Bildungs- und Erziehungsprozesse beide Ebenen ausgewogen? Oder ist mein Vorgehen zu sach- oder zu beziehungsorientiert?
Besitze ich sowohl genügend Inhalts- als auch genügend Beziehungskompetenz? Oder spiegeln mir meine Schülerinnen und Schüler, meine Patientinnen und Patienten oder meine Kolleginnen und Kollegen, dass ich in einem Bereich an der Professionalisierung meiner Kompetenzen arbeiten muss?
Leidensdruck oder Individualität
Aus der Sicht der Lernenden spielt ferner die Balancierung der Aspekte der Norm und der Freiheit eine große Rolle (Abb. 14). Personen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen weisen zum einen ein hohes Störungsbewusstsein mit einem großen Leidensdruck auf. Zum anderen ist manchen Betroffenen die sprachliche Auffälligkeit überhaupt nicht bewusst oder sie empfinden sie nicht als Problem. Somit besteht im sprachpädagogischen Unterstützungsprozess einerseits die Möglichkeit, die vorhandenen sprachlichen Realisierungsmöglichkeiten als Teil der Individualität und sprachlichen Identität anzuerkennen. Andererseits kann aber Freiheit gerade durch den Erwerb sprachlicher Normen und einer klaren Orientierung an sprachlichen Zielstrukturen entstehen. Um diese Fragen für sich zu klären, gilt es folgende grundsätzliche Fragen zu reflektieren:
Empfinde ich meine Sprache oder Kommunikation eigentlich als „unnormal"? Oder erlebe ich mich trotz meiner Beeinträchtigung als sprachlich frei?
Will ich meine verlorene sprachliche Freiheit dadurch zurückgewinnen, dass ich sprachpädagogische oder sprachtherapeutisch-logopädische Unterstützung annehme, um meine Sprache entsprechend den Normen unserer Sprachgemeinschaft zu „verbessern"?
Reflektiere ich die sprachlichen und gesellschaftlichen Normen, die z.B. durch sprachliche „Zielstrukturen“ an mich als bilinguale Person mit Migrationshintergrund herangetragen werden? Oder werden durch die Be- und Zuschreibung einer sprachlichen „Auffälligkeit", „Abweichung“ oder „Störung“ nicht nur sprachlich-kulturelle Teilhabemöglichkeiten, sondern auch ihre Grenzen an mich transportiert?
Wirklichkeit und Wahrnehmung – Partizipation und Isolation
Grenzen der Perspektivübernahme
Im Bildungs- und Erziehungsprozess existiert auf beiden Seiten und natürlich auch unabhängig davon eine „Wirklichkeit“, die von allen Beteiligten jedoch immer nur durch eine bestimmte „Brille“ wahrgenommen werden kann (Kap. 1). Besonders im sprachpädagogischen Handeln mit beeinträchtigten Menschen ergibt sich die Frage, inwieweit sich die Lehrenden durch Empathie und Perspektivenübernahme tatsächlich in die entsprechende Wirklichkeit des Lebens mit einer sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigung hineinversetzen können. Oder sind nicht eher durch die Bedingungen der eigenen Lebenswelt Grenzen gesetzt? Es ist sicherlich stets eine große Herausforderung, sich beispielsweise die Sprachlichkeit von Anna, Claudia oder Bastian oder von anderen von Sprachentwicklungsstörungen, Laryngektomie (Kehlkopfentfernung) oder Demenz betroffenen Personen vorstellen zu können. Mit regelmäßigen Reflexionen und evtl. auch Gesprächen über die pädagogische Situation kann die Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit zumindest ein Stück weit abgebaut werden (Abb. 14):
Für wie „wirklich“ halte ich meine Beobachtung der Bildungswirklichkeit? Bin ich mir bewusst, dass jede / r Beteiligte sie ganz unterschiedlich wahrnehmen kann?
Verständige ich mich genug mit meinen Schülerinnen oder Patienten über ihre Sicht der Dinge? Oder präsentiere ich meine Sichtweise als einzig richtige?
Inwieweit kann ich mich – auch wenn ich mich um Empathie und Perspektivenübernahme bemühe – in die Lebenswirklichkeit eines beispielsweise von Mutismus, Laryngektomie oder Aphasie betroffenen Menschen überhaupt hineinversetzen? Inwieweit sind meiner Erkenntnis durch die Bedingungen meiner eigenen Lebenswelt Grenzen gesetzt?
