Andreas Mayer

Lese-Rechtschreibstörungen (LRS)


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rel="nofollow" href="#ulink_b86bff22-ce3b-5b90-bed0-fd01c1dbed38">Abb. 8). Dieser Teil des phonologischen Systems ist verantwortlich für die Überführung orthographischer in sprachliche Informationen und damit zentral für die phonologische Verarbeitung und die Graphem-Phonem Zuordnung. Der andere Bereich liegt anterior (vorne) im frontalen Kortex und beinhaltet den Gyrus frontalis inferior. In diesem Teil des Systems wird die Artikulation und aktive Analyse phonologischer Elemente gesteuert (Pugh et al. 2001). Beide Bereiche des phonologischen Systems stehen im wechselseitigen Austausch und bilden ein funktionelles Netzwerk (Horwitz et al. 1998; Quaglino et al. 2008).

      Strategiewechsel

      In der kindlichen Leseentwicklung vollzieht sich mit der Zeit ein Wechsel vom phonologischen Lesen hin zum direkten Abruf von bekannten Wörtern. Neurobiologisch gesehen bedeutet dies, dass Kinder als Leseanfänger zunächst auf das phonologische System im temporo-parietalen Kortex angewiesen sind, da ihr Leseprozess hauptsächlich von phonologischen Rekodierungs-Strategien geprägt ist. Mit zunehmender Leseerfahrung bilden und verfestigen sich die orthographischen Verarbeitungsmechanismen des okzipito-temporalen Systems, und bei vertrauten Wörtern kann ein direkter lexikalischer und semantischer Zugriff vollzogen werden (Pugh et al. 2001). Unterstützt werden die Annahmen zur Funktionsweise des Systems durch Studien, die zeigen konnten, dass Kinder beim Lesen von Einzelwörtern im Vergleich zu Erwachsenen signifikant höhere Aktivierung in temporo-parietalen Bereichen aufweisen. Die okzipito-temporalen Regionen hingegen werden bei Kindern sowohl während des Lesevorgangs als auch bei der Wiedergabe bzw. dem Nachsprechen von auditiv präsentierten Wörtern aktiviert. Bei Erwachsenen zeigt sich eine Aktivität allerdings nur während des eigentlichen Leseprozesses. In der Forschung wird daher davon ausgegangen, dass im Verlauf der Leseentwicklung phonologische Verarbeitungsprozesse abnehmen und visuelle Ergebnisse von Post-mortem-Untersuchungen Verarbeitungsmechanismen mit steigender Expertise deutlich zunehmen (Church et al. 2008).

      Viele Erkenntnisse zu den neurobiologischen Grundlagen der Lese-Rechtschreibstörung stammen aus sogenannten Post-mortem-Untersuchungen, bei denen die Gehirne betroffener Personen analysiert wurden (Galaburda / Livingstone 1993; Galaburda / Kemper 1979; Galaburda et al. 1994; Galaburda et al. 1985). Interessanterweise wurden dabei neuronale Verlagerungen (Ektopien) und fokale kortikale Fehlbildungen (Dysplasien) entdeckt, die als Resultat einer beeinträchtigten Nervenzellwanderung in der embryonalen Entwicklungsphase angesehen wurden. Strukturelle Auffälligkeiten wurden vor allem in der perisylvischen Region der linken Hirnhälfte gefunden. Bei einem Vergleich zwischen Gehirnen von Menschen ohne Leseprobleme und Personen, die zu Lebzeiten unter einer Lese-Rechtschreibstörung litten, wurde zudem eine abnorme Symmetrie des planum temporale festgestellt (Galaburda / Kemper 1979; Galaburda et al. 1985).

      Planum temporale: Oberfläche des Schläfenlappens (Temporallappen), in dem auch das Wernicke-Areal angesiedelt ist. Dieses Areal ist bei etwa zwei Drittel der Bevölkerung linkshemisphärisch größer als rechtshemisphärisch, was als linkshemisphärische Organisation der Sprache interpretiert wird.

      Darüber hinaus fanden sich Abweichungen des an der visuellen Verarbeitung beteiligten Corpus geniculatum laterale und im Corpus geniculatum mediale, der einen Teil des auditorischen Systems bildet (Galaburda / Livingstone 1993; Galaburda et al. 1994).

      Der Corpus geniculatum laterale (seitlicher Kniehöcker) ist ein Teilgebiet der Sehbahn, gelegen im Thalamus, das die von der Retina über den nervus opticus eingehenden visuellen Informationen an den visuellen Cortex weiterleitet. Es ist v. a. für das Wahrnehmen von Details und schneller Bildabfolgen und für die Regulierung des Informationsflusses verantwortlich.

      Der Corpus geniculatum mediale (mittlerer Kniehöcker) übernimmt die Funktionen des seitlichen Kniehöckers für auditive Informationen.

      geringe Dichte an grauer Masse

      Mittlerweile wurden in strukturellen Bildgebungsstudien verschiedene Kortexareale identifiziert, in denen Kinder und Erwachsene mit Lese-Rechtschreibstörung im Vergleich zu normallesenden Personen ein geringeres Volumen oder eine geringere Dichte an grauer Masse aufwiesen.

