Andreas Mayer

Lese-Rechtschreibstörungen (LRS)


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liegt die Betonung auf dem Begriff des Phonems. In alphabetischen Schriften werden Phoneme symbolisiert, die unterschiedlichen lautsprachlichen Varianten eines Phonems (Allophone) werden nicht abgebildet (Öhlschläger 2011). Unabhängig davon, ob das Phonem / r / apikoalveolar als Zungenspitzen-[r], uvular gerollt [ʀ] (durch Vibration des „Zäpfchens“) oder als uvularer Frikativ [ʁ] (durch eine Enge im Rachenraum) realisiert wird, werden diese Aussprachevarianten des Phonems / r / stets durch dasselbe Graphem <r> wiedergegeben. Dasselbe gilt für die palatalen (am harten Gaumen gebildeten = [ç]) und velaren (am Gaumensegel gebildeten = [x]) Varianten des Phonems / χ / , die stets als <ch> verschriftet werden.

      In den meisten Fällen symbolisiert ein Buchstabe ein Phonem (z. B. <t> = / t / ). Zum Teil korrespondiert ein Buchstabe aber auch mit einer Lautkombination (z. B. <z> = [ts], <x> = [ks]) bzw. ein Phonem mit einer Buchstabenverbindung (z. B. / ʃ / = <sch>, / χ / = <ch>). In Tab. 1 werden die wesentlichen Graphem-Phonem-Korrespondenzen abgebildet, ohne dass an dieser Stelle auf Abweichungen von den üblichen Korrespondenzen eingegangen wird.

      Dominanz des phonologischen Prinzips

      Auch wenn im Zusammenhang mit der Rechtschreibung üblicherweise die zahlreichen Abweichungen vom phonologischen Prinzip betont werden, darf nicht übersehen werden, dass es sich dabei um das vorherrschende Prinzip des Deutschen handelt. Die Schreibweise mindestens der Hälfte aller Wörter des Deutschen dürfte sich allein durch das phonologische Prinzip erklären lassen. Reuter-Liehr (2008) bspw. geht davon aus, dass die deutsche Schriftsprache zumindest bei bewusst gesteuerter Artikulation, also bei übertrieben deutlicher Aussprache (bei Einsatz der sogenannten Pilotsprache) zu ca. 60 % als lautgetreu bzw. mitsprechbar definiert werden kann, sodass es durchaus sinnvoll erscheint, Kindern in den Eingangsklassen an Grund- und Förderschulen zunächst dieses Prinzip zu vermitteln und ihnen zu ermöglichen, es anzuwenden und zu automatisieren. Bei den meisten Wörtern, die vom phonologischen Prinzip abweichen, lassen sich selten mehr als ein bis zwei Unregelmäßigkeiten identifizieren, wobei die Schätzungen aufgrund des nicht eindeutig bestimmbaren Kriteriums der Lauttreue auseinandergehen.

      Dass das phonologische Prinzip im Deutschen aber nicht das allein bestimmende sein kann, dass es sich bei den Beziehungen zwischen Graphemen und Phonemen nicht um eine Eins-zu-Eins-Korrespondenz handelt, wird allein daraus deutlich, dass die deutsche Lautsprache aus etwa 40 Phonemen, das Schriftsystem jedoch nur aus 31 Graphemen besteht.

      Ein besonderes Charakteristikum des Deutschen besteht darin, dass die phonemischen Kontraste der Merkmale „gespannt“ vs. „ungespannt“ bei Vokalen (z. B. <Wal> = [vɑ:l] vs. Wall = [val]) auf Graphemebene keine Berücksichtigung finden (Tab. 1). Die gespannten und ungespannten Varianten eines Vokals werden mit Ausnahme der beiden Phoneme / i / und / ɪ / , die (meist) als <ie> bzw. <i> verschriftet werden, schriftsprachlich durch dasselbe Graphem wiedergegeben.

      Das bedeutet aber nicht, dass die deutsche Orthographie diese Phonemkontraste auf Vokalebene unberücksichtigt lässt. Sie werden jedoch nicht durch das phonologische Prinzip, sondern auf Silbenebene deutlich gemacht (silbisches Prinzip).

      Abweichungen vom phonologischen Prinzip

      Die meisten Abweichungen vom phonologischen Prinzip lassen sich durch graphotaktische Regeln, das silbische Prinzip bzw. das Prinzip der Morphemkonstanz erklären.

