Treichels magistrales Werk von 2000 zurückgegriffen werden, das zugleich die einzige kritischen Ansprüchen genügende deutsche Quellenedition zum Wiener Kongress darstellt. Angefügt sind ein Abriss der Verfassung des Deutschen Bundes und einige Hinweise zu dessen kontroverser Beurteilung (Kap. 6, S. 175). Hier wie an anderen Stellen des Buchs wird dafür plädiert, die vielfach unter hohem Zeitdruck zustande gekommenen Wiener Ergebnisse in ihrem fragmentarischen, kompromisshaften Charakter zu sehen und nicht als Ausfluss eines konservativen Masterplans. Der Wandel des Deutschen Bundes zum Instrument einer konservativen Entwicklungsblockade war eine politische Entscheidung der Jahre 1819/20 und nicht als restaurativer Automatismus in der Bundesakte angelegt.
Die Darlegungen zur Wiener Festkultur verzichten auf die vielfach geübte Praxis, den Kongress mit der (Theater-)Bühne seiner Bälle, Salons, Konzerte und Theateraufführungen einschließlich galanter Boudoir-Geschichten gleichzusetzen. Vielmehr wird versucht, aus dem weiten Spektrum der vom Wiener Obersthofmeisterstab und zahlreichen Standespersonen der Residenzstadt organisierten Vergnügungen eine Typologie festlicher Veranstaltungen draußen unter freiem Himmel wie drinnen in den noblen Interieurs der Schlösser, Palais und Salons vorzuführen und dabei die neuartigen Formen monarchischer Präsenz zu akzentuieren (Kap. 7, S. 205).
Grundanliegen des Buches ist es, den Kernbereich des politischen Entscheidungshandelns (eingebettet in die zeitüblichen gesellschaftlichen Formen) bei der Darstellung und Bewertung des Kongresses hervorzuheben. In Wien ging es um Machtpolitik, um Kontrolle von Rivalität und vor allem um die Ziehung neuer Grenzen, nicht um Tanzfeste und Kulturveranstaltungen. Das Kongressgeschehen lässt sich auch kaum unter abstrakte Prinzipen fassen; die Erörterung gleichwohl gängiger Leitbegriffe der Forschung, darunter jenes besonders problematischen der „Restauration“, ist Gegenstand der Einleitung (Kap. 1, S. 11). [<<9] Gerahmt wird die Darstellung durch einen weiteren systematischen Teil, der wichtige Entwicklungen der internationalen Rechtsordnung, insoweit sie vom Kongress angestoßen wurden, vorstellt und einige Verbindungslinien zu den in der aktuellen Forschung wichtigen globalgeschichtlichen Themen auszieht (Kap. 8, S. 239).
Die hier vorgelegte Darstellung ist vor allem aus den Quellen erarbeitet und zielt auf die Vermittlung faktenbasierter Information zu den politischen Dimensionen des neunmonatigen Kongressgeschehens. Die Belege beschränken sich in der Regel auf den Nachweis wörtlicher Zitate; die eingehende Erörterung von Forschungsfragen oder eine handbuchartig breite Dokumentation der Literaturlage hätten den Vorgaben des Reihenformats widersprochen. Zitate aus dem Französischen, insbesondere aus den Quellensammlungen des 19. Jahrhunderts, wurden vom Verfasser ins Deutsche übersetzt. Nur in Ausnahmefällen, in denen es auf den genauen Wortlaut ankommt, wurden französische Wendungen im Text belassen. Ortsnamen sind in ihrer im Deutschen gewohnten Namensform angegeben; das Ortsregister nennt auch die in den slawischen Sprachen üblichen Namensformen. Die Ansetzung der Namen im Personenregister folgt der Gemeinsamen Normdatei (GND) bzw. der Library of Congress Control Number (LCCN).
Für Hilfe und Unterstützung bei der Erarbeitung des Buches danke ich meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Klagenfurt, vor allem Renate Kohlrusch, weiterhin Ingrid Groß, Florian Kerschbaumer, Marion Koschier, Walter Liebhart und Anton Zwischenberger.
