Familie Bonaparte „ein komfortables Exil“.23
2.5 Der Friedensvertrag und der Weg zum Kongress
Am 12. April 1814, dem Tag vor Napoleons formeller Abdankung, war der jüngere Bruder des bourbonischen Thronprätendenten, Charles [<<34] Philippe de Bourbon, Graf von Artois (der spätere König Karl X.), in Paris angekommen. Auch in seinem Namen schloss Talleyrand nach Verhandlungen von wenigen Tagen Dauer am 23. April 1814 einen Waffenstillstand mit den vier alliierten Großmächten, dem auch noch Portugal beitrat. Darin wurde auch die Räumung jener etwa 50 befestigten Plätze vereinbart, die in Mitteleuropa noch in der Hand von französischen Truppen waren.24
Die freundliche Aufnahme seines Bruders in Paris brachte den Thronprätendenten Louis, Bruder des 1793 hingerichteten Königs Ludwig XVI., auf die Idee, entgegen den Empfehlungen Talleyrands und des Zaren die vom französischen Senat verabschiedete Verfassung nicht zu akzeptieren. Am 20. April verließ er sein Exil nahe Oxford, setzte auf einem britischen Schiff über den Kanal und erklärte, sich unter Berufung auf seine ererbte Machtstellung ohne weiteres als Ludwig XVIII., von Gottes Gnaden König von Frankreich und Navarra bezeichnend, am 2. Mai in St. Ouen, am Stadtrand von Paris, dass er die Verfassung nicht anerkennen werde. Er versprach die Wahrung gewisser Grundrechte und die Einrichtung einer Volksrepräsentation, machte aber deutlich, dass er nicht gewillt sei, sein Königtum zu Bedingungen zu übernehmen, die andere ihm diktiert hatten. Am 3. Mai hielt er seinen Einzug in Paris.
Der neue, aus eigener Machtvollkommenheit agierende König akzeptierte gleichwohl eine Verfassungsurkunde, die unter Wahrung seiner Prärogativrechte, also in einem von ihm als Souverän angestoßenen und kontrollierten Verfahren, entstand. Er beteiligte sich in der zweiten Maihälfte persönlich an der Ausarbeitung einer „Charte constitutionelle“ für Frankreich, die am 4. Juni 1814 feierlich proklamiert wurde. Sie wahrte, etwa bei der Entscheidung über Krieg und Frieden, die königlichen Rechte gegenüber dem Zwei-Kammer-Parlament und wurde mit der von Jacques Claude Beugnot ganz im Sinn des monarchischen Prinzips formulierten Präambel „eines der klassischen Dokumente der Restaurationsideologie.“25 [<<35]
In diese bewegten Tage der französischen Innenpolitik fiel die formelle Beendigung des Kriegszustandes zwischen Frankreich und seinen Gegnern. Talleyrand, den Ludwig XVIII. am 13. Mai im Amt des Außenministers bestätigte, verhandelte mit Razumovskij und Nesselrode als Bevollmächtigten des russischen Zaren, mit Metternich und Stadion in Vertretung des österreichischen Kaisers, Castlereagh, Aberdeen, Cathcart und Stewart für den britischen König bzw. Prinzregenten sowie Hardenberg und Humboldt für den König von Preußen. Ein österreichischer Entwurf hatte die wenigen bisher getroffenen territorialen Absprachen des Frühjahrs 1814 zusammengefasst: Rückkehr der Bourbonen auf den spanischen Thron; Unabhängigkeit und territoriale Vergrößerung der Niederlande; Umgestaltung der Schweizer Eidgenossenschaft unter Beteiligung und Garantie der Großmächte sowie Wiederherstellung der Staatenwelt Italiens, während für die deutschen Gebiete eine Ergänzung der souveränen Fürstenstaaten um ein föderales Band zur Garantie von Unabhängigkeit und Sicherheit vorgesehen war.
