Sabahat Gürbüz

Verfassungs- und Verwaltungsrecht für die Soziale Arbeit


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      Man unterscheidet zwischen materiellem und formellem Rechtsstaatsbegriff. Der materielle Rechtsstaatsbegriff beschreibt einen Staat, dessen Ziel die Freiheit und Gerechtigkeit im staatlichen bzw. staatlich beeinflussbaren Bereich ist. Demgegenüber meint der formelle Rechtsstaatsbegriff, dass die Machtausübung des Staates durch Gesetz und Recht geregelt und begrenzt ist (Maurer 2014).

      Der Rechtsstaat basiert auf verschiedenen Grundsätzen, deren wichtigste nachfolgend genannt seien:

      Verteilung der Macht im Staat: Der Grundsatz der Gewaltenteilung regelt die Verteilung der Macht im Staat (Degenhart 2014) und bildet damit das tragende Organisationsprinzip des Rechtsstaates der Neuzeit für die Ausübung der Macht im Inneren (Bethge/von Coelln 2011; Badura 2015).

      Art. 20 Abs. 2 GG beinhaltet die Prinzipien der Volkssouveränität und der Gewaltenteilung:

      Art. 20 Abs. 2 GG

      „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“

      einzelne Gewalten

      Danach sind drei Gewalten zu unterscheiden, die untereinander weisungsunabhängig sind (Maurer 2014; Schmidt 2015a):

      

gesetzgebende Gewalt (Legislative): Organe, die Gesetze verabschieden können, wie zum Beispiel der Bundestag (zum Teil im Zusammenwirken mit dem Bundesrat als Ländervertretung) und die Landtage,

      

vollziehende Gewalt (Exekutive): verwaltende Organe, wie zum Beispiel Bundesregierung, die Ministerien, die Bundesverwaltung und damit alle Bundesanstalten, aber auch Landesregierungen, Landes-, Kreis- und Gemeindeverwaltungen und

      

rechtsprechende Gewalt (Judikative) (ausführlich dazu Badura 2015): Gerichte, insbesondere die obersten Gerichte mit ihren Unterbauten (Instanzenzug), wie zum Beispiel:

      Gerichtsinstanzen

      

Bundesverfassungsgericht (Bundesebene), Verfassungsgerichtshöfe der Länder (Länderebene),

      

Bundesgerichtshof, Oberlandesgerichte, Landgerichte, Amtsgerichte (Zivil- und Strafrecht = sog. ordentliche Gerichte),

      

Bundessozialgericht, Landessozialgerichte, Sozialgerichte,

      

Bundesverwaltungsgericht, Verwaltungsgerichtshöfe/Oberverwaltungsgerichte, Verwaltungs gericht sowie

      

Bundesarbeitsgericht, Landesarbeitsgerichte, Arbeitsgerichte.

      Bindung an Recht und Gesetz: Alle staatlichen Maßnahmen müssen mit dem höherrangigen Gesetz vereinbar sein. Die öffentliche Verwaltung darf bei ihrem Handeln nicht gegen geltendes Recht, insbesondere gegen die Verfassung und die Gesetze verstoßen (Ipsen 2014a). Funktion und Rolle des Gesetzes kommen in zwei wichtigen Grundsätzen zum Ausdruck, die für den Rechtsstaat prägend sind (Badura 2015):

      Vorrang/Vorbehalt des Gesetzes

      

Gesetzesvorrang: Kein Handeln gegen Gesetz! Das Handeln aller drei Staatsgewalten (Gesetzgebung, Verwaltung, Rechtsprechung) ist an das vorrangige Recht gebunden (Degenhart 2014; Schmidt 2015a).

      

Gesetzesvorbehalt (Art. 103 Abs. 2 GG): Kein Handeln ohne Gesetz (Maurer 2014). Die Ausübung von staatlicher Macht (Zwang) darf nur auf Grundlage eines Gesetzes erfolgen (Degenhart 2014).

      Berechenbarkeit staatlichen Handelns: Der Rechtsstaat fordert Rechtssicherheit und Vertrauensschutz für die BürgerInnen (Maurer 2014). Er muss berechenbar sein und darf nicht willkürlich handeln. Die Adressaten von Normen oder staatlichen Vorgaben müssen die Rechtslage erkennen und sich auf sie verlassen können. Um dies zu erreichen, haben sich Prinzipien herausgebildet, die bei der Anwendung des Rechts zu beachten sind:

      Maßstäbe staatlichen Handelns

      

Bestimmtheitsgebot: BürgerInnen müssen die Rechtslage klar erkennen können und die ausführende Gewalt muss daraus Handlungsmaßstäbe herleiten und diese steuern und begrenzen (Manssen 2015). So müssen z. B. Verwaltungsakte gem. § 33 Abs. 1 SGB X inhaltlich hinreichend bestimmt sein. Das Erfordernis der Bestimmtheit dient vor allem der Rechtsklarheit und -sicherheit (Schmidt 2015a). Betroffene müssen klar, vollständig und eindeutig wissen, was von ihnen verlangt wird (welche Behörde, wer, von wem, was, wann, woraus = Rechtsgrundlage).

      

Rückwirkungsverbot: Für belastende Maßnahmen des Staates, insbesondere belastende Gesetze und Verwaltungsakte, gilt ein Rückwirkungsverbot (Degenhart 2014), weil der Bürger sich auch zeitlich auf die Regelungen einrichten können muss. Eine solche Rückwirkung liegt vor, wenn eine Regelung in einen Sachverhalt eingreift, der bereits begonnen hat und entweder noch andauert (unechte Rückwirkung) oder schon abgeschlossen ist (echte Rückwirkung) (Bethge/von Coelln 2011). Nur zwingende Gründe des Gemeinwohls oder ein nicht mehr vorhandenes schutzwürdiges Vertrauen können eine Ausnahme von dem grundsätzlichen Verbot der Rückwirkung von Regelungen rechtfertigen (Katz 2010; Schmidt 2015a). An einem schutzwürdigen Vertrauen kann es u. a. dann fehlen, wenn

      

der Betroffene zu dem Zeitpunkt, auf den der Eintritt der Rechtsfolgen des Gesetzes bezogen wird, mit der Regelung rechnen musste,

      

das geltende Recht unklar und verworren ist,

      

eine nichtige Vorschrift durch eine gültige ersetzt wird,

      

die Änderung eine Besserstellung des Betroffenen herbeiführt.

      Bedeutung

      Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stellt eine der wichtigsten Handlungsmaximen für die Verwaltung dar (Maurer 2014). Maßnahmen dürfen nur getroffen, Handlungen nur gefordert werden etc., wenn dies verhältnismäßig ist (Degenhart 2014). Jedes staatliche Handeln muss danach im Hinblick auf den bei der Anordnung verfolgten gesetzlichen Zweck (legitimer Zweck) erfolgsversprechend sein (Eignung). Ferner muss gerade diese Zwangsmaßnahme zur Erreichung des verfolgten Zwecks erforderlich sein; das ist nicht der Fall, wenn andere, weniger einschneidende Mittel zur Verfügung stehen (Erforderlichkeit). Schließlich muss der jeweilige Eingriff in angemessenem Verhältnis zum verfolgten Zweck stehen (Manssen 2015; Badura 2015; Reinhardt 2014; vgl. zum Strafrecht BVerfGE 96, 44,