Während der beiden letzten Jahre, als mich Dekanat und Manuskript doppelt in Beschlag nahmen, haben sich unsere Kinder Wolfgang und Magdalena ruhig und wie selbstverständlich auf den Weg in ihr eigenes Leben gemacht und sind mir gleichwohl als Ratgeber verbunden geblieben. Dafür bin ich dankbar. Und niemand schulde ich mehr Dank als meiner Frau. [<<10]
1. Einleitung – Schlüsselbegriffe zur „Wiener Ordnung“
In gängigen Lehrbüchern und Gesamtdarstellungen finden sich der Wiener Kongress und seine Wirkungsgeschichte häufig mit eingängigen Schlagworten verknüpft. Den Kontrast zu den revolutionären Ereigniskaskaden von 1789 und von 1848 hebt die bis in den Schulunterricht weit verbreitete, negativ konnotierte Wortmarke von der „Restauration“ hervor, für den deutschen Ereignisraum noch oft gekoppelt mit einem Epochensignum wie „Vormärz“ oder „Biedermeier“, beide „Inbegriff einer entpolitisierten Stillhaltekultur“.1 Die Hervorhebung des Prinzips der streng monarchisch definierten „Legitimität“ thematisiert ebenso wie die Debatte um den Erlass von Konstitutionen die neu zu findende Balance im Inneren der Staaten, die Realisierung eines Gleichgewichtssystems, die Etablierung einer stabilen Friedensordnung und der Streit um das Recht zur „Intervention“ in Drittstaaten das europäische System im Zeichen der fünf Großmächte. Einige dieser politischen Leitbegriffe zur Charakterisierung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sollen in dieser Einleitung vorgestellt und kritisch hinterfragt werden.
„Restauration“
Die Verwendung des Begriffs „Restauration“ als Epochenbezeichnung für die europäische Geschichte zwischen 1814/15 und 1848 „steckt voller Schwierigkeiten“ und ist nicht zu empfehlen.2 Die Bezeichnung ist einem [<<11] zeitgenössischen Titel der politischen Literatur entnommen, dem altständisch argumentierenden Werk „Restauration der Staats-Wissenschaft oder Theorie des natürlich-geselligen Zustands …“ des Berner Staatsrats Karl Ludwig von Haller, dessen erster Band 1816 erschien. Die Verwendung des Begriffs zieht immer den einschränkenden Hinweis nach sich, dass 1814/15 von „Restauration“ im Sinne „einer Rückkehr zu ‚vorrevolutionären‘ Verhältnissen auf breiter Front … keine Rede sein“ könne, womit der analytische Wert des Konzepts beträchtlich sinkt.3 Eine vollständige Wiederherstellung der alten, vorrevolutionären Ordnung wurde weder durchgeführt noch überhaupt angestrebt. Was die maßgeblichen Regierungen Europas nach einer Phase unvorhersehbarer politischer Entwicklungen seit 1789 erreichen wollten, war „die Wiederherstellung einer stabilen monarchischen Herrschaft unter veränderten Bedingungen.“4 Eine wichtige Rolle spielte dabei der Wille der leitenden Staatsmänner der „Generation Metternich“, nach über zwei Jahrzehnten Krieg überall in Europa, der nicht nur enorm kostspielig gewesen war, sondern auch zwischen drei und sechs Mio. Menschenleben gekostet hatte, endlich Frieden zu schaffen.5
„Restauration“ ist keiner der programmatischen Leitbegriffe der Verhandlungen des Wiener Kongresses; dort ist die Rede von „Restitution“, um die Rückkehr einer durch Umsturz vertriebenen Dynastie an die Herrschaft zu bezeichnen. Wenn man „Restauration“ als politischen Begriff für das nachnapoleonische Europa sinnvoll einsetzen will, dann weder im Sinne des konservierenden Einfrierens eines vorgestrigen Zustandes, noch gar als bewusstes „roll-back“ in Richtung Ancien Régime, sondern in Bezug auf einen Politikentwurf wie im Frankreich des Jahres 1814. Hier wurden dem revolutionären Prinzip zentrale politische Normen der vorrevolutionären Zeit entgegen gesetzt (und dabei die Prärogativrechte des Monarchen besonders betont), kombiniert aber mit der Anpassung an gewandelte Gegebenheiten der politischen Praxis, vor allem in der Bindung an eine Verfassung. Der Erlass der „Charte constitutionnelle“ Anfang [<<12] Juni 1814 bedeutete keineswegs eine Rückkehr zum Absolutismus, denn Frankreich war nun, wie schon 1791, eine konstitutionelle Monarchie mit einer modernen Repräsentativverfassung. Nicht im Inhalt, sondern in der Art des Erlasses per Oktroi und in der Hinzufügung einer Präambel zeigt sich der Anspruch Ludwigs XVIII. auf die ungeteilte Macht politischer Entscheidung, gestützt allein auf die monarchische Legitimität. Auf einer ähnlichen Herausstellung des monarchischen Prinzips, umwoben von einer christlichen Verbrüderungsrhetorik zwischen den Monarchen als Vertretern ihrer Völker, beruhte die Heilige Allianz vom September 1815. Die Blockade aller Entwicklungsmöglichkeiten und die Verteidigung des Status quo um seiner selbst willen wurden nirgends auf dem Kongress pragmatisch niedergelegt, sie sind eine Entwicklung der Jahre ab 1819.6 Auf dem Kongress einte alle maßgeblichen Akteure der Wille, eine stabile, berechenbare Neuordnung zu schaffen.
In aller Deutlichkeit ist darauf hinzuweisen, dass der harte Kern der Verhandlungen auf dem Wiener Kongress ein politisch-territorialer war: Es ging zunächst