkeiten in der Verarbeitung semantischer und grammatischer Strukturen fast zwangsläufig zu einem herabgesetzten Leseverständnis führen müssen (vgl. Simple View of Reading, Kap. 2.3), sind spracherwerbsgestörte Kinder beim Lesen- und Schreibenlernen