Konsonanten
PhonemGraphemBeispielwortPhonemGraphemBeispielwort
/ p /<p>[pʊpǝ] – <Puppe>/ ʃ /<sch>[ʃulǝ] – <Schule>
/ b /<b>[bal] – <Ball>/ χ /<ch>[dax] – <Dach>
/ t /<t>[tɪʃ] – <Tisch>/ j /<j>[ja] – <ja>
/ d /<d>[damǝ] -<Dame>/ h /<h>[hut] – <Hut>
/ k /<k>[kʊs] – <Kuss>/ m /<m>[maʊs] – <Maus>
/ g /<g>[gԑlt] – <Geld>/ n /<n>[nazǝ] – <Nase>
/ f /<f>[fu:s] – <Fuß>/ ŋ /<ng>[Rɪŋ] – Ring
/ v /<w>[vi:zǝ] – <Wiese>/ l /<l>[lʊft] – <Luft>
/ s /<s> oder <ß>[ast] – <Ast> [fu:s] – <Fuß>/ r /<r>[rɪŋ] – Ring
/ z /<s>[zɔnǝ] – <Sonne>/ kv /<qu>[kva:l] – <Qual>
Vokale
gespannte Vokaleungespannte Vokale
PhonemGraphemBeispielwortPhonemGraphemBeispielwort
/ ɑ /<a>[vɑ:l] – <Wal>/ a /<a>[val] – <Wall>
/ e /<e>[ve:zǝn] – <Wesen>/ ԑ /<e>[vǝsǝn] – <wessen>
/ i /<i> oder <ie>[ju:li] – <Juli> [ʃi:f] – <schief>/ ɪ /<i>[ʃɪf] – <Schiff>
/ o /<o>[o:fǝn] – <Ofen>/ ɔ /<o>[ɔfǝn] – <offen>
/ u /<u>[ru:m] – <Ruhm>/ ʊ /<u>[rʊm] – <Rum>
/ æ /<ä>[jætǝn] – <jäten>/ ǝ /<e>[o:fǝn] – <Ofen>
/ y /<ü>[fy:lɐ] – <Fühler>/ ʏ /<ü>[fʏlɐ] – <Füller>
/ ø /<ö>[hølǝ] – <Höhle>/ œ /<ö>[hœlǝ] – <Hölle>
Schwa
[ǝ]<e>[zɔnǝ] – <Sonne>

      Ein Beispiel dafür ist die bereits erwähnte Regel, dass der Laut [ʃ] im Onset einer Silbe vor [p] und [t] nicht durch <sch>, sondern durch <s> verschriftet wird (<Stein>).

      Die vom phonologischen Prinzip abweichende Verschriftung der Phoneme / p / , / t / und / k / durch die Grapheme <b>, <d> und <g> (z. B. Korb, Hund, Burg) lässt sich wiederum durch das Prinzip der Morphemkonstanz erklären. Dieses Phänomen tritt wort- und silbenfinal immer dann auf, wenn in der Explizitform der Wörter, also der zweisilbigen trochäischen Struktur des Wortes, die durch Ableitung oder Verlängerung resultiert, ein stimmhafter Plosiv artikuliert wird (z. B. <Körbe>, <Hunde>, <Berge>).

      Die unterschiedliche lautsprachliche Realisierung der Vokalqualitäten (lang, gespannt vs. kurz, ungespannt) kann wiederum primär durch das silbische Prinzip erklärt werden.

      Das silbische Prinzip

      Um dieses Prinzip und die damit verbundenen graphematischen Regeln nachvollziehen zu können, ist es zunächst notwendig, einen Blick auf die typische Struktur deutscher Wörter zu werfen.

      trochäische Struktur

      Die Struktur der meisten deutschen Wörter in ihrer Explizitform ist ein zweisilbiger Trochäus, d. h. es handelt sich um Wörter mit einer betonten ersten Silbe (Hauptsilbe) und einer zweiten unbetonten Reduktionssilbe (Bredel 2009; Moths 2011; Thelen 2002). Bei Abweichungen von dieser Struktur handelt es sich meist um einsilbige Funktionswörter und um Lehnwörter aus anderen Sprachen (z. B. Salat, Balkon, Regal).

      Explizitform

      Unter der Explizitform eines Worts versteht man die zweisilbige flektierte Form (Plural, Genitiv, Komparativ), wenn das Wort in seiner Grundform einsilbig ist. Die Explizitform des Wortes „Hund“ ist bspw. der Plural „Hunde“ oder der Genitiv „des Hundes“