Für die Verhandlungen hatte es einen großangelegten Plan zur Neuverteilung der politischen Kräfte in Europa gegeben, den der preußische Staatskanzler Hardenberg nach eingehenden Besprechungen mit dem österreichischen Gesandten Stadion und mit Billigung Castlereaghs Ende April 1814 ausgearbeitet hatte. Er sah noch substantielle Abtretungen von polnischen Gebieten zugunsten von Preußen (bis zur Warthe; ca. 1,3 Mio. Menschen) und Österreich (um Krakau und Zamość; ca. 300.000 Menschen) vor. Preußen verlangte außerdem das ganze Königreich Sachsen, die Herzogtümer Berg, Westfalen und Nassau sowie Entschädigungsgebiete beiderseits des Rheins zwischen Mainz und Wesel. Für beträchtliche Unruhe sorgte Preußens Anspruch auf die bisher unter dem Dach des Rheinbundes souveränen Kleinfürstentümer Waldeck-Pyrmont, Lippe-Detmold, Reuß und Schwarzburg. Österreich sollte nicht nur Tirol, Salzburg und das Innviertel wieder erhalten, sondern durch einen breiten, über Vorarlberg und Breisgau bis an den Oberrhein reichenden Gebietsstreifen wieder im deutschen Südwesten verankert werden. Für die süddeutschen Mittelstaaten Bayern (mit geschlossenem Territorialbesitz zwischen Franken und der Pfalz), Württemberg, Baden (das weit nach Nordwesten an die Mosel verschoben wurde), Hessen-Darmstadt [<<36] und Hessen-Kassel erarbeitete Hardenberg detaillierte Entschädigungskonzepte, die auch das linke Rheinufer einbezogen. Für die Niederlande schlug er eine beträchtliche Vergrößerung um Belgien, eine Grenze an der Maas zwischen Venlo und Lüttich sowie südlich der Maas einen Gebietskorridor bis Luxemburg vor. In Übereinstimmung mit den Interessen der Briten begründete er: „Holland, dessen Bedeutung für die Abstützung des Systems, das man in Europa einzurichten beabsichtigt, und besonders für die Unabhängigkeit Norddeutschlands und Preußens allgemein anerkannt wird, muß stark gemacht werden und eine territoriale Kraft erhalten, die es befähigt, sich erfolgreich gegen jeden Angriff zu verteidigen.“ König Vittorio Emanuele I. von Sardinien-Piemont, der im Mai 1814 nach Turin zurückkehren konnte, sollte Genua, Nizza und einen Teil seiner savoyardischen Stammlande erhalten. Für die Westgrenze Frankreichs schlug Hardenberg einige Korrekturen vor, u. a. die Abtretung der Festung Landau in der Pfalz. Der schwedische König sollte, wie im Kieler Frieden von Anfang 1814 vereinbart, Norwegen übernehmen, die monarchischen Staaten in der Mitte und im Süden Italiens wiederhergestellt werden und „Deutschland … einen Bund souveräner, aber untereinander durch einen Bundesvertrag wohl geeinter Staaten bilden.“26
Am Rhein freilich wollte Metternich den Preußen eine begehrte Schlüsselposition, die Festung Mainz, nicht zugestehen und dort lieber Bayern verankert sehen, mit dessen Vertreter Wrede er in Paris eingehende Gespräche führte. Der Zar lehnte allerdings alle Abstriche an seinen Ansprüchen auf Polen Anfang Mai rundheraus ab. Und mit der Etablierung Ludwigs XVIII. war auch der Versuch der Siegermächte obsolet, Frankreichs Mitsprache bei der Neuordnung Europas zu verhindern. Graf Münster, der Vertreter Hannovers, schrieb dem englischen Prinzregenten am 5. Mai, ein wieder von den Bourbonen regiertes Frankreich könne auf keinen Fall als besiegte Macht behandelt werden.27
Der zwischen Frankreich und den vier genannten Mächten jeweils wortgleich abgeschlossene Vertragstext (geheime Zusatzabreden betrafen [<<37] je unterschiedliche bilaterale Punkte), datierend vom 30. Mai 1814, wird heute in der Regel als „Erster Pariser Friede“ bezeichnet, um ihn von jenem „Zweiten“, für Frankreich ungünstiger ausfallenden Friedensvertrag zu unterscheiden, den die Alliierten nach Napoleons Herrschaft der „Hundert Tage“ und seiner endgültigen militärischen Niederlage am 20. November 1815 mit Ludwig XVIII. abschlossen. Dem Vertrag vom 30. Mai traten auch die übrigen kriegführenden Parteien Schweden, Portugal (mit einem Vorbehalt wegen Grenzziehungen in Südamerika) und Spanien (erst am 20. Juli 1814) bei.28
Das Vertragswerk nannte neben der Wiederherstellung des Friedens in seiner Präambel eine gerechte Kräfteverteilung unter den Mächten, die Sicherheit und Stabilität Europas und die Fixierung möglichst dauerhafter Bestimmungen als politische Ziele. In einem Zusatzartikel wurden alle Friedensverträge der napoleonischen Zeit und ihre territorialen Regelungen nochmals ausdrücklich außer Kraft gesetzt.
• Frankreich bekam seinen Gebietsstand vom 1. Januar 1792 mit einigen geringfügigen Korrekturen garantiert. An der Saar und in Savoyen wurden sogar Gebietserweiterungen gegenüber dem Stichtag zugestanden, etwa der Besitz der rechtsrheinischen Festung Landau in der Pfalz, der Gebiete von Chambéry und Annecy in Savoyen, von Mühlhausen, Mömpelgard und der südfranzösischen Grafschaften Avignon und Venaissin. Für den Zugang zur Stadt Genf von der Schweiz her wurden Regelungen über die gemeinsame Nutzung von Straßen getroffen. In Art. 18 wurde auf die Zahlung einer Kriegsentschädigung, an der vor allem Preußen interessiert gewesen wäre, ausdrücklich verzichtet. Den Käufern von außerhalb der alten Grenzen gelegenen französischen Nationalgütern wurde die Rechtsgültigkeit ihrer Erwerbungen ausdrücklich zugesagt.
• Die nördlichen Niederlande (der Vertragstext spricht in Art. 6 von „La Hollande“) wurden unter die Herrschaft des Hauses Oranien-Nassau [<<38] in Person des Prinzen Wilhelm VI. von Oranien, der seit 1813 den Titel eines Souveränen Fürsten der Niederlande führte, gestellt; sie sollten eine substantielle Gebietsvergrößerung