Grenzen der Partizipation
Auf der anderen Seite des sprachpädagogischen Feldes prägen die Möglichkeiten von Partizipation und Isolation die Lebensbedingungen der Menschen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen. Konkret werden auch der Unterricht oder die Therapie von diesen Optionen beeinflusst. Für den Fall, dass die sprachpädagogischen Bemühungen um Bildungsteilhabe sich nicht verwirklichen lassen und Reste von Isolation bleiben, müssen Stillstand, Rückschritte und Abbauprozesse von den betroffenen Personen genauso wie von den Fachkräften verarbeitet werden. Zudem können sich z.B. Arbeitslosigkeit oder gesellschaftliche Aussonderung negativ auf den sprachpädagogischen oder sprachtherapeutischen Verlauf auswirken. Sowohl für die Fachkräfte wie gerade auch für sprachlichkommunikativ beeinträchtigte Personen ist es notwendig, über Grenzen von Partizipation zu reflektieren (Abb. 14):
Was mache ich, wenn es in meiner Therapie nicht mehr aufwärts- oder nicht mehr vorangeht? Wie gehe ich mit Rückschlägen oder stagnierendem Lernen um?
Wie gehe ich damit um, wenn ich als laryngektomierte Person durch ein Rezidiv vom Tod bedroht bin, wenn ich als Person mit Aphasie einen zweiten Schlaganfall erleide oder wenn ich als Person mit Stottersymptomatik keine Lehrstelle bekomme? Verdränge ich Stillstand, Rückschritte und Abbauprozesse?
Welche Ressourcen brauche ich, um in einer sich schnell verändernden Lebens- und Berufswirklichkeit mit Grenzen von Bildungsteilhabe umzugehen?
2.3.3 Pädagogische Matching-Prozesse
Die Wechselwirkungen zwischen den personalen Polen im Bildungs- und Erziehungsprozess führen im Kontext sprachlich-kommunikativer Beeinträchtigungen auch zu Herausforderungen Folgendes Beispiel verdeutlicht das Wechselwirkungsverhältnis.
Eine Lehrerin ist in einer ersten Klasse mit einer sprachlich-kommunikativ sehr heterogenen Schülerschaft eingesetzt. Viele Kinder sind noch dabei, Deutsch als Zweitsprache zu erwerben und sprechen viele verschiedene Erstsprachen. Viele Schülerinnen und Schüler weisen zudem eine Sprachentwicklungsstörung auf, die sich ungünstig auf die narrativen Fähigkeiten und das Schriftsprachlernen auswirkt. Die Lehrerin bereitet deshalb mit großem Aufwand den Deutschunterricht vor. In der Unterrichtssituation können jedoch nicht alle Kinder die Bildungsangebote und den Arbeitsauftrag verstehen und am Lernprozess teilnehmen. Vielen Kindern bleibt der Unterrichtsinhalt – das Entdecken bestimmter Grapheme auf Arbeitsblättern – verschlossen, so dass sie sich anderen Beschäftigungen zuwenden. Andere beginnen, sich in ihrer Erstsprache zu unterhalten. Die Lehrkraft reagiert verunsichert, da sie mit größter Sorgfalt die Stunde geplant hatte. Leicht kann daraus eine negative Wechselwirkung entstehen.
Wie in diesem Beispiel stellt sich im Fach Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und der Kommunikation stets die Aufgabe, eine genaue sprachpädagogische Passung zwischen den Lehrenden und den Lernenden herzustellen, damit die Ausbalancierung obiger reziproker Bildungs- und Erziehungsprozesse und damit sprachliches Lernen gelingen kann.
sprachpädagogisches Mismatch
Wie in unserem Beispiel ist die Realität aber häufig so, dass sich die Lernenden – hier die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund oder Sprachentwicklungsverzögerungen – sprachlich überfordert fühlen und immer mehr ein Vermeidungsverhalten entwickeln. Die Lehrerin wiederum reagiert hierauf demotiviert Diese Nicht-Passung zwischen den Lehrenden und Lernenden des sprachpädagogischen Dreiecks, welches unzählig viele Ursachen haben kann, nennen wir „sprachpädagogisches Mismatch“ (Licandro / Lüdtke 2012) (Abb. 15).
Abb.