Reinhard Stauber

Der Wiener Kongress


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dienen: „Der kleine Krieg sollte zum Ersatz für den vermiedenen großen werden.“18

      Die Praxis der internationalen Politik zwischen 1815 und 1830/31 ist viel zu komplex, als dass sie in den gängigen Schlagworten vom „System Metternich“ oder vom „Kutscher Europas“ abgebildet werden könnte. Expansive Bestrebungen der Großmächte und staatenpolitische Konkurrenz spielten weiterhin ihre Rolle, zunehmend aufgeladen durch ideologische Differenzen. Die Schemata der Interventionspolitik in diesem Zeitraum folgten keinem eindeutigen Muster. Gehandelt wurde pro forma im Kollektiv nach gegenseitiger Absprache oder zumindest Information; wer intervenierte, legte Wert auf ein „Mandat“ zur Rechtfertigung. Am gängigen Bild von den demokratiefreundlichen Westmächten und den zur Oppression neigenden Ostmächten sind etliche Abstriche zu machen: Die Franzosen intervenierten 1823 in Spanien, und die Briten erkannten wohl allen kontinentalen Mächten ein Recht zur Intervention zu, lehnten aber jedes verbindliche, sie selbst einbeziehende Regelwerk völlig ab. Außerdem legten sie in verfassungspolitischen Fragen ganz andere Maßstäbe an als Wien oder Berlin. Da unter den Hauptakteuren der europäischen Politik keine verbindlichen Vorstellungen über die Grundprinzipien einer legitimen inneren Staatsordnung existierten, blieb auch das Recht, im Namen des europäischen Friedens zu militärischen Interventionsmaßnahmen zu greifen, stets umstritten. [<<18]

      1 Geisthövel, Restauration und Vormärz, S. 9.

      2 Sellin, Geraubte Revolution, S. 321. Fahrmeir, Europa, S. 104 spricht von einem „problematischen Etikett“.

      3 Hippel/Stier, Europa 1800–1850, S. 60.

      4 Fahrmeir, Europa, S. 1.

      5 Siemann, Metternich, S. 52f.; Fahrmeir, Revolutionen und Reformen, S. 143.

      6 Sellin, Geraubte Revolution, S. 12–18, 275–325.

      7 Lentz, Congrès, S. 63.

      8 Fahrmeir, Revolutionen und Reformen, S. 132.

      9 Langewiesche, Reich, Nation, Föderation, S. 116, 118.

      10 Langewiesche, Reich, Nation, Föderation, S. 118.

      11 Sellin, Geraubte Revolution, S. 17.

      12 Angeberg, Congrès, S. 540–542 (frz.); Müller, Quellen, Nr. 51, S. 269–271 (dt.).

      13 Metternich, Denkwürdigkeiten, S. 465f.

      14 Sellin, Geraubte Revolution, S. 281. Vgl. Langewiesche, Reich, Nation, Föderation, S. 111–125; Paulmann, Pomp und Politik, S. 56–130.

      15 Sellin, Geraubte Revolution, S. 289.

      16 Fahrmeir, Revolutionen und Reformen, S. 141.

      17 Pyta, Konzert der Mächte, S. 149.

      18 Osterhammel, Krieg im Frieden, v. a. S. 294–302, Zitate S. 297f.

      2. Bündnisse, Verträge und der Kongress (1813/14)

      2.1 Die Entstehung der sechsten Koalition gegen Napoleon

      Nach dem Scheitern des Russlandfeldzugs verließ Kaiser Napoleon Anfang Dezember 1812 die dezimierten Reste seiner „Großen Armee“ und kehrte nach Paris zurück. Seine Hegemonie auf dem europäischen Kontinent schien ihm trotz dieser Niederlage nicht gefährdet.

      Vorerst gehörten weder eine flächendeckende Wiederherstellung der vorrevolutionären Zustände auf der Landkarte Europas noch ein Regimewechsel in Frankreich zu den Zielen der entstehenden Koalition. Doch der russische Anspruch auf das ganze Herzogtum Warschau brachte unweigerlich mit sich, dass für territoriale Kompensationen, die Preußen für einen Seitenwechsel versprochen werden mussten, nicht die vormaligen polnischen Teilungsgebiete in Frage kamen, sondern Entschädigungen anderswo gesucht werden mussten. Dies wiederum bedeutete der Tendenz nach die Notwendigkeit, Napoleons Kontrolle über das deutsche Gebiet militärisch zu beenden. Anlass zur Hoffnung in dieser Richtung gab, dass die französischen Oberbefehlshaber (zunächst Murat, dann Beauharnais) ihre Truppen in den ersten Monaten des Jahres 1813 etappenweise zur Weichsel, dann zur Oder und schließlich an die Elbe zurückzogen. Am 4. März zogen russische Truppen in Berlin ein.