      Um solche Vergleiche durchführen zu können, wird ein Verfahren namens voxelbasierte Morphometrie (VBM) verwendet.

      Mithilfe der voxelbasierte Morphometrie VBM können Hirnstrukturen aus der tomographischen Bildgebung hinsichtlich Größe, Intensität, Form- und Texturparameter quantitativ beschrieben werden. Die ermittelten Maßzahlen werden gemeinsam mit anderen experimentellen Parametern statistisch analysiert.

      Dadurch können Hirnstrukturen aus der tomographischen Bildgebung hinsichtlich Größe, Intensität, Form- und Texturparameter quantitativ beschrieben werden. Die ermittelten Maßzahlen werden gemeinsam mit anderen experimentellen Parametern statistisch analysiert. Personen mit einer Lese-Rechtschreibstörung weisen demnach häufig Abweichungen in posterior temporalen bzw. temporo-parietalen Regionen der linken Hemisphäre (Brambati et al. 2004; Hoeft et al. 2007; Silani et al. 2005; Steinbrink et al. 2008), in bilateralen okzipito-temporalen Regionen (Brambati et al. 2004; Eckert et al. 2005; Kronbichler et al. 2008) und dem Cerebellum auf (Brambati et al. 2004; Brown et al. 2001; Eckert et al. 2005; Kronbichler et al. 2008).

      gestörte Konnektivität in neuronalen Systemen

      Etwa seit dem Jahr 2000 wurde vermehrt von Befunden aus Diffusions-Tensor-Bildgebungsstudien (Diffusion Tensor Imaging, DTI) berichtet. Durch dieses Verfahren können mithilfe der Magnetresonanztomografie (MRT) die Diffusionsbewegungen von Wassermolekülen im Körpergewebe gemessen und räumlich aufgelöst dargestellt werden. Das Diffusionsverhalten bzw. die Richtungsabhängigkeit der Diffusion erlaubt Rückschlüsse auf den Verlauf der großen Nervenfaserbündel. Forschungsergebnisse ermittelten eine weniger stark ausgeprägte Konnektivität (Verbindung) der weißen Masse in linken temporo-parietalen Regionen beim Vergleich normaler und schwacher Leser (Beaulieu et al. 2005; Deutsch et al. 2005; Klingberg et al. 2000; Steinbrink et al. 2008), während im Corpus Callosum eine stärkere Konnektivität der weißen Masse bei Menschen mit einer Lese-Rechtschreibstörung im Vergleich zu normallesenden Personen gefunden wurde (Dougherty et al. 2007). Ausgehend von diesen Ergebnissen wird bei Menschen mit einer Lese-Rechtschreibstörung eine Störung der Konnektivität zwischen den neuronalen Lesesystemen innerhalb der linken Hemisphäre vermutet. Die gleichzeitig beobachtete stärkere Konnektivität zwischen anatomisch korrespondierenden Kortexarealen der linken und rechten Hemisphäre hingegen sprechen für eine stärkere Nutzung der rechtshemisphärischen Systeme. Möglicherweise kann dies als Hinweis für einen kompensatorischen Mechanismus gewertet werden, der bei leserelevanten Prozessen zum Tragen kommt (Gabrieli 2009).

      Weitere Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren konnten bedeutende Aktivierungsunterschiede zwischen Menschen mit einer Lese-Rechtschreibstörung und normallesenden Personen während der Bearbeitung von Lesematerial oder Aufgaben mit Lesebezug zeigen (McCandliss / Noble 2003; Shaywitz / Shaywitz 2005). Wiederholt konnten dabei sowohl für Erwachsene als auch für Kinder linkshemisphärische Unteraktivierungen im posterior parietalen Kortex (Brunswick et al. 1999; Rumsey et al. 1997; Shaywitz et al. 2002; Temple et al. 2001), im inferior okzipito-temporalen Kortex (Brunswick et al. 1999; McCrory et al. 2005; Paulesu et al. 2001; Shaywitz et al. 2002) und im Gyrus temporalis superior (Paulesu et al. 1996, 2001; Rumsey et al. 1997) ermittelt werden.

      Interessanterweise finden sich solche Befunde in den verschiedensten Sprachen, obwohl zum Teil große Unterschiede bezüglich der Transparenz der jeweiligen Orthographie bestehen. So traten im Vergleich zu normallesenden Menschen geringere Aktivierungen in gleicher Form bei Menschen mit einer Lese-Rechtschreibstörung aus Frankreich, Italien und Großbritannien auf (Paulesu et al. 2001). Darüber hinaus zeigen Jugendliche mit einer Lese-Rechtschreibstörung die beschriebenen Unteraktivierungen nicht nur im Vergleich mit einer Gruppe Gleichaltriger, sondern auch verglichen mit einer Gruppe jüngerer Normallesender, die bezüglich des Leseniveaus analog waren. Daher scheinen die ermittelten funktionellen Defizite einer Lese-Rechtschreibstörung